Nato expandiert in die Indopazifik-Region – ohne Rechtsgrundlage und gesunden Menschenverstand
von Jan Oberg,* Schweden
(15. November 2024) Südkorea, Japan, Australien und Neuseeland haben für den 24. Oktober 2024 ihre Verteidigungsminister zu einem Nato-Treffen in Brüssel entsandt. Während ihre Staatsoberhäupter und andere bereits in den Jahren zuvor teilgenommen hatten, waren die Verteidigungsminister dieser Länder zum ersten Mal dabei.
Diese eher militärisch-operative Teilnahme signalisiert, dass es die Nato mit ihrer Expansion in diese Region ernst meint. Aus politisch-psychologischer Sicht zeigt dies auch, dass die Expansion um der Expansion willen zur Daseinsberechtigung des einst defensiven Bündnisses geworden ist. Die Nato hat seit der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts vor etwa 35 Jahren nach einem solchen Existenzgrund gesucht, und logischerweise hätte sie auch aufgelöst werden müssen.
Die Erweiterung verstösst gegen den Nato-Vertrag von 1949. Dieser Vertrag ist eine Kopie der UN-Charta, verweist Streitigkeiten an die UN und besagt (Art. 5), dass die Mitglieder des Bündnisses verpflichtet sind, jedes Mitglied zu unterstützen, sollte es von aussen angegriffen werden.
Heute hat die Nato 32 Mitglieder, aber – schrittweise und praktisch ohne internationale Aufmerksamkeit – hat sie weltweit 38 Partnerländer hinzugefügt, darunter die vier oben genannten [und die Schweiz, siehe Kasten, CH-S].
Die Kategorie «Partner» existiert im Nato-Vertrag nicht – ebenso wenig wie Atomwaffen und deren Erstanwendung, Interventionen oder Bombardierungen in Nichtmitgliedstaaten wie Jugoslawien zu damaliger Zeit, Kosovo, Libyen, Ukraine usw. Diese Aktivitäten haben keine Rechtsgrundlage im Nato-Vertrag; es handelt sich um Einsätze ausserhalb des Vertragsgebiets und ausserhalb des Vertrags.
Es stellt sich eine Frage, die sowohl den gesunden Menschenverstand als auch die Rechtslage betrifft: Wie weit kann eine Organisation von ihrer Rechtsgrundlage abweichen, ohne dass sie auf mögliches rechtswidriges Verhalten untersucht wird – und welche Institution ist befugt, eine Untersuchung durchzuführen?
Auf ihrer Homepage begründet die Nato ihre schleichende Expansion wie folgt: «Um (ihr) gegenseitiges Situationsbewusstsein für sicherheitspolitische Entwicklungen in den euro-atlantischen und indopazifischen Regionen zu verbessern, einschliesslich des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine, der erklärten Ambitionen und der Zwangspolitik der Volksrepublik China (VRC) in verschiedenen Bereichen, der Vertiefung der strategischen Partnerschaft zwischen der VRC und Russland und der Sicherheitslage auf der koreanischen Halbinsel ...». «Das Partnerschaftsnetzwerk stärkt die Sicherheit ausserhalb des Nato-Territoriums, was die Nato selbst sicherer macht.»
Leider enthält die Homepage der Nato keine rationale, empirisch fundierte, mehrdimensionale Analyse, die belegt, dass China eine Bedrohung oder «Herausforderung» für die Nato-Mitglieder darstellt. Die Allianz stützt sich heute auf Postulate und veraltetes Denken in Bezug auf offensive Abschreckung und Verteidigung. China ist ein Problem, weil es andere Werte und Interessen hat. Es klingt zunehmend wie Predigten vor einer Kirchengemeinde.
Laut einem Bericht des US-amerikanischen Congressional Research Service vom Juni 2023 über die US-Infrastruktur im Indo-Pazifik «unterhalten und nutzen die Vereinigten Staaten mindestens 66 bedeutende Verteidigungsstandorte, die über die gesamte Region verteilt sind.» (China hat weltweit nur eine Militärbasis in Dschibuti). Darüber hinaus sind die Kosten für die ständige – zunehmende – Marinepräsenz des Westens und die enormen Kosten für AUKUS, die trilaterale Partnerschaft zwischen Australien, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten, gestiegen.
Bei AUKUS-Säule 1 geht es darum, dass Australien atomgetriebene Angriffs-U-Boote erwirbt und solche U-Boote aus den USA und Grossbritannien beherbergt. Bei Säule 2 geht es um eine intensivere Zusammenarbeit in den folgenden High-Tech-Bereichen: Unterwasserfähigkeiten, Quantentechnologien, KI und Autonomie, fortgeschrittene Cyber-, Hyperschall- und Gegenhyperschallfähigkeiten und elektronische Kriegsführung.
«Schweizer Rüstungschef nimmt an Konferenz der nationalen Rüstungs-direktorinnen und -direktoren der Nato teil»1
(CH-S) Was hatte der Schweizer Rüstungschef Urs Loher am Brüsseler Nato-Treffen vom 24. Oktober 2024 zu suchen, in dem unter anderem die Ausweitung der Nato in den Indo-Pazifik zur Diskussion stand? Tatsache ist, dass unser Land mit aktuell 37 weiteren Nato-«Partner»ländern aus aller Welt bereits seit vielen Jahren an solchen Treffen teilnimmt.2
Die Medienmitteilung des Bundes zu diesem Treffen lässt keinen Zweifel daran, dass die Schweiz nicht «nur» im Rahmen der sogenannten «Partnerschaft für den Frieden» (PfP) seit 1996 in Nato-Aktivitäten eingebunden ist, sondern auch mit Vertretern der Europäischen Union, der Europäischen Verteidigungsagentur und dem Generaldirektorat für Verteidigungsindustrie und Weltraum zusammenarbeitet. – Ein weiterer Beleg für den forcierten Abbau der schweizerischen Neutralität, dem mit der Unterstützung der Eidgenössischen Volksinitiative «Wahrung der schweizerischen Neutralität» entgegengewirkt werden muss.
1 https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-102894.html
2 https://www.nato.int/cps/en/natohq/topics_52129.htm
Aber die Kosten für die Aufrechterhaltung eines weltweiten militaristischen Imperiums sind unvorstellbar hoch und selbstzerstörerisch:
Die Militärausgaben der USA belaufen sich auf 916 Milliarden US-Dollar (viele Posten sind nicht im Pentagon-Budget enthalten) das entspricht 3,4% des Bruttoinlandprodukts (BIP). Das ist in etwa so viel wie die nächsten 9 Länder zusammen:
China
296 Milliarden US-Dollar sind 1,7% des BIP;
Russland
130 Milliarden US-Dollar sind 6,3% des BIP;
Indien
84 Milliarden US-Dollar sind 2,4% des BIP;
Saudi-Arabien
76 Milliarden US-Dollar sind 7,1% des BIP,
Grossbritannien
75 Milliarden US-Dollar sind 2,3% des BIP;
Deutschland
67 Milliarden US-Dollar sind 1,5% des BIP;
Ukraine
65 Milliarden US-Dollar sind 37% des BIP;
Frankreich
61 Milliarden US-Dollar sind 2,1% des BIP und
Japan
50 Milliarden US-Dollar sind 1,2% des BIP;
(Alle Angaben laut SIPRI,
Stockholm International Peace Research Institute)
Angesichts dieser Fakten und der Tatsache, dass es die USA sind, die Spannungen gegen China aufbauen, und nicht umgekehrt – niemand bedroht den Westen! – ist es unmöglich, einen empirisch fundierten Grund für die Behauptung der USA/Nato zu finden, dass China eine Bedrohung oder «Herausforderung» darstellt. Es scheint eher pathologisch zu sein – eine psychopolitische Paranoia, die aus a) dem unbewussten, aber geleugneten Gefühl des relativen Niedergangs und b) dem ständigen Bedürfnis nach Feinden erwächst, um die Existenz des MIMAC (Militärisch-Industriell-Medial-Akademischer Komplex) zu legitimieren, der sich ausserhalb der demokratischen Kontrolle befindet und der die USA ausmacht.
Makrohistorische Studien über den Niedergang von Imperien weisen auf Ursachen wie Übermilitarisierung, schwindende Legitimität in den Augen anderer, Niedergang in allen anderen Machtdimensionen ausser der militärischen und – von besonderer Bedeutung – Überdehnung hin: Das Imperium wächst über die Grenzen der Verwaltung/Kontrolle hinaus, während die wirtschaftliche Tragfähigkeit abnimmt.
Da die USA/Nato in der Ukraine (und in allen Kriegen seit Vietnam) bereits in mehr als einer Hinsicht verloren haben, könnten die USA sich entscheiden, das Land (den Europäern) zu überlassen und sich in einen weiteren sinnlosen Krieg im Nahen Osten zu verwickeln – und anschliessend versuchen, sich auf Taiwan/China zu konzentrieren.
Aber bis dahin werden sich das Imperium und die Nato aufgelöst haben – wie ihr westlicher Bruder, die Sowjetunion – aufgrund selbstzerstörerischer, wahnhafter Politik und Emotionalität ohne Vision, rationale Aussenpolitik und Diplomatie. Das heisst: Überdehnung, Militarismus und Hybris.
Dann können wir hoffen, eine viel bessere, friedliche und kooperative Welt zu schaffen. Denken Sie daran, über dem Regenbogen ist der Himmel immer noch blau. So auch in der Indopazifik-Region.
* Jan Oberg, geboren 1951, ist dänischer Staatsbürger und lebt seit 1971 in Lund, Schweden. Er ist ein international anerkannter Friedensforscher, Mediator und Friedenskommentator sowie ein Kunstfotograf. Jan Oberg und seine Frau, Dr. Christina Spännar, sind die Gründer der Transnationalen Stiftung für Frieden mit friedlichen Mitteln (TFF). |
Quelle: https://transnational.live/2024/11/03/natos-indo-pacific-expansion-lacks-legality-and-common-sense/, 3. November 2024
(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)