Buchbesprechung

Kishore Mahbubani: China hat gewonnen

Von Pascal Boniface, Geopolitologe, Direktor des Instituts für internationale und strategische Beziehungen IRIS, Frankreich

(30. September 2020)  Kishore Mahbubani ist Singapurer. Doch im Gegensatz zur grossen Mehrheit seiner Landsleute ist er nicht chinesischer Herkunft. Er ist Sindhi-Hindu, eine ursprünglich aus Pakistan stammende hinduistische Bevölkerung. Seine Eltern flohen 1947 vor den Verfolgungen, die mit der Teilung zwischen Indien und Pakistan einhergingen, und suchten Zuflucht in Singapur, wo er 1948 geboren wurde. Er war Diplomat, speziell auch bei den Vereinten Nationen. Heute ist er Universitäts­professor. Er ist einer der einflussreichsten Kommentatoren des internationalen Lebens.

In seinem Buch «Has China Won?» erklärt uns Kishore Mahbubani, dass im Wettbewerb zwischen China und den USA, obwohl die Vereinigten Staaten immer in Führung liegen, China mehr Punkte erzielt, weil es weniger Fehler macht als sein Rivale von jenseits des Pazifiks. Während des Kalten Krieges erreichte die Sowjetunion bestenfalls 40% des BIP der USA. Heute liegt China bereits bei 60%, und der Abstand wird stetig kleiner.

Für Kishore Mahbubani besteht der Hauptfehler Chinas darin, seinen Markt zu schliessen und die internationalen Handelsregeln nicht wirklich anzuwenden. Seit seinem Beitritt zur WTO im Jahr 2001 hat China sein BIP verzehnfacht. Es kann daher nicht mehr den Schutz ähnlich dem eines Entwicklungslandes beanspruchen, den es zum Zeitpunkt seines Beitritts genoss. Nach Ansicht von Kishore Mahbubani entzieht die Ausübung nichttarifärer Handelshemmnisse und die Missachtung geistigen Eigentums China auch die Unterstützung im Ausland. Schliesslich weist er darauf hin, dass China die USA nicht unterschätzen sollte, da sie immer noch in der Lage seien, sich zu erholen.

Doch die Vereinigten Staaten machen laut Mahbubani selber viele Fehler. Für den singapurischen Autor sollten sie zwischen dem Wunsch, den 330 Millionen Amerikanern das Leben zu erleichtern, und dem Wunsch, die Weltherrschaft zu erhalten, vermitteln. Diese beiden Ziele sind seiner Ansicht nach unvereinbar, weil diese Washington dazu veranlassen, seine Militärausgaben exponentiell zu erhöhen, während China nicht in diese Falle tappt. China hat in der Tat verstanden, dass die Sowjetunion implodiert ist, weil sie den Vereinigten Staaten folgen wollte, und will diesen Fehler nicht begehen. Die ständige Erhöhung der US-Militärausgaben ist ein Fehler, denn, so Kishore Mahbubani, die Rivalität zwischen Peking und Washington wird nicht mit militärischen Mitteln gelöst. Ein Krieg würde zur gegenseitigen Zerstörung beider Länder führen. Daher wird der Konflikt mit diplomatischen Mitteln gelöst werden. Welchen Sinn hat es also, dass die USA über mehrere tausend Atomwaffen verfügen? Die wenigen Hundert, die China besitzt, reichen aus, um die Vereinigten Staaten abzuschrecken. Ein amerikanischer Flugzeugträger kostet 13 Milliarden Dollar. Der ehemalige singapurische Diplomat weist darauf hin, dass dieser mit einer chinesischen DF-26-Mittelstreckenrakete für ein paar hunderttausend Dollar zerstört werden kann.

Kishore Mahbubani steht auch dem amerikanischen diplomatischen System sehr kritisch gegenüber. Da der Wettbewerb auf diplomatischer Ebene ausgetragen wird, entzieht die Tatsache, dass in den wichtigsten amerikanischen Botschaften «Freunde der Macht» eingestellt werden, die sich finanziell massgeblich am Wahlkampf beteiligt haben, den Talenten der amerikanischen Diplomatie wichtige Posten. Die Zukunftsaussichten für amerikanische Diplomaten, die nur von sekundären Positionen träumen können, während «Freunde der Macht» in die prestigeträchtigsten Posten berufen werden. Letztlich leidet die amerikanische Diplomatie unter diesem System. Kishore Mahbubani ist der Meinung, dass die USA, wenn sie sich nur auf ihre militärische Kraft konzentrieren, sich heute wie die Sowjetunion während des Kalten Krieges verhalten und sich überfordern. Damit verschaffen sie China, das sich seinerseits wie die USA während des Kalten Krieges verhält, einen Wettbewerbsvorteil.

Dasselbe gilt für die diplomatische Ebene. Die chinesische Politik stützt sich auf die internationalen Institutionen, während Trump diese zerstören will. Gemäss Kishore Mahbubani verfügt China über eine Mehrheit in der Generalversammlung der Vereinten Nationen, während die Vereinigten Staaten heute viel isolierter sind.

Natürlich ist da noch das demokratische Argument. Die USA sind eine Demokratie und China ist keine. Auch diesem Argument begegnet Kishore Mahbubani mit den typischen Argumenten eines Nicht-Westlers. Er weist zunächst darauf hin, dass, obwohl die chinesische Bevölkerung viermal so gross ist wie die amerikanische, in den Vereinigten Staaten 2'200’000 Menschen im Gefängnis sitzen, während es in China nur 1'600’000 sind. Er weist auch darauf hin, dass, wenn es in China eine Demokratie gäbe, das Volk einen aggressiven Führer wie Trump wählen würde und nicht einen demokratischen Führer wie Obama.

Seine grundlegendste Kritik an der amerikanischen Demokratie betrifft die Art der Finanzierung. Der Autor erklärt, dass die USA ein Antikorruptionsgesetz für das Ausland haben, den Foreign Corrupt Practices Act. Dieses Gesetz sieht vor, dass schwere Strafen verhängt werden, wenn Geld an ausländische Entscheidungsträger gezahlt wird, um deren Entscheidungen zu beeinflussen. Er erklärt, dass die vom Obersten Gerichtshof 2010 beschlossene Beendigung der Ausgabenbeschränkungen für Wahlkampagnen, in Wirklichkeit den USA das erlauben, was sie dem Ausland verbieten. Schliesslich beeinflussen alle Donationen, die von den Spendern geleistet werden, politische Entscheidungen und das Gewicht des Geldes schränkt die amerikanische Demokratie ein.

Immer etwas provokant behauptet Kishore Mahbubani, China sei nicht expansionistisch. Um Australien zu erobern war England 90 Tage auf See. China war nur 30 Tage von Australien entfernt, und doch versuchte es nicht, diesen Kontinent zu erobern. Dann weist er noch darauf hin, dass China Tibet und die Region Xinjiang kaum je zurückgeben wird, aber auch die USA werden Texas und Kalifornien nicht zurückgeben. Tatsächlich ist die Kommunistische Partei Chinas mehr in der chinesischen Zivilisation verwurzelt als im Marxismus-Leninismus. Und in den letzten 2000 Jahren waren die Chinesen noch nie so glücklich wie in den letzten 30 Jahren.

Der singapurische Akademiker zitiert Kissinger, der darauf hinweist, dass die Chinesen das Go-Spiel bevorzugen, bei dem man geduldig einen Gegner umzingeln muss, während die Westler das Schachspiel bevorzugen, bei dem man so schnell wie möglich den König erobern muss.

Schliesslich liegt das Hauptproblem darin, dass zur Zeit der einzige Konsens in den USA im Widerstand gegen die gelbe Gefahr besteht. Joe Biden und Donald Trump sind sich darin einig und selbst George Soros, der die Kampagnen zur Verhinderung der Wahl von Donald Trump massiv mitfinanziert hat, billigt seine antichinesische Politik. Dieser Konsens in den USA über die Bekämpfung des Aufstiegs Chinas scheint Kishore Mahbubani äusserst gefährlich zu sein. Er ist der Meinung, dass die Amerikaner besser versuchen sollten, den Lebensstandard und das Wohlergehen ihres Volkes aufrechtzuerhalten, als für den Erhalt der Welthegemonie zu kämpfen. Er denkt, dass die Chinesen in der zweitausendjährigen Geschichte Chinas nie glücklicher und, wie er sagt, nie freier waren. Schliesslich geniessen sie ein gewisses Mass an Freiheit, zum Beispiel können sie ins Ausland reisen. Natürlich geben sie dem Kampf gegen das Chaos den Vorrang. In China haben Ordnung und Sicherheit Vorrang vor der Freiheit, wie sie in der westlichen Welt verstanden wird.

Ein sehr anregendes Buch, das die Auseinandersetzung mit dem Thema durch die Originalität und Stärke seiner Argumente nährt.

Quelle: http://www.pascalboniface.com/2020/05/20/kishore-mahbubani-la-chine-a-gagne/

(Übersetzung Schweizer Standpunkt)

Zurück