Multipolarität, eine noch zu errichtende Ordnung

Guy Mettan (Bild zvg)

von Guy Mettan,* Genf

(25. Oktober 2023) Genf positioniert sich gerne als internationale Stadt, als humanitäre Stadt und als Stadt des Friedens. Leider wurden dieses Engagement und diese Tradition untergraben, seit die Schweiz Ende Februar 2022 beschlossen hat, mit ihrer Tradition der Neutralität zu brechen und sich der Nato anzunähern.

Wenn man den Anspruch hat, Frieden und Dialog zu fördern und nicht in die Schwarz-Weiss-Falle zu tappen, die von den herrschenden Eliten Europas und Nordamerikas gestellt wird, sollte man sich ungeachtet der jeweiligen Verantwortung darum bemühen, die Freundschaft zwischen den Völkern und damit auch zu Russland, seinem Volk und seiner Kultur zu pflegen und zu entwickeln, insbesondere in einer Zeit, in der diese auf der europäischen Bühne und in der westlichen Welt stark verunglimpft werden.

Es geht um die Verteidigung der Zivilisation, der Werte, einer hohen Vorstellung von der menschlichen Kultur, der Achtung der Würde und Integrität des Menschen, des Geistes und der Spiritualität – alles Dinge, die durch den Kult des Geldes, des unmittelbaren Profits, des Individuums als König, des Individuums als Ware, das als das Mass aller Dinge angesehen wird, stark gefährdet sind. Und schliesslich geht es darum, eine neue Weltordnung zu fördern und zu verteidigen, die gerechter, fairer, demokratischer und respektvoller gegenüber den verschiedenen Zivilisationen ist, aus denen sie sich zusammensetzt. In unserem Verständnis gibt es nicht eine herrschende Zivilisation und beherrschte Zivilisationen, eine Hegemonialmacht und Vasallenmächte, überlegene Nationen und unterlegene Nationen. Alle Menschen und Zivilisationen sind gleich an Würde.

In diesem Zusammenhang möchte ich, wenn Sie erlauben, die folgenden Punkte näher erläutern.

Im Juli traf sich die Shanghai Cooperation Organization in Indien und beschloss, den Iran und Weissrussland aufzunehmen. Ende August endete das BRICS-Treffen in Johannesburg mit der Entscheidung, die Gruppe der fünf Gründungsmitglieder um sechs neue Länder auf elf Mitglieder zu erweitern. Anfang September endete das G20-Treffen in Neu Delhi mit einer gemeinsamen Erklärung, die den Standpunkt der südlichen Länder stärkte und sich weigerte, Russland zu verurteilen, wie es die westlichen Länder gefordert hatten. Im Oktober wird in Peking ein grosses Gipfeltreffen der Initiative Neue Seidenstrassen stattfinden (BRI-Forum), an dem Dutzende von Ländern und Staatschefs teilnehmen werden.

Natürlich hätte man sich mehr wünschen können, ein schnelleres Wachstum, eine aktivere Entdollarisierung, eine schärfere politische Vision und einen noch ehrgeizigeren Zeitplan für den Aufbau einer ausgewogeneren Weltordnung. Aber wie diese verschiedenen Treffen zeigen, sind die Fortschritte deutlich und es ist besser, langsam aber sicher voranzukommen, als grosse Reden zu schwingen, die keine Wirkung zeigen.

Denn machen wir uns nichts vor, der Westen wird nicht tatenlos zusehen und alles in seiner Macht stehende tun, um den Aufbau einer wirklich multipolaren Welt zu torpedieren, indem er versucht, zu teilen und zu herrschen, wie er es bisher so gut konnte. In der Geschichte der Menschheit hat es noch nie eine dominante oder hegemoniale Macht gegeben, die ihre Macht aus reiner Nächstenliebe kampflos geteilt hat.

Daher glaube ich, dass es für die Befürworter einer multipolaren Weltordnung von entscheidender Bedeutung ist, die wirtschaftliche und politische Integration der Länder Asiens und des Südens einerseits und die Attraktivität dieses Prozesses andererseits zu verbessern.

Im Bereich der Soft Power ist der Westen nach wie vor unschlagbar. Er beherrscht sowohl die Inhalte als auch die Netzwerke und Kommunikationsmedien, die dafür sorgen, dass sein Narrativ ein grösseres Publikum findet als das der anderen Länder der Welt. Er ist versiert in den Techniken der Propaganda und der Verbreitung seiner Botschaft. Er hat auch den Vorteil, dass er mit einer Stimme spricht, von Japan bis Kanada, von Australien bis zu den USA und natürlich auch in Europa.

Diese Einheit ist seine Stärke, denn kein BRICS-Mitglied, so mächtig es auch sein mag, ist allein in der Lage, dem Westen auf der internationalen Bühne und in den wichtigen Organisationen Konkurrenz zu machen.

Wenn der globale Süden hingegen vereint ist und auf ein gemeinsames Ziel hinarbeitet, nämlich die globale Ordnungspolitik zu reformieren, eine gerechtere Weltordnung zu schaffen und den Wohlstand besser zu verteilen, ist seine Überzeugungs- und Anziehungskraft stärker als die des Westens. Das hat man an der Fähigkeit der BRICS-Staaten gesehen, neue Mitglieder zu gewinnen, während die G7-Staaten sich auf ihre Errungenschaften und ihren eigenen Besitzstand zurückziehen.

Wenn wir die Soft Power der multipolaren Ordnung verbessern wollen, ist es daher entscheidend, sich von den Partikularinteressen, den nationalen Visionen, die dem einen oder anderen Mitglied eigen sind, zu lösen und an dem zu arbeiten, was verbindet, gemeinsame Ziele zu definieren, ausgehend von den Werten und Prinzipien der Fairness, des gegenseitigen Respekts, der Machtteilung und der Gleichheit der Zivilisationen, die der multipolaren Weltanschauung zugrunde liegen.

In diesem Sinne haben wir zusammen mit einigen Freunden Diplomaten, akademischen Experten und anderen Sympathisanten der multipolaren Sache aus Russland und befreundeten Ländern vorgeschlagen, in Genf ein «Multipolar Institute», einen Think Tank für Multipolarität, zu gründen. Damit soll das Konzept der Multipolarität und das multipolare Denken innerhalb der internationalen Organisationen und NGOs, die den Multilateralismus verteidigen und die internationale Gemeinschaft vertreten wollen, stimuliert und verbreitet werden.

Auf diplomatischer Ebene gibt es bereits eine Vereinigung der «Freunde für die Verteidigung der Charta der Vereinten Nationen», der 22 Länder angehören und die derzeit vom Botschafter Venezuelas geleitet wird. Deren Ziel es ist, einen echten Multilateralismus zu fördern, der jede der Nationen, aus denen die Vereinten Nationen bestehen, respektiert. Der Boden ist also günstig für die Schaffung einer aktiveren Reflexionsstruktur, die in der Lage ist, Ideen und konkrete Vorschläge zu unterbreiten, um gemeinsam die multipolare Sache voranzubringen.

*  Guy Mettan (1956) ist Politologe, freischaffender Journalist und Buchautor. Seine journalistische Karriere begann er 1980 bei der «Tribune de Genève» und war von 1992 bis 1998 deren Direktor und Chefredaktor. Von 1997 bis 2020 war er Direktor des «Club Suisse de la Presse» in Genf. Guy Mettan ist seit 20 Jahren Mitglied des Genfer Kantonsparlaments.

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