Mearsheimers Analyse zum Ukraine-Krieg

«Man kann nur hoffen, dass eine katastrophale Eskalation vermieden wird»

(3. Oktober 2022) (rs) Am 17. August veröffentlichte «Foreign Affairs» einen Beitrag des renommierten amerikanischen Politologen John J. Mearsheimer, «Das Spiel mit dem Feuer in der Ukraine. Die unterschätzten Risiken einer katastrophalen Eskalation».1 In den USA zählt Mearsheimer zu den gewichtigen Stimmen, die grossen Einfluss auf die öffentliche Debatte haben. Nicht nur deshalb fassen wir diesen Aufsatz an dieser Stelle zusammen. Auch in seiner Analyse schont Mearsheimer den Leser nicht vor den möglichen Folgen dieses Krieges.

Mearsheimer spielt verschiedene Szenarien eines weiteren Verlaufes des Krieges in der Ukraine durch. Dabei hebt er die Gefahr eines allzu sorglosen Umgangs mit dem Kriegsgeschehen hervor, das nach seiner Auffassung in eine atomare Katastrophe führen würde, weil es wahrscheinlich zu einem direkten Schlagabtausch zwischen den USA und Russland käme.

Mearsheimer stellt voran, dass jede Seite ihre Ambitionen erheblich gesteigert habe, um den Krieg zu gewinnen bzw. nicht zu verlieren. Das könne dazu führen, dass der Einsatz atomarer Waffen wahrscheinlicher würde. Parallel dazu stellt er fest: «Das Fehlen einer möglichen diplomatischen Lösung stellt für beide Seiten einen zusätzlichen Anreiz dar, die Eskalationsleiter hinaufzuklettern. Was weiter oben auf der Eskalationsleiter liegt, könnte wirklich katastrophal sein: ein Ausmass an Tod und Zerstörung, das dasjenige des Zweiten Weltkriegs übertrifft.»2

Für die Perspektive der USA zitiert der Autor US-Verteidigungsminister Lloyd Austin: «‹Wir wollen Russland so weit schwächen, dass es nicht mehr in der Lage ist, die Dinge zu tun, die es beim Einmarsch in die Ukraine getan hat›. Damit kündigten die Vereinigten Staaten ihre Absicht an, Russland aus der Reihe der Grossmächte zu verdrängen.» Als Konsequenz aus diesem Ziel können die USA sich nach Mearsheimer keine Niederlage der Ukraine leisten.

Für die russische Position bezieht sich Mearsheimer auf eine Aussage des Aussenministers Sergej Lawrow, der als Sicherheitsgarantie eine neutrale, demilitarisierte Ukraine fordert, die Russland nicht mehr bedrohen kann. Gleichzeitig stellt Mearsheimer fest: «Die Bedrohung für Russland ist heute noch grösser als vor dem Krieg, vor allem weil die Regierung Biden nun entschlossen ist, Russlands territoriale Gewinne zurückzudrängen und die russische Macht dauerhaft zu schwächen.» – (Es ist jedoch nicht erst seit dem aktuellen Konflikt Ziel der USA, Russland zu besiegen, wie Mearsheimer meint. Dies lässt sich anhand der langjährigen verborgenen militärischen Vorbereitungen in der Ukraine oder den verschiedenen US-Militärstrategien, wie zum Beispiel das Army Operating Concept (AOC) mit dem Titel «Win in an Complex World 2020–2040»3 problemlos feststellen.)

Mearsheimer fasst die Situation zusammen: «Im Grunde genommen sind Kiew, Washington und Moskau alle fest entschlossen, auf Kosten des Gegners zu gewinnen, was wenig Raum für Kompromisse lässt». Dies habe seiner Meinung nach zu einer «blutigen Pattsituation» geführt.

Anschliessend beschreibt der Autor drei grundlegende Wege in eine weitere Eskalation, die der heutigen Kriegssituation innewohnen: «Eine oder beide Seiten eskalieren absichtlich, um zu gewinnen, eine oder beide Seiten eskalieren absichtlich, um eine Niederlage zu verhindern, oder die Kämpfe eskalieren nicht absichtlich, sondern unbeabsichtigt. Jeder dieser Wege birgt das Potential, die Vereinigten Staaten in die Kämpfe zu verwickeln oder Russland zum Einsatz von Atomwaffen zu veranlassen – und möglicherweise beides.»

Als absehbar geworden sei, dass Russland seine Kriegsziele erreichen würde, belieferten die USA die Ukraine zusehends mit moderneren Waffen: Panzerabwehrrakete Javelin, Mehrfachraketen-System HIMARS, sie veranlassten die Lieferung polnischer und slowakischer MiG-29- und eigener F-15 und F-16-Kampfflugzeuge. Die USA bildeten das ukrainische Militär aus, versorgten es mit Daten zur Zerstörung russischer Ziele und der Westen verfüge über ein «verdecktes Netz von Kommandos und Spionen» in der Ukraine.

Mearsheimer: «Washington ist zwar nicht direkt an den Kämpfen beteiligt, aber es ist tief in den Krieg verstrickt. Und es ist nur noch ein kleiner Schritt davon entfernt, dass seine eigenen Soldaten den Abzug betätigen und seine eigenen Piloten die Knöpfe drücken. […] Ein wahrscheinlicheres Szenario für ein Eingreifen der USA würde eintreten, wenn die ukrainische Armee zusammenzubrechen beginnt und Russland wahrscheinlich einen grossen Sieg erringen würde. In diesem Fall könnten die Vereinigten Staaten versuchen, das Blatt zu wenden, indem sie sich direkt in die Kämpfe einmischen, zumal die Regierung Biden fest entschlossen ist, ein solches Ergebnis zu verhindern. […]

Alternativ dazu könnte eine verzweifelte Ukraine gross angelegte Angriffe auf russische Städte starten, in der Hoffnung, dass eine solche Eskalation eine massive russische Reaktion provozieren würde, die schliesslich die Vereinigten Staaten dazu zwingen würde, sich den Kämpfen anzuschliessen.» Mearsheimer zeigt noch weitere mögliche Varianten des Kriegsverlaufs auf, die zu einem direkten Einschreiten der USA führen könnten. Eine grosse Auswahl.

Nachdem Mearsheimer konstatiert, das Russland nur einen sehr begrenzten militärischen Aufwand betreibe, fragt er sich, unter welchen Bedingungen das Land atomare Waffen einsetzen würde: 1. «[…] wenn die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten in den Kampf eingreifen […]». 2. «[…] wenn die Ukraine das Blatt auf dem Schlachtfeld selber [wendet], ohne direkte Beteiligung der USA. 3. «[…] wenn der Krieg sich zu einer langwierigen Pattsituation entwickelt, für die es keine diplomatische Lösung gibt und die für Moskau äusserst kostspielig wird.» Russland würde mit dem Einsatz taktischer Atomwaffen beginnen, und die Lage würde eskalieren.

Nachdem Mearsheimer verschiedene Varianten des Kriegsverlaufs aufzeigt, verweist er darauf, dass die Eskalationsdynamik in Kriegszeiten schwer vorherzusagen oder zu kontrollieren sei. Seine Analyse endet pessimistisch: «Die Regierung Biden hätte mit Russland zusammenarbeiten sollen, um die Ukraine-Krise beizulegen, bevor der Krieg im Februar ausbrach. Jetzt ist es zu spät, um eine Einigung zu erzielen. Russland, die Ukraine und der Westen stecken in einer schrecklichen Situation fest, aus der es keinen offensichtlichen Ausweg gibt. Man kann nur hoffen, dass die Verantwortlichen auf beiden Seiten den Krieg so führen, dass eine katastrophale Eskalation vermieden wird. Für die vielen Millionen Menschen, deren Leben auf dem Spiel steht, ist das jedoch ein schwacher Trost.»

Mearsheimers Pessimismus kann man verstehen, teilen muss man ihn nicht. Wurde doch Präsident Zelensky mit dem Wahlkampfversprechen «Frieden mit Russland finden» gewählt; machen doch Bürger aus der Ukraine und aus Russland friedlich miteinander Ferien in der Türkei. Und die Bürger Europas wollen Frieden mit Russland. Ein Abkommen über Getreidelieferungen durchs Schwarze Meer war möglich.

Wenn die US-Regierung will oder die Regierungen Europas endlich zur Vernunft zurückfinden, ist ein Ende des Krieges schnell zu finden.

1 https://www.foreignaffairs.com/ukraine/playing-fire-ukraine, 17. August 2022

2 Alle Zitate aus dem besprochenen Text wurden vom «Schweizer Standpunkt» übersetzt.

3 Vgl. Wolfgang Effenberger. https://www.freethewords.com/news/2022/06/10/die-dunkle-strategie-von-wolfgang-effenberger/

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