Naher Osten

IKRK: «Wir stehen kurz vor dem Kollaps»

Mirjana Spoljaric Egger.
(Bild www.icrc.org)

«Eskaliert die Situation weiter, wird das unglaubliche menschliche Opfer fordern»

Interview mit IKRK-Präsidentin Mirjana Spoljaric Egger geführt von Gordana Mijuk (NZZ am Sonntag)

NZZ am Sonntag: Israel hat mit seiner Bodenoffensive in Gaza begonnen. Was bedeutet das für die zivile Bevölkerung?

Mirjana Spoljaric Egger: Mehr als zwei Millionen Zivilisten sitzen in Gaza fest und leiden. Sie sind nirgendwo sicher, erhalten nur wenig humanitäre Hilfe, und die Kämpfe rücken immer näher. Hunderttausende halten sich noch im nördlichen Teil des Gazastreifens auf. Dort gab es zwar Evakuierungsaufrufe, jedoch müssen die angreifenden Kräfte alles tun, um den Verlust von Menschenleben und Eigentum der Zivilbevölkerung zu vermeiden. Wir wissen aus Erfahrung, dass bei Kämpfen in Städten die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur die Hauptlast des Konflikts zu tragen haben. Die Parteien müssen die Menschlichkeit an die erste Stelle setzen und verhindern, dass Gaza zu einem einzigen Trümmerfeld wird. Die Bevölkerung von Gaza muss geschützt werden. Die Geiseln in Händen der Gruppen in Gaza müssen freigelassen und bis dahin mit Menschlichkeit behandelt werden.

Haben Sie Kontakt zu Ihren Mitarbeitern in Gaza seit dem Beginn der Offensive?

Wir können unser Team im Gazastreifen derzeit nur schwer erreichen und machen uns grosse Sorgen um seine Sicherheit und die Sicherheit aller Zivilisten im Gebiet, in dem die Feindseligkeiten weitergehen. Ohne Informationen wissen die Menschen nicht, wohin sie sich in Sicherheit bringen können. Stromausfälle und Kommunikations-Blackouts verhindern, dass das humanitäre und das medizinische Personal sicher und effektiv arbeiten können.

6. November 2023. Rafah, an der Südgrenze des Gazastreifens.
Palästinensische Kinder vor dem zerstörten Haus der Familie Barhoum nach
einem israelischen Bombenangriff. (Bild KEYSTONE/DPA/Abed Rahim Khatib)
Der Kampf gegen die Hamas dürfte lange dauern. Die Bevölkerung soll so lange im Süden bleiben. Wie soll das gehen?

Die Anweisung der israelischen Behörden, den Norden im Gazastreifen zu evakuieren, ohne die Grundversorgung mit Unterkünften, Lebensmitteln, Wasser und medizinischer Versorgung sicherzustellen, gefährdet das Leben von über einer Million Menschen zusätzlich. Mit der anhaltenden Belagerung werden gross angelegte humanitäre Massnahmen, einschliesslich derjenigen des IKRK, nahezu unmöglich. Meine Kollegen vor Ort sagen mir, dass Familien, Kinder, Frauen, ältere Menschen Dutzende Kilometer laufen, um «sichere» Gebiete zu erreichen, wie es ihnen aufgetragen wurde. Viele Familien leben jetzt auf der Strasse, ohne ein Dach über dem Kopf, ohne Zugang zu Wasser. Keine Toiletten, keine Decken, keine Matratzen, keine Hygiene-Kits. Und ohne Zugang zu Informationen darüber, was gerade passiert.

Wird die Bodenoffensive die Befreiung und das Leben der Geiseln gefährden?

Wenn Städte zu Schlachtfeldern werden, leidet die Zivilbevölkerung in Gaza, inklusive der Geiseln, am meisten unter dem Konflikt.

Was ist zu tun?

Zunächst müssen sich alle Parteien ans Humanitäre Völkerrecht halten. Wir müssen dringend humanitäre Hilfe auf eine geordnete Art und Weise nach Gaza bringen können. Und wir brauchen dringend – ich kann das nicht genug betonen – die nötigen Sicherheitsgarantien und den nötigen Raum für unsere Teams, damit wir die Menschen erreichen können. Das ist im Moment nur in geringem Masse der Fall.

Der Uno-Sicherheitsrat hat es diese Woche verpasst, sogenannte humanitäre Pausen zu beschliessen. Sie sind vor Ort in New York. Wie haben Sie das miterlebt?

Ja, ich bin seit einigen Tagen hier. Ich kenne die Uno seit mehreren Jahrzehnten. Ich habe viele solche Debatten verfolgt, aber so niedergeschlagen wie jetzt habe ich mich selten gefühlt. Es ist schlimm. Eskaliert die Situation weiter, wird das unglaubliche menschliche Opfer fordern. Auf allen Seiten. Ich hoffe, die Weltgemeinschaft ist nicht bereit, diese Opfer in Kauf zu nehmen.

5. November 2023. Gaza, Palestina. Auf diesem Videobild durchsuchen
Menschen die Trümmer von Wohnhäusern nach einem israelischen Angriff.
(Bild KEYSTONE/SPUTNIK)
Israel verteidigt sich mit seinen Bombenangriffen, doch tötet es damit auch Tausende Zivilisten. Bricht Israel Völkerrecht?

Das Völkerrecht schützt Zivilisten, schützt Infrastruktur. Spitäler sind besonders geschützt, denn dort suchen Menschen, die unbeteiligt sind, Zuflucht. Das Abschneiden der Zivilbevölkerung von Nahrung, Trinkwasser, Strom und Benzin ist nicht mit dem internationalen Recht vereinbar, und die hohen Opferzahlen und die weitflächige Zerstörung ziviler Infrastruktur werfen ernste Fragen auf. Aber genauso ist es nicht vereinbar, dass Zivilisten angegriffen und als Geiseln genommen werden.

Der Konflikt schaukelt sich ins Unermessliche.

Wenn beide Seiten das humanitäre Völkerrecht nicht beachten, steigt auch die Feindschaft auf beiden Seiten. Und mit jedem Tag schwindet die Möglichkeit, zu einem Gespräch und zu einer politischen Lösung zurückzufinden. Wir versuchen beim IKRK alle daran zu erinnern, die zivilen Opfer zu minimieren. Aber wir müssen versuchen, nicht nur menschliches Leid zu mindern, sondern auch einen minimalen Raum zu bewahren, in dem man sich auf etwas einigen kann, das nicht mit militärischen Mitteln erreicht wird, sondern durch politische Gespräche. Wir dürfen eine absolute Verfeindung bis hin zur Entmenschlichung der anderen Seite nicht in Kauf nehmen. Die Achtung der Menschlichkeit des anderen und die Bewahrung des humanitären Völkerrechts können den Weg zu einem nachhaltigen Frieden bahnen.

Am Freitag [27. Oktober] hat das israelische Militär erklärt, dass die Hamas Spitäler und die Bunker darunter als Kommandozentralen missbraucht.

Darüber liegen uns keine Informationen vor. Unser Standpunkt ist: Spitäler sollten Zufluchtsorte für Kranke und Verwundete sein, niemals Orte militärischer Aktivitäten. Tod und Zerstörung in medizinischen Einrichtungen sind verabscheuungswürdig.

Wie ist das IKRK vor Ort aufgestellt in Gaza?

Wir haben am Freitag ein zusätzliches Team von Kriegschirurgen sowie Spezialisten für Wasser- und Waffen-Kontaminierung nach Gaza schicken können. Sie werden unsere Leute vor Ort unterstützen, die schon zuvor dort waren und die ganze Zeit geblieben sind. Zusammen sind es etwa 140 Leute.

Was sind Ihre Prioritäten?

Wir konzentrieren uns vorab auf die Spitäler. Wir konnten in der Nacht auf Freitag eine grössere Anzahl von Kriegschirurgie-Kits hineinbringen. Jedes Kit erlaubt es den Ärzten, mehrere hundert Menschen zu operieren. Was die Spitäler jetzt aber auch dringend brauchen, sind Elektrizität und sauberes Wasser. Sonst wird das Gesundheitssystem endgültig kollabieren. Wir befinden uns jetzt schon kurz vor dem Kollaps. Ohne Strom und ohne Wasser werden diese Institutionen nicht weiter funktionieren.

Und es sieht nicht danach aus, dass Diesel ins Land reinkommt.

Nein. Es braucht jetzt Treibstoff, um sicherzustellen, dass die Tausende von Verletzten nicht sterben, weil sie nicht behandelt werden können.

Sie waren bis am Freitag in Kontakt mit Ihren Leuten vor Ort. Was erzählen sie?

Die Situation ist unerträglich schlimm in Gaza. Es sind nie da gewesene Opferzahlen, in einer so kurzen Zeitspanne. Eine massive Zerstörung von Infrastruktur. Es wird für die Bevölkerung zunehmend unmöglich, sich in Sicherheit zu bringen, Nahrungsmittel aufzutreiben, Wasser aufzutreiben. Das Wassersystem ist zusammengebrochen, das Abwassersystem funktioniert nicht mehr. Damit können neue Katastrophen wie Cholera entstehen. Wir sind unbeschreiblich besorgt. Und es ist schwer zu ertragen für Vertreter des IKRK, denn wir könnten umfangreicher helfen. Jedoch ist dies aus verschiedenen Gründen wie zum Beispiel aufgrund der Intensität der Kämpfe nicht in vollem Umfang möglich.

Sie sprechen mit der Hamas. Das IKRK spricht immer mit allen Seiten in einem Konflikt. Doch dadurch stellen Sie alle Seiten auf ein und dieselbe Stufe. Vertreter von demokratisch gewählten Ländern und Terroristen. Ist das nicht problematisch?

Wir sprechen weltweit mit etwa 300 bewaffneten Gruppen aller Art und aller Formationen. Wir sprechen mit allen Staaten und anderen Akteuren, die einen Einfluss auf bewaffnete Gruppen oder kriegführende Staaten haben können. Unsere Neutralität ist geleitet vom Humanitären Völkerrecht, und das ist unser Kompass. Die Genfer Konvention schützt alle Kriegsopfer, egal auf welcher Seite der Front sie sich befinden. Unsere Rolle ist es, alle Kriegsparteien, die einen Einfluss auf das Wohlbefinden der Opfer haben, an ihre rechtlichen Pflichten zu erinnern.

Das humanitäre Völkerrecht ist im Übrigen explizit darin, dass seine Pflichten den Parteien keine politische Anerkennung gewähren. Wir sind unabhängig von politischen Überlegungen. Wir versuchen die zivilen Opfer bestmöglich zu schützen, wir setzen uns ein, dass Gefangene adäquat behandelt werden. Aber wir können die Durchsetzung nicht erzwingen. Das heisst, wir sind immer darauf angewiesen, dass die Parteien um uns herum sich einigen können.

Das tun sie oft nicht.

Wir erhalten immer einen Dialog aufrecht, wenn es aussichtslos erscheint. Das heisst, es gibt immer eine Minimalgarantie der humanitären Hilfe. Und diese Garantie, die brauchen alle Parteien früher oder später. Jedes Friedensgespräch beginnt notwendigerweise mit humanitären Schritten. Es geht zunächst immer um eine humanitäre Waffenruhe.

Dieser Konflikt ist extrem aufgeladen. Das musste diese Woche auch Antonio Guterres erfahren. Er sagte in einer Rede, der Anschlag der Hamas sei nicht in einem Vakuum passiert. Israels Uno-Botschafter verlangte gleich seinen Rücktritt. Was spiegelt diese Episode?

Ich bin in engem Gespräch mit dem Uno-Generalsekretär, und wir sind uns in einer Sache einig. Wir tun das, was in unserer jeweiligen Macht steht und Teil unseres jeweiligen Mandats ist, um humanitären Zugang zu erreichen für die Bevölkerung, die jetzt unglaubliche Not leidet.

Sie haben unlängst in einem Meinungsbeitrag der «New York Times» geschrieben, dass die Neutralität, auch die des IKRK, unter Druck steht. Kann man heute noch neutral sein?

Es gehört zum natürlichsten Reflex, bei einem Konflikt Partei zu ergreifen. Und weil die Weltgemeinschaft um diese Reflexe weiss, wurde das IKRK gegründet. Eine Organisation, die unter keinen Umständen Partei ergreift. Wir werden regelmässig wegen dieser Neutralität kritisiert, aber ohne diese Neutralität wären wir nicht das IKRK und könnten nicht Dinge tun, die uns diese Neutralität ermöglicht.

Weshalb polarisiert dieser Konflikt so sehr?

Es ist ein langanhaltender Konflikt, er dauert seit 1948, seine Wurzeln gehen noch weiter zurück. Es ist eine Situation, die sich auf politischem Weg nicht zu lösen scheint. Gleichzeitig sehen wir jetzt wieder in dieser Eskalation, dass die Lösung über militärische Mittel eben auch eine sehr teure, wenn nicht eine unmögliche ist. Wenn Völkerrecht nicht eingehalten wird und menschliches Leid generiert wird, wird es schwieriger, zu einer politischen Lösung zu gelangen oder zum Verhandlungstisch zurückzukehren. Die Traumata lassen sich immer weniger überwinden, je länger eine Spaltung vorherrscht. Aber wir können nicht aufgeben.

Der politische Prozess um Frieden ist seit Jahren tot. Könnten die katastrophalen Ereignisse neue Verhandlungen anstossen?

Je stärker sich die Parteien an ihre Pflichten im humanitären Völkerrecht halten, desto grösser wird die Wahrscheinlichkeit sein, dass sie zum Verhandlungstisch zurückkehren wollen. Hier haben wir eine wichtige Aufgabe zu erfüllen: die Parteien jeden Tag daran zu erinnern, was ihre Pflichten sind. Im Moment geht es darum, die Freilassung der Geiseln unterstützen zu können, dass wir Zugang zu den Gefangenen auf israelischer Seite bekommen und dass wir humanitäre Hilfe leisten können.

Das IKRK war in die Befreiung der vier Geiseln involviert. Was war seine Rolle?

Wenn solche Geiselnahmen passieren, nehmen wir sofort Kontakt mit allen Parteien auf. Auch mit der Partei der Geiselnehmer. Wir fordern humanitären Zugang zu den Geiseln und ihre bedingungslose Freilassung. Wir sind auch in Kontakt mit den Parteien, die darüber verhandeln, wann und wo Geiseln freigelassen werden können. Wenn diese Verhandlungen dann so weit sind, dass es zur Freilassung kommt, sind wir meistens involviert. Die Übergabe muss von einer neutralen Organisation, die das Vertrauen aller Seiten hat und absolut vertraulich ist, umgesetzt werden.

Hat das IKRK direkten Zugang zu den Geiseln?

Wir fordern direkten Zugang und stehen in Kontakt mit der Hamas. Aber leider gab es diesbezüglich noch keinen Durchbruch.

* Mirjana Spoljaric Egger, Schweizer Diplomatin, 51, übernahm im Oktober 2022 das Präsidium des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Seit 2018 war sie beigeordnete Generalsekretärin und stellvertretende Administratorin beim Uno-Entwicklungsprogramm und dort für Europa zuständig. Zuvor hatte sie diverse Funktionen im Schweizer Aussendepartement inne. Frau Spoljaric Egger hat in Basel und Genf Philosophie, Wirtschaft und Völkerrecht studiert. Sie ist verheiratet und Mutter zweier Kinder.

Quelle: NZZ am Sonntag vom 29. Oktober 2023
(Zweitverwendung mit freundlicher Genehmigung der NZZ)

Zurück