Moskau verurteilt die auf Regeln basierende Ordnung der USA in Europa

M. K. Bhadrakumar (Bild zvg)

von M. K. Bhadrakumar,* Indien

(6. April 2023) (Red. CH-S) Grossbritanniens Eliten lassen aktuell den Konflikt mit Russland durch die Entscheidung, DU-Munition an die Ukraine zu liefern, auf die atomare Ebene hocheskalieren. Der renommierte indische Analyst M. K. Bhadrakumar beschreibt den perfiden Vorgang des US-amerikanisch-britischen Bündnisses.

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Baroness Goldie ist eine erfahrene schottische Politikerin und Peer auf Lebenszeit, die von 2005 bis 2011 als Vorsitzende der schottischen Konservativen Partei und seit 2019 als britische Staatsministerin für Verteidigung tätig war. Sie ist alles andere als ein Partymädchen wie Liz Truss, die ihre indiskreten Worte, die Unwissenheit verraten, oft schlucken musste.

Sicherlich hat Baroness Goldie die Tragweite dessen, was sie am 20. März in einer schriftlichen Erklärung1 im Oberhaus als Antwort auf die scheinbar harmlose Frage von Lord Hylton niederschrieb, sehr wohl verstanden.

Frage: «Ich möchte die Regierung Seiner Majestät fragen, ob die Munition, die derzeit an die Ukraine geliefert wird, abgereichertes Uran enthält.» (Lord Hylton2 ist übrigens einer von 92 erblichen Peers, die in das House of Lords gewählt wurden. Er ist derzeit das dienstälteste Crossbench-Mitglied des House of Lords, seit 1968, und ein dynamischer Kämpfer für den Frieden und die Interessen der Schwachen und Ausgegrenzten.)

Munition mit abgereichertem Uran aus Grossbritannien

Die Antwort von Baroness Goldie lautete: «Wir werden der Ukraine nicht nur eine Staffel Challenger-2-Kampfpanzer zur Verfügung stellen, sondern auch Munition einschliesslich panzerbrechender Munition, die abgereichertes Uran enthält. Solche Geschosse sind hocheffektiv bei der Bekämpfung moderner Panzer und gepanzerter Fahrzeuge.»

Es ist anzunehmen, dass der britische Verteidigungsminister Ben Wallace die Downing Street 10 auf dem Laufenden gehalten hat – und, was noch wichtiger ist, dass er sich vor der oben genannten Ankündigung der britischen Regierung mit seinem amerikanischen Amtskollegen, Verteidigungsminister Lloyd Austin, beraten und abgestimmt hat.

Sowohl Wallace als auch Austin sind Militärs und verstehen, warum mit «abgereichertem Uran» bestückte Munition in der gegenwärtigen Phase des Stellvertreterkriegs in der Ukraine benötigt wird, wenn Kiew im Frühjahr, wenn sich das Blatt im Donbass eindeutig zugunsten Russlands wendet, überhaupt eine glaubwürdige Gegenoffensive starten will.3

Ebenso müssen sich beide darüber im Klaren sein, dass die Rechtmässigkeit der Nato-Intervention in Jugoslawien noch immer eine offene Frage ist.4 Als Reaktion auf die Bombardierung durch die Nato hat das ehemalige Jugoslawien am 29. April 1999 vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) Klage gegen die zehn unmittelbar an dem Angriff beteiligten Nato-Mitglieder – Belgien, Kanada, Frankreich, Deutschland, Italien, die Niederlande, Portugal, Spanien, das Vereinigte Königreich und die USA – erhoben und dabei eine Reihe von Verstössen gegen das Völkerrecht (einschliesslich der Verpflichtung, keine verbotenen Waffen einzusetzen) geltend gemacht.

Obwohl der IGH den Antrag Belgrads auf vorläufige Massnahmen ablehnte, erklärte er sich dennoch zutiefst besorgt über die Anwendung von Gewalt durch westliche Mächte in Jugoslawien, die «unter den gegenwärtigen Umständen […] sehr ernste Fragen des Völkerrechts aufwirft». Die Klagen Jugoslawiens gegen die Nato-Beklagten sind nach wie vor auf der Tagesordnung des IGH, obwohl der Antragsteller abgewiesen wurde.

Man darf sich nicht täuschen: Washington und London wiederholen bewusst die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien. Das Hauptziel der angelsächsischen Clique ist eine kalkulierte Eskalation des Stellvertreterkriegs, die mit Sicherheit eine heftige Reaktion Moskaus nach sich ziehen wird, so vorhersehbar wie die Nacht auf den Tag folgt.

Stationierung taktischer Atomwaffen Russlands in Belarus

Genau das geschah, als der russische Präsident Wladimir Putin am Samstag [25. März] ankündigte,5 dass Russland seine taktischen Atomwaffen in Belarus stationieren werde. Putin begründete dies mit einem Ersuchen aus Weissrussland als Reaktion auf die Erklärung von Baroness Goldie in London vor einer Woche [20. März].

Vor allem aber zog Putin den Vergleich mit der jahrzehntelangen Stationierung von Atomwaffen durch die USA auf dem Territorium der verbündeten Nato-Länder.

EU und NATO tobten nach Putins Ankündigung.6 Der EU-Chefdiplomat Josep Borrell sagte am Sonntag, Moskaus Entscheidung sei «eine unverantwortliche Eskalation und eine Bedrohung für die europäische Sicherheit». Er versprach, «weitere Sanktionen» gegen Belarus zu verhängen.

Eine Nato-Sprecherin bezeichnete die Entscheidung Moskaus als «gefährlich und unverantwortlich». Interessanterweise wich die Regierung Biden dem Thema jedoch geschickt aus und betonte stattdessen,7 dass die USA keine Anzeichen dafür gesehen hätten, dass Russland Atomwaffen nach Weissrussland oder sonst wohin verlegt habe!

Der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby, fügte hinzu: «Wir haben in der Tat keine Anzeichen dafür gesehen, dass er (Putin) die Absicht hat, innerhalb der Ukraine Atomwaffen einzusetzen.»

Aber dann machte Putin auch klar, dass Russland zunächst den Bau eines Depots für die taktischen Atomwaffen in Weissrussland bis zum 1. Juli abschliessen werde.

Kirby hat getrickst. Was ist der Aktionsplan? Erstens hofft die angelsächsische Clique, dass die Angelegenheit in Europa für weitere Unruhe und Unsicherheit gegenüber Russland sorgen und die europäischen Länder hinter der Regierung Biden versammeln würde; dies zu einer Zeit, in der sich innerhalb des transatlantischen Bündnisses wegen des langwierigen Krieges in der Ukraine, der für die europäischen Volkswirtschaften katastrophale Folgen haben könnte, Bruchlinien abzeichnen.

Lagerung amerikanischer Atomwaffen in fünf Nato-Staaten Europas. Stand 2022.
Rote Punkte: Sechs Stützpunkte mit aktuell eingelagerten Atomwaffen.

Taktische US-Atomwaffenlagern seit Jahrzehnten in Europa

Allerdings ist es für Washington schwierig, auf Putins Bemerkung zu reagieren, weil Russland nur etwas tut, was die USA schon seit Jahrzehnten tun. Die gegenseitige Verpflichtung, keine Atomwaffen in Drittländern zu stationieren, war einer der Vorschläge, die Moskau Washington im Dezember 2021 unterbreitete, ebenso wie die Verpflichtung, dass die Ukraine nicht der Nato beitreten würde. Die USA haben dies ignoriert und stattdessen mit grossem Bedacht die russische militärische Sonderoperation in der Ukraine ausgelöst.

Der springende Punkt ist, dass die russische Entscheidung über taktische Nuklearwaffen in Weissrussland – wie bei der Kubakrise 1962 – eine Vergeltungsmassnahme ist, die die Aufmerksamkeit auf die in Grenznähe stationierten US-Raketen lenkt. (Schätzungsweise 100 Atomwaffen lagern in Bunkern in fünf europäischen Ländern – Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und der Türkei.)

Schlimmer noch, die USA praktizieren eine umstrittene Vereinbarung,8 die als «nukleare Teilhabe» bekannt ist und in deren Rahmen sie Kampfflugzeuge ausgewählter nicht-nuklearer Nato-Länder mit nuklearer Ausrüstung ausstatten und deren Piloten darin ausbilden, einen Atomschlag mit US-Atombomben auszuführen. Dies geschieht, obwohl die USA als Vertragspartei des Atomwaffensperrvertrags (NPT) versprochen haben, anderen Ländern keine Atomwaffen zu überlassen, und die an der gemeinsamen Nutzung von Atomwaffen durch die Nato beteiligten Nicht-Atomwaffenländer selbst versprochen haben, keine Atomwaffen von den Atomwaffenstaaten zu erhalten!

Die Nato hat letztes Jahr erklärt9, dass sieben Nato-Länder «Dual-Capable Aircrafts (DCA)» – Flugzeuge, die sowohl als Abfangjäger/Jagdbomber als auch als Träger für eine Atomwaffe eingesetzt werden können – zur Verfügung gestellt haben. Bei diesen Ländern handelt es sich vermutlich um die USA, Belgien, Deutschland, Italien, die Niederlande, die Türkei und Griechenland. Und alle sind Unterzeichner des Atomwaffensperrvertrags!

Willkommen in der «regelbasierten Ordnung»! Was für den Westen völlig in Ordnung ist, ist für Russland verboten!

Kriegstreiber und russophobe Elitenim Vereinigten Königreich

Schliesslich hat die diplomatische Pirouette von Baroness Goldie noch eine weitere Dimension: Die Entscheidung Grossbritanniens, Waffen mit abgereichertem Uran an die Ukraine zu liefern, bestätigt seinen Ruf als rücksichtslosester und skrupellosester Staat im gesamten Nato-Bündnis.

Es steht ausser Frage, dass Munition mit abgereichertem Uran radioaktiv und giftig ist, und ihr massiver Einsatz im Jugoslawien- und im Irakkrieg wurde mit Geburtsschäden und Krebserkrankungen in Verbindung gebracht. In Fallujah, der Stadt, die während der Invasion des Irak zwei brutalen US-Belagerungen ausgesetzt war, wurde sie mit der «höchsten Rate genetischer Schäden in einer jemals untersuchten Bevölkerung» in Verbindung gebracht.

Die Giftigkeit von Munition mit abgereichertem Uran wurde von vielen Nato-Ländern anerkannt, und das Europäische Parlament hat ein Verbot des Einsatzes von Uranmunition gefordert. Nach dem Tod von 366 italienischen Soldaten, die an den Folgen der Substanz erkrankt waren, hat Italien 2019 ein Gesetz erlassen, das es Veteranen erleichtert, Schadensersatzansprüche wegen der Exposition geltend zu machen.

Warum begeht Grossbritannien einen solchen Unsinn? Es scheint in Europa Bedingungen schaffen zu wollen, die die Stationierung von nuklear bewaffneten US-Bombern in Lakenheath in Suffolk rechtfertigen, die 1991 im Einklang mit dem Intermediate Nuclear Forces Treaty entfernt wurden.

Die Friedensbewegung in Grossbritannien ist am Boden zerstört. Die Kriegstreiber und russophoben Eliten im Vereinigten Königreich werden die russische Vergeltung in Weissrussland nutzen, um eine weitere Eskalation zu fordern. Die Rückkehr der US-Bomber nach Lakenheath ist in naher Zukunft zu erwarten.

* M. K. Bhadrakumar hat rund drei Jahrzehnte als Karrierediplomat im Dienst des indischen Aussenministeriums gewirkt. Er war unter anderem Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Pakistan, Iran und Afghanistan sowie in Südkorea, Sri Lanka, Deutschland und in der Türkei. Seine Texte beschäftigen sich hauptsächlich mit der indischen Aussenpolitik und Ereignissen im Mittleren Osten, in Eurasien, in Zentralasien, Südasien und im Pazifischen Asien. Sein Blog heisst «Indian Punchline».

Quelle: https://www.indianpunchline.com/moscow-calls-out-us-rules-based-order-in-europe, 27. März 2023

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://questions-statements.parliament.uk/written-questions/detail/2023-03-06/hl6144

2 https://en.wikipedia.org/wiki/Baron_Hylton

3 https://www.kyivpost.com/post/14876

4 https://nsuworks.nova.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1410&context=ilsajournal

5 https://tass.com/russia/1594483?utm_source=indianpunchline.com&utm_medium=referral&utm_campaign=indianpunchline.com&utm_referrer=indianpunchline.com

6 https://www.euractiv.com/section/europe-s-east/news/eu-nato-blast-russias-dangerous-decision-to-station-nukes-in-belarus/

7 https://www.thedefensepost.com/2023/03/26/russia-moving-nuclear-weapons/

8 https://fas.org/blogs/security/2022/10/steadfast-noon-exercise-and-nuclear-modernization/

9 https://www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/2022/2/pdf/220204-factsheet-nuclear-sharing-arrange.pdf

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