Kasan – die Stadt des BRICS-Gipfels
von René Zittlau, «Stimme aus Russland»*
(25. Oktober 2024) Ohne jeden Zweifel stellt der Gipfel in Kasan den politischen Höhepunkt für die BRICS-Staaten im Jahre 2024 dar. Gastgeber derartiger politischer Grossveranstaltungen überlegen sehr genau, wo diese ausgetragen werden. Denn die Wahl des richtigen Ortes ermöglicht die Vermittlung von unausgesprochenen Botschaften über das eigentliche Ereignis hinaus. Die Entscheidung für Kasan war auch unter diesem Aspekt wohl überlegt.
Geschichte und Kultur einer multiethnischen Stadt
Kasan ist eine der ältesten Städte Russlands. Sie wurde im Jahre 1005 gegründet und ist somit fast 150 Jahre älter als Moskau. Heute leben in der grössten Stadt im Einzugsgebiet der Wolga über 1,3 Millionen Menschen. Sie ist nicht nur die Hauptstadt der Republik Tatarstan, sie darf sich seit 2009 auch ganz offiziell dritte Hauptstadt Russlands nennen.
Tatarstan – Tataren – Goldene Horde: diese Assoziation hat ihre Berechtigung. Bis zum Erscheinen der mongolischen Tataren war Kasan die Hauptstadt der Wolga-Bulgaren, eines turksprachigen Stammes, der, aus dem Ural kommend, sich in den Niederungen der Flüsse Don und Wolga ansiedelte.
Die Goldene Horde der Tataren herrschte vom 13. bis zum 15. Jahrhundert auch über die Region des heutigen Tatarstans. In jener Zeit nahmen die mongolischen Tataren den muslimischen Glauben an, im Jahre 1320 wurde der Islam zur Staatsreligion.
Die Wolga-Bulgaren gingen im Reich der Tataren auf und bezeichneten sich in Folge selbst allmählich als Tataren. Auch die Religion übernahmen sie.
Nach dem Zerfall der Goldenen Horde in zwei Khanate – das Khanat Krim und das Khanat Kasan – geriet das nördliche der beiden allmählich unter russischen Einfluss. Es war später das erste Königreich, das vollständig an Russland angegliedert und mit seinem orientalischen Stil und seiner islamischen Religion eine russische Stadt wurde.
In Tatarstan gibt es heute zwei Amtssprachen – Russisch und Tatarisch. Jedes Schulkind lernt neben Russisch als Pflichtsprache ebenso Tatarisch, dennoch überwiegt im Alltag aus nachvollziehbaren Gründen der Gebrauch der russischen Sprache.
Kasan heute ist eine multinationale Stadt. In ihr leben Menschen von mehr als 100 Nationalitäten und damit mehr als an jedem anderen Ort des Riesenreichs. Die grössten Populationen stellen zu etwa gleichen Teilen (etwa 48 Prozent) Russen und Tataren.
Die Multinationalität lebt Kasan auf seine eigene, besondere Weise. Symbole und Gotteshäuser unterschiedlicher Religionen finden sich hier in unmittelbarer und friedlicher Nachbarschaft.
Der gekrönte Drache Zilant ist das offizielle Symbol von Kasan und seit 2004 Teil des Wappens der Stadt. Nach einer Legende soll an dem Ort, an dem Kasan gegründet wurde, eine geflügelte Drachenschlange gelebt haben.
Innerhalb der historischen Mauern des Kasaner Kremls wurde eine der der grössten Moscheen Europas errichtet, Kul-Scharif. In ihrer unmittelbaren Nachbarschaft befindet sich – für Europäer eher überraschend – eine christliche, russisch-orthodoxe Kirche, wie das nachfolgende Foto zeigt.
Dass es sich bei dieser räumlichen Nähe nicht nur um Symbolik handelt, sondern um ein bewusst gelebtes Miteinander der verschiedensten Kulturen, symbolisiert der «Tempel aller Religionen», ein weltweit einzigartiges Bauwerk.
Interessanterweise werden in dem Komplex keine Gottesdienste oder andere religiöse Rituale abgehalten. Der Tempel dient als architektonisches Symbol für alle Religionen und als ihr Museum. Zu dem Ensemble gehören eine orthodoxe Kirche, eine muslimische Moschee, eine jüdische Synagoge, eine buddhistische Pagode und andere Objekte verschiedener Konfessionen und Religionen. Durch einen Brand im Jahre 2017 wurde das Projekt noch nicht fertiggestellt.
Einige ökonomische Fakten über Kasan
In der Stadt gibt es mehr als 1700 produzierende Firmen, den nach Moskau und Petersburg bedeutendsten Finanzplatz Russlands sowie eine grosse Zahl von Dienstleistungsunternehmen. Die wichtigsten Branchen sind die Öl- und Chemieindustrie, der Maschinen- und Anlagenbau, Metall- und Holzverarbeitung, die Lebensmittel- und pharmazeutische Industrie.
Mit dieser Unternehmensdichte ist die Region Kasan eines der wichtigsten Industriezentren Russlands. Nach offiziellen Angaben wurden im Jahre 2023 Produkte und Dienstleistungen im Wert von 701,5 Milliarden Rubel erwirtschaftet, also etwa 7 Milliarden Euro. Die Industrieproduktion betrug dabei 627,7 Milliarden Rubel (also 6,2 Milliarden Euro). Dieser Wert lag um 9,7 Prozent höher als im Vorjahr.
Im Jahre 2023 betrug das durchschnittliche Monatsgehalt in grossen und mittleren Unternehmen 77 560 Rubel, also etwa 780 Euro. Die Wachstumsrate ist auch hier hoch, was nicht zuletzt mit dem Ukraine-Konflikt zusammenhängt.
Ein weiterer wichtiger Wert für die Bewertung der wirtschaftlichen Situation: Die Arbeitslosenquote lag zum 1. Januar 2024 bei 0,27 Prozent. Wie in anderen Regionen Russlands ist die Suche qualifizierten Personals durchaus problematisch.
Fazit
Drachen, Moschee, russisch-orthodoxe Kirche, ein Tempel aller Religionen, eine Wirtschaft, die die Region Kasan zur reichsten Region Russlands nach Moskau macht. Die weltliche Macht der Republik Tatarstan im Kreml von Kasan liegt dabei ganz selbstverständlich und traditionell in muslimischen Händen. Denn Tatarstan ist seit jeher muslimisch.
Die Regierungsgewalt einer der wichtigsten Regionen Russlands in den Händen von Moslems ist im liberalen Russland kein gesellschaftliches oder politisches Thema. In Russland ist dies normal und entspricht den gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Moslems, Juden, Christen, Atheisten, Buddhisten, Menschen unterschiedlichster Nationalitäten und Weltanschauungen leben hier in Kasan, in Tatarstan, seit Jahrhunderten friedlich und zum Wohle aller zusammen. In Deutschland wäre eine derartige Konstellation undenkbar. Über Liberalismus spricht man nicht, man lebt ihn.
Die Vergabe des BRICS-Gipfels durch die russische Regierung in diese Stadt hat somit eine zutiefst symbolische Bedeutung. Denn die Einladung der Vertreter einer weltumspannenden Allianz von Staaten, die verschiedenste Weltanschauungen und die wichtigsten Religionen repräsentieren, erfolgte in eine Stadt, die seit Jahrhunderten für ein friedliches Zusammenleben verschiedenster Konfessionen und Nationalitäten bekannt ist. Für Diplomaten ein unübersehbares Zeichen.
* René Zittlau, Jahrgang 1960, ist Diplom-Sprachmittler (entspricht einem Slawistik Studium plus Dolmetscherschule). Er arbeitete für den Nachrichtendienst, später in der freien Wirtschaft als Geschäftsführer für Unternehmen unterschiedlicher Branchen, vornehmlich in mittel- und osteuropäischen Ländern. Seine Erfahrungen aus langjährigen Aufenthalten in diesen Staaten sowie die Beherrschung mehrerer osteuropäischer Sprachen – Russisch, Tschechisch, Slowakisch – erlauben ihm einen unabhängigen Blick auf politische und wirtschaftliche Vorgänge rund um die jeweiligen Länder. Heute ist er Mitarbeiter von «Stimme aus Russland». |
Quelle: https://voicefromrussia.ch/kasan-die-stadt-des-brics-gipfels/, 17. Oktober 2024