Putin deutet militärische Optionen in der Ukraine an

M. K. Bhadrakumar (Bild zvg)

von M. K. Bhadrakumar*

(30. Dezember 2021) Das Moskauer Staatsfernsehen «Rossiya 1» hat heute die Jahrespressekonferenz von Präsident Wladimir Putin von Freitag [24/12/21] übertragen. Sie vermittelt ein viel umfassenderes Bild von der schweren Krise, die sich in den russisch-amerikanischen Beziehungen zusammenbraut, als es die Auszüge in den russischen Medien am Wochenende zu vermitteln versuchten.

Putin hat zum ersten Mal ausdrücklich davor gewarnt,1 dass er sich bei einer Weigerung der USA und der Nato, die von Moskau geforderten Sicherheitsgarantien zu geben, sich ausschliesslich «von den Vorschlägen leiten lassen wird, die unsere Militärexperten mir unterbreiten werden». Es ist klar, dass es keinen Spielraum mehr gibt.Dies ist alles andere als die Floskel des Weissen Hauses, dass «alle Optionen auf dem Tisch liegen», wenn Washington in Venezuela oder Syrien interveniert. Putin deutet an, dass, da es sich hier um Kernfragen der russischen Landesverteidigung handelt, militärische Erwägungen an erster Stelle stehen werden.

Der russische Präsident Wladimir Putin nimmt an einem
Kabinettstreffen über Videokonferenz ausserhalb Moskaus teil,
24. Dezember 2021. (Bild zvg)

Das heisst, Russland kann die Osterweiterung der Nato und die US-Missionen in der Ukraine und anderswo in Osteuropa oder die Schaffung antirussischer Staaten entlang seiner Grenzen nicht akzeptieren. Und Russland erwartet, «dass die diplomatischen Gespräche über die Dokumente zu einem rechtsverbindlichen Ergebnis führen».

Es überrascht nicht, dass Putin auch sagte, Russland werde versuchen, ein positives Ergebnis in den Gesprächen über Sicherheitsgarantien zu erreichen. Moskau fordert ein baldiges Treffen.2 Interessanterweise hat Kreml-Sprecher Dmitri Peskow betont,3 dass Moskau kein Treffen zwischen Wladimir Putin und Joe Biden anstrebt.

Die Wahrscheinlichkeit, dass die USA einer rechtsverbindlichen Sicherheitsgarantie für Russland zustimmen werden, ist gering. Es gibt Hindernisse auf dem Weg dorthin. Zunächst einmal hat Biden nicht das politische Kapital, um den Kongress auf einen versöhnlichen Weg zur Normalisierung mit Russland zu bringen. Auch unter den europäischen Verbündeten der USA ist ein Konsens in der heiklen Frage der Nato-Erweiterung nur schwer zu erreichen – falls Washington für die Forderungen Russlands empfänglich ist (was nicht der Fall ist).

Das russische Aussenministerium warnte gestern,4 dass nicht nur die Ukraine und Georgien, sondern auch eine mögliche Aufnahme Schwedens und Finnlands in die Nato «schwerwiegende» militärische und politische Konsequenzen haben werden, die Moskau nicht unbeantwortet lassen wird. Einfach ausgedrückt: Russland erwartet von den USA und ihren Verbündeten, dass sie die 1990 gegenüber Michail Gorbatschow gegebene Zusicherung einhalten, die Nato werde sich nicht «einen Zentimeter» weiter ausdehnen. (Das vom Kreml finanzierte RT veröffentlichte am Samstag die entsprechenden freigegebenen Dokumente).5

Der Kern der Sache ist jedoch, dass der Rückzug der Nato aus der Ukraine so kurz nach dem Debakel in Afghanistan, ihre Glaubwürdigkeit irreparabel beschädigen wird. In der Tat könnte die Nato zerfallen, wenn sie nicht mehr expandiert. Wenn sich die Nato nicht auf einen «Feind» konzentrieren kann, verliert sie ihren Halt und hat keine Existenzberechtigung mehr. Das transatlantische System gerät aus den Fugen, wenn die Nato ins Trudeln gerät. Und die Nato ist nun einmal der Anker für die globalen Strategien der USA. So einfach ist das.

Was die Ukraine betrifft, so hat der Westen den Mund zu voll genommen, als die CIA 2014 in Kiew einen Staatsstreich inszenierte, um die gewählte Regierung von Präsident Viktor Janukowitsch zu stürzen und sie durch eine US-freundliche Regierung zu ersetzen. Die Agenda des Regimewechsels wurde vorangetrieben, ohne wirklich zu verstehen, dass die heutige Ukraine ein Land, aber keine Nation ist.

Die Ukraine war eine Schöpfung von Josef Stalin. In einem brillanten Essay von letzter Woche mit dem Titel «Ukraine: Tragedy of a Nation Divided»6 [Ukraine: Tragödie einer geteilten Nation] warnte Jack Matlock, früherer US-Botschafter in Moskau, der als Vertrauter von Ronald Reagan und Gorbatschow bei den Verhandlungen über das Ende des Kalten Krieges eine entscheidende Rolle spielte, dass die Ukraine ohne Russlands Hilfe keine Zukunft hat.

Andererseits hegen der «Tiefe Staat» in den USA und grosse Teile des aussen- und sicherheitspolitischen Establishments im «Beltway» [in der US-Bundeshauptstadt Washington, D.C.] die Fantasie, dass die CIA Russland in einen ukrainischen Sumpf verwickeln könne. Letzte Woche drohte David Ignatius in der Washington Post Moskau in einer Kolumne7 mit einem ausgewachsenen, von den USA unterstützten Guerillakrieg, sollte die Regierung es wagen, in der Ukraine militärisch zu intervenieren. Matlocks Aufsatz wird für diese Tagträumer wie eine kalte Dusche wirken.

Das Hauptproblem ist, dass Biden persönlich in der Klemme steckt. Biden hat bei dem Projekt des Regimewechsels in der Ukraine selbst Hand angelegt. Ob Präsident Obama den schmutzigen Job an Biden delegiert hat oder dieser ihn darum gebeten hat, werden wir nie erfahren. Tatsache ist, dass Biden heute die Verantwortung für den Schlamassel in der Ukraine übernehmen muss, die sich in eine Kleptokratie, eine Bastion von Neonazis und einen Sündenpfuhl von Käuflichkeit und Verderbtheit verwandelt hat.

Ein falscher Schritt, und Europa wird einen Flüchtlingsstrom aus diesem Land (45 Millionen Einwohner) vor seiner Haustür haben, der Syrien im Vergleich als Sonntagsspaziergang wird erscheinen lassen – und das zu einer Zeit, in der das Gespenst Jugoslawiens auf dem Balkan herumspukt.8

Da Biden in der Vergangenheit ein glühender Verfechter von Obamas Eindämmungsstrategie gegen Russland war, wird es für ihn eine bittere Pille sein, wenn er der vom Schicksal auserwählte westliche Führer sein sollte, der für die nationale Sicherheit Russlands bürgt. Und das mit Wladimir Putin an der Spitze des Kremls, einem Staatschef, den Obama und Hillary Clinton zutiefst verabscheuten.

Biden selbst hat aus seiner Abneigung gegen den russischen Staatschef kaum je einen Hehl gemacht. Biden hat in sein aussenpolitisches Team Leute aufgenommen, die als Russenfeinde bekannt sind. Die amtierende Unterstaatssekretärin Victoria Nuland war 2014 persönlich in den Regimewechsel in Kiew involviert9 und ist heute für die Ukraine-Politik zuständig.

Die Protagonisten in Washington haben sich Illusionen gemacht. Im Grunde haben sie sich eingebildet, dass Russland eine im Niedergang begriffene Macht ist10 – ein gebrochenes, schmollendes, bockiges Land, das sich nach seiner Position als Supermacht zurücksehnt. Die düsteren Prophezeiungen des russischen Zusammenbruchs sind in letzter Zeit mit einiger Verspätung der zähneknirschenden Einsicht gewichen, dass Russland eine beständige Macht ist. Russlands Wiederaufstieg – mit seiner «soft and hard power», sowie seiner «smart power» – hat den Westen überrascht.

Die Aufrüstung der russischen Nuklear- und konventionellen Streitkräfte unter Putin hat zu erstaunlich beeindruckenden Ergebnissen geführt. Putin hat den Stolz der Nation wiederhergestellt – das «Erbe einer alten und dauerhaften Identität, geschmiedet in der Zeit Peters des Grossen und fortbestehend in der Sowjetära – als wichtiger Akteur auf der internationalen Bühne», um aus einem Kommentar von Andrew Latham, amerikanischer Professor für internationale Beziehungen, mit dem Titel «Reports of Russia's decline are greatly exaggerated» [Berichte über Russlands Niedergang sind stark übertrieben] zu zitieren.

Warum eine solche Krise zum jetzigen Zeitpunkt? Der springende Punkt ist, dass die USA beschlossen haben, dass sie zuerst Russland die Flügel stutzen müssen, bevor sie sich mit China anlegen. Obwohl es kein formelles Militärbündnis zwischen Moskau und Peking gibt, bietet Russland China «strategische Tiefe», einfach weil es eine Grossmacht ist, die eine unabhängige Aussenpolitik und eine alternative Vision zur so genannten «liberalen internationalen Ordnung» verfolgt und die Vorstellungen einer demokratisierten Weltordnung auf der Grundlage der UN-Charta und der Multipolarität teilt. Die Beziehungen zwischen Russland und China befinden sich heute auf dem höchsten Stand der Geschichte.

Der Pragmatismus der russischen Elite ist Legion. Die Amerikaner dachten offenbar, dass der Kreml irgendwie besänftigt werden kann. Putins Äusserungen müssen ein herber Schock gewesen sein. Der Punkt ist, dass Russlands maximalistische Forderungen und seine minimalistische Haltung ein und dasselbe sind. Das lässt selbst einem versierten Politiker wie Biden keinen Spielraum für Mauscheleien.

«Wir können uns nirgendwohin zurückziehen», sagte Putin und fügte hinzu, dass die Nato in der Ukraine Raketen stationieren könnte, die Moskau in nur vier oder fünf Minuten erreichen würden. «Sie haben uns an eine Grenze gedrängt, die wir nicht überschreiten können. Sie haben es so weit gebracht, dass wir ihnen einfach sagen müssen: ‹Stopp!›»

* M. K. Bhadrakumar hat rund drei Jahrzehnte als Karrierediplomat im Dienst des indischen Aussenministeriums gewirkt. Er war unter anderem Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Pakistan, Iran und Afghanistan sowie in Südkorea, Sri Lanka, Deutschland und in der Türkei. Seine Texte beschäftigen sich hauptsächlich mit der indischen Aussenpolitik und Ereignissen im Mittleren Osten, in Eurasien, in Zentralasien, Südasien und im Pazifischen Asien. Sein Blog heisst «Indian Punchline».

Quelle: https://www.indianpunchline.com/putin-hints-at-military-options-in-ukraine/, 26. Dezember 2021

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://www.euronews.com/2021/12/26/putin-to-ponder-options-if-west-refuses-guarantees-on-ukraine

2 https://tass.com/russia/1380815

3 https://tass.com/russia/1380799

4 https://www.rt.com/russia/544413-nato-sweden-finland-russia/

5 https://www.rt.com/russia/544396-declassified-documents-us-nato-lie/

6 https://ccisf.org/ambassador-jack-matlock-ukraine-tragedy-of-a-nation-divided/

7 https://www.washingtonpost.com/opinions/2021/12/19/biden-ukraine-insurgents-russia

8 https://www.project-syndicate.org/commentary/balkan-eu-accession-standstill-has-dangerous-implications-by-carl-bildt-2021-08

9 https://www.bbc.com/news/world-europe-26079957

10 https://www.thechicagocouncil.org/commentary-and-analysis/blogs/russia-will-face-declining-influence-standing-among-great-powers

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