Buchbesprechung

«Gemeinsame Sicherheit» statt atomarem Overkill

ISBN 978 3 406 77744 8

Bernd Greiners ernüchternder Blick auf die US-amerikanische Realpolitik seit 1945

von Robert Seidel

(9. August 2022) Wer sich in der heutigen globalen Konfliktlage zurücklehnen und überdenken möchte, mit wessen «Schutz» die Schweiz, aber auch die EU-Staaten den Ukrainekonflikt überstehen wollen, der sollte das Buch «Made in Washington. Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben» von Bernd Greiner lesen.

Auch wenn man nicht alle Positionen des Autors teilt, hilft seine stringente und fundierte Darstellung der US-Aussenpolitik seit 1945, den «transatlantischen Partner» näher kennenzulernen. Unschwer deutet sich eine direkte Linie amerikanischer Aussen- und Militärpolitik der vergangenen 100 Jahre bis zum heutigen Ukraine-Konflikt an und Konsequenzen können gezogen werden.

Bernd Greiner* leitet seinen historischen Rückblick folgendermassen ein:

«Zu reden ist über Schattenseiten des amerikanischen Jahrhunderts; über die Tatsache, dass Unzählige ihr Leben lassen mussten, dass Gesellschaften traumatisiert und dass Staaten ruiniert wurden, weil die USA ihren Anspruch auf Ordnung der Welt durchsetzen wollten. Keine andere Nation ist seit 1945 derart rabiat aufgetreten. Die Vereinigten Staaten haben mit Abstand die meisten Kriege geführt, wiederholt Angriffskriege vom Zaun gebrochen und das Völkerrecht mit Füssen getreten, sie geben heute noch das meiste Geld für Rüstung aus und unterhalten weltweit mehr Militärstützpunkte als alle anderen Staaten zusammen, sie sind einsamer Spitzenreiter beim Sturz missliebiger, auch demokratisch gewählter Regierungen. Darüber nachzudenken, welche Konsequenzen diese Bilanz haben sollte und müsste, versteht sich von selbst. Und es ist alles andere als selbstverständlich, werden neuerdings doch wieder grosse Hoffnungen auf Washington gesetzt – als könnte man das Offensichtliche ignorieren oder zu Kollateralschäden einer vermeintlich unabdingbaren Führung erklären.» (Seite 7 im besprochenen Buch)

Alle Optionen für die USA

Das Buch, im Herbst 2021 bei C.H.Beck erschienen – also noch vor dem Ukraine-Konflikt –, beschreibt nüchtern und quellenreich das US-amerikanische Selbstverständnis als führende und bestimmende Weltmacht und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Aussenpolitik. In diesem Selbstverständnis gilt es als konsequent alle Optionen auszuschöpfen, um eine amerikanische Vormachtstellung zu erhalten.

«‹America first› ist keine Marotte eines Einzelnen, sondern die aussenpolitische Partitur aller Präsidenten bis zum heutigen Tag. Unterschiede in Stil und Rhetorik sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Zweifel ein atavistischer Grundsatz gilt: Der Starke herrscht, der Schwächere folgt, der Schwächste duldet.» (S. 12)

Auf diesem Hintergrund zeichnet Greiner unter anderem sehr kenntnisreich Stationen US-amerikanischer Aussenpolitik nach: Iran (1953), Guatemala (1954), Kuba (1960), Vietnam (1963), Laos (1964), Jugoslawien (1991), Kosovo (1999), Afghanistan (2001), Irak (2003).

Er bezieht die Handlungen der Geheimdienste ebenso ein wie die offizielle Politik. Äusserungen verschiedener US-Präsidenten, dienen als Hintergrund für die Beschreibung der häufig äusserst brutalen Vorgehensweise US-amerikanischer Aussenpolitik. Einer Aussenpolitik, die von den «verbündeten» oder «befreundeten» Staaten kaum in ihrem inhärenten Selbstverständnis reflektiert und verstanden wird.

Die USA – ein nuklearer «Mad Man»?

Nicht nur Richard Nixon setzte auf eine nach Aussen irrational erscheinende Politik, in der er sich selbst als «Mad Man» bezeichnete. (S. 129) Jeder «Gegner» sollte mit allen Handlungen rechnen müssen – auch irrationalen.

Diese Linie willkürlichen Handelns zieht sich bis heute nahtlos durch. In diesem Sinne, möchten sich die USA als Militärmacht vorbehalten, als erste Kriegspartei (siegreich) Atomwaffen einzusetzen. Eine Vorstellung, die – gelinde gesagt – krankhaft ist, aber für die Menschheit tödlich werden kann.

Detailliert beschreibt Greiner dabei die atomare Aufrüstung der USA und ihre tödliche Einsatzdoktrin «Launch on Warning»: «Sollte sich im Laufe eines Konflikts der Eindruck verdichten, dass die Gegenseite nukleare Repressalien in Erwägung zieht oder dass gar ein Atomkrieg in Vorbereitung ist, dann gilt auf der operativen Ebene nur ein Grundsatz: Zuschlagen auf Verdacht.» (S. 219)

Auf dem Hintergrund des aktuellen Ukraine-Krieges, bei dem auch Russland mit atomarem Einsatz droht, wäre eine deutliche Reaktion von den europäischen Staaten zu erwarten, diesen Konflikt sofort beizulegen. Gründe für das Ausbleiben dieser angemessenen Reaktion beschreibt Greiner in seinem Nachwort, anhand der Nord-Stream-2-Tragödie.

Europas Erfahrungen als Ausblick

Greiner zieht einen ernüchternden Schluss: «Die Hoffnung auf Selbstkorrektur kann niemand kategorisch verwerfen. Sie für naiv zu halten, dürfte der Realität näherkommen.» (S. 225) Doch kein Schluss ohne Ausblick.

So verweist Bernd Greiner auf europäische Ansätze zu einer anderen Politik. Die historischen Erfahrungen Europas sind, dass Frieden nicht alles ist, aber ohne Frieden alles nichts ist. Er nimmt Bezug darauf, dass Europa Erfahrungen hat mit dem Eindämmen gewalttätiger Nationalismen, dass die Bereitschaft da ist, Souveränität zu teilen und dass der Wille zum Verzicht auf Gewalt vorhanden ist. Hier liessen sich Alternativen finden. Ob man dazu die Europäische Union als Vorbild nehmen möchte, wie Greiner es tut, sei dahingestellt.

Willy Brandts «Gemeinsame Sicherheit»

Explizit und etwas ausführlicher nimmt Bernd Greiner Bezug auf eine Politik, wie sie von Willy Brandt, Olof Palme und Bruno Kreisky skizziert wurde. (S. 231ff.) Prägend dafür ist der von Willy Brandt formulierte Begriff «Gemeinsame Sicherheit», der heute vor dem Hintergrund eines atomaren Overkills geradezu zwingend erscheint.

Greiner umschreibt den Begriff folgendermassen: «Sicherheit gibt es nicht mehr voreinander, sondern nur noch miteinander, die Sicherheit des Gegners ist Teil der eigenen Sicherheit, alle verlieren zusammen, wenn sie nicht gemeinsam gewinnen wollen.» (S. 234)

Auf diesem gedanklichen Fundament liessen sich im Geist der KSZE Sicherheitsgarantien finden, die zu einem Frieden in der Ukraine führen.

* Bernd Greiner, (1952) ist Gründungsdirektor des «Berliner Kolleg Kalter Krieg/Berlin Center for Cold War Studies». Er lehrte Aussereuropäische Geschichte an der Universität Hamburg und leitete bis 2014 am Hamburger Institut für Sozialforschung den Arbeitsbereich «Theorie und Geschichte der Gewalt». Unter vielen Publikationen ist seine Veröffentlichung über den Vietnam-Krieg «Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam» von 2009 hervorzuheben.

Bernd Greiner. Made in Washington. Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben. Verlag C.H.Beck. München 2021. ISBN 978 3 406 77744 8

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