Russland und China haben eine gemeinsame Vision für Nordkorea

M. K. Bhadrakumar
(Bild zvg)

von M. K. Bhadrakumar,* Indien

(12. September 2023) Der dreitägige Staatsbesuch des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu vom 25. bis 27. Juli in Pjöngjang, der von einer Militärdelegation begleitet wird, war der erste hochrangige Besuch Moskaus in der postsowjetischen Ära.

Schoigus Treffen mit dem nordkoreanischen Staatschef Kim Jong Un am 26. Juli hebt das, was als freundliche Geste des Kremls zum 70. Jahrestag des Waffenstillstands, der zur Einstellung der Feindseligkeiten im Koreakrieg führte, durchgegangen wäre, in eine ganz andere Dimension.

Der nordkoreanische Staatschef Kim Jong Un (R) und der russische Verteidigungs-
minister Sergej Schoigu in einem Ausstellungspavillon mit Nordkoreas neuester
dreistufiger Feststoffrakete Hwasong-18, Pjöngjang, 26. Juli 2023 (Bild zvg)

Auf der offensichtlichsten Ebene reisst er ein Loch in den eisernen Vorhang der Sanktionen, den die USA um Nordkorea herum errichtet haben. Schoigus Besuch, der mit dem Afrika-Gipfel in St. Petersburg unter dem Vorsitz von Präsident Wladimir Putin zusammenfällt, ist jedoch auch als Teil der Botschaft Russlands zu verstehen, dass Nord Korea mit einem Paukenschlag ins Zentrum der Weltpolitik zurückgekehrt ist.

Das i-Tüpfelchen war die Führung im nordkoreanischen Arsenal der atomwaffenfähigen Raketen, einschliesslich der neuesten ballistischen Rakete Hwasong-18, die Kim persönlich der russischen Militärdelegation vorstellte.

Die Nordkoreanische Nachrichtenagentur [NKNA] berichtete, dass Sergey Schoigu Kim Jong Un einen handgeschriebenen Brief von Putin überreicht hat. Die Agentur berichtet: «In Erinnerung an die Geschichte der tief verwurzelten Freundschaft zwischen der Demokratischen Volksrepublik Korea (DVRK) und Russland tauschten sie während des Gesprächs Einschätzungen und Meinungen zu Fragen von beiderseitigem Interesse im Bereich der nationalen Verteidigung und Sicherheit sowie zum regionalen und internationalen Sicherheitsumfeld aus und gelangten zu einer übereinstimmenden Auffassung …». [Hervorhebungen des Autors]

Ausbau der strategischen und traditionellen Beziehungen zwischen der DVRK und Russland

«Das Treffen zwischen Kim Jong Un und Sergej Schoigu zu einem entscheidenden Zeitpunkt ist eine wichtige Gelegenheit, um die strategischen und traditionellen Beziehungen zwischen der DVRK und Russland entsprechend den Erfordernissen des neuen Jahrhunderts weiterzuentwickeln und die strategische und taktische Zusammenarbeit und Kooperation zwischen den beiden Ländern im Bereich der nationalen Verteidigung und Sicherheit weiter zu vertiefen, um dem sich ständig verändernden regionalen und internationalen Sicherheitsumfeld gerecht zu werden.» [Hervorhebungen des Autors]

Das russische Verteidigungsministerium erklärte, der Besuch Schoigus werde «zur Stärkung der bilateralen militärischen Beziehungen beitragen und eine wichtige Etappe in der Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern markieren.»

Der Akzent in der nordkoreanischen Verlautbarung liegt eindeutig auf Verteidigungs- und Sicherheitsbelangen, wobei auf das unbeständige Umfeld im Fernen Osten und insbesondere auf die «strategische und taktische Zusammenarbeit und Kooperation» hingewiesen wird. Moskau wies westliche Berichte über eine militärische Zusammenarbeit mit Nordkorea zurück. Möglicherweise wird eine neue Seite aufgeschlagen.

Schoigus Besuch fand zeitgleich mit dem Besuch des stellvertretenden Vorsitzenden des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses Chinas, Li Hongzhong, statt, der signalisierte, dass Russland und China Nordkorea «nahestehen» – um einen Kommentar der «Global Times» aufzugreifen1 – als Reaktion auf die Biden-Administration, die die Vertiefung einer trilateralen Allianz zwischen Washington, Tokio und Seoul vorwärts treibt.Washington nutzt den politischen Wandel in Südkorea mit der Wahl des prowestlichen südkoreanischen Präsidenten Yoon Suk-Yeol im Mai letzten Jahres, der den eigenständigen aussenpolitischen Kurs seines Vorgängers Moon Jae-In gegenüber Moskau und Peking umkehrte und die Bemühungen um eine Entspannung mit Pjöngjang gänzlich aufgab.

US-Strategie im Fernen Osten

Das Vorgehen der USA im Fernen Osten ist vergleichbar mit ihrer Strategie im Nahen Osten, wo sie ebenfalls eine Iranophobie schürten und jeden regionalen Sicherheitsprozess blockierten, was dazu beitrug, ihre militärische Präsenz in der Region auszubauen und massive Waffenexporte zu fördern. Der Hauptunterschied liegt in der Ausrichtung der Fernost-Strategie Washingtons, die darauf abzielt, China und Russland einzudämmen.

Es steht ausser Frage, dass die USA die Lage in Asien verschärfen. Sie provozieren Pjöngjang und unterminieren die Situation auf der koreanischen Halbinsel, um sie in einen Zustand anhaltender Unruhe zu versetzen, der jederzeit reaktiviert werden kann. Die jüngsten Besuche zweier US-amerikanischer Atom-U-Boote bei den südkoreanischen Marinestützpunkten im Juli sind ein typisches Beispiel dafür.

In jüngster Zeit steht die eingefrorene Konfrontation zwischen den beiden Korea aufgrund der sich vertiefenden militärischen Zusammenarbeit zwischen Washington und Seoul ständig vor einer Eskalation. Ein entscheidender Moment war im April die Unterzeichnung der Washingtoner Erklärung2 zur Abschreckung Nordkoreas durch Biden und Yoon, die die Einrichtung einer Beratungsgruppe für Nuklearfragen, die häufigere Präsenz amerikanischer strategischer Waffen und die Besuche von Atom-U-Booten in Südkorea vorsieht.

Allerdings hat die Verschärfung der Situation seitens Washingtons eine scharfe Reaktion Pjöngjangs hervorgerufen, und es bildet sich ein Teufelskreis, da auf amerikanischer Seite keinerlei Interesse an einer erneuten Annäherung an Pjöngjang besteht. Unter dem Vorwand, Südkorea zu unterstützen, eskalieren die Amerikaner die Situation.

Im Klartext bedeutet dies, dass die USA in der Lage sind, der chinesisch-russischen Achse in der asiatisch-pazifischen Region entgegenzuwirken. Die Zeitung «Iswestija» berichtete letzte Woche3 [24. Juli] unter Berufung auf Quellen im Moskauer Verteidigungsministerium, dass eine Verstärkung des Einsatzes im Fernen Osten in Erwägung gezogen wird und dass dazu auch die Stationierung des strategischen Raketenträgers Tu-160 «Weisser Schwan» in der Amur-Region gehören könnte – ein strategischer Mehrzweck-Überschallbomber mit variabler Flügelgeometrie, der mit einer Geschwindigkeit von bis zu 2000 km/h tief in gegnerischem Gebiet zuschlagen kann.

Der Militärexperte Juri Ljamin erklärte gegenüber der «Iswestija»: «Besondere Aufmerksamkeit sollte man Japan widmen, mit dem wir [Russland] immer noch territoriale Streitigkeiten über die südlichen Kurilen haben. In letzter Zeit hat dieses Land [Japan] seine Militärausgaben erhöht und plant auch die Entwicklung von Schockwaffensystemen. Daher ist es notwendig, unsere Abschreckungskräfte zu stärken, um die Bedrohung aus dieser Richtung zu neutralisieren».

Die wirtschaftliche Bedeutung der arktische Schifffahrtsroute

Die Geopolitik des Fernen Ostens hat jedoch noch andere Dimensionen. Die wirtschaftliche Bedeutung der arktischen Schifffahrtsroute steht im Rampenlicht – «ein wichtiger Bereich, in dem China und Russland Potenzial haben und ihre Zusammenarbeit verstärken sollten», schrieb «Global Times» diese Woche.

Russland testet derzeit die arktische Schifffahrtsroute mit einer Ladung Rohöl für China, die am 12. August in Rizhao in der ostchinesischen Provinz Shandong eintreffen soll. Diese Route könnte die Seestrecke zwischen Europa und Nordostasien um fast ein Drittel verkürzen, verglichen mit der Suez-Route, über die derzeit der Grossteil der russischen Ölexporte nach China und Indien läuft.

Zweifellos schürt der Klimawandel das Interesse an der arktischen Schifffahrt. Doch damit wird auch eine neue Phase des globalen Machtwettbewerbs eingeläutet, bei dem es sowohl um politische als auch um wirtschaftliche Interessen im Handel zwischen Asien und Europa geht. Die strategische Bedeutung ist tiefgreifend, da die Nordroute im Gegensatz zur Strasse von Malakka nicht unter amerikanischer Kontrolle steht.

Die «Global Times» schrieb:4 «Aus geopolitischer Sicht ist eine frühzeitige Planung und Vorsorge in Bezug auf die Diversifizierung der Schifffahrtsrouten für Chinas Wirtschafts- und Handelssicherheit von grösster Bedeutung. Daher muss China im Interesse seiner langfristigen strategischen Interessen mit Russland bei der Entwicklung neuer Schifffahrtsrouten in der Arktis zusammenarbeiten.»

Dabei ist zu beachten, dass die Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen der chinesischen und der russischen Marine – insbesondere gemeinsame Patrouillenfahrten usw.5 – die Geopolitik des Fernen Ostens und des Westpazifiks grundlegend verändern.

Der Hafen von Rajin – eine neue «Logistikdrehscheibe»?

Wie kommt nun Nordkorea ins Spiel? Ganz einfach: Der Hafen Rajin an der Nordostküste Nordkoreas ist der nördlichste eisfreie Hafen Asiens.

Rajin könnte zu einer «Logistikdrehscheibe» werden, wenn es an die Transsibirische Eisenbahn angeschlossen wird. Es gibt bereits eine Eisenbahnverbindung zwischen Russland und Nordkorea, die über den Tumen-Fluss zum Hafen von Rajin führt (gemäss einem 2008 unterzeichneten Abkommen zwischen den Eisenbahnen der beiden Länder).

Eine Sonderwirtschaftszone in Ranjin fügt sich einerseits in das arktische Schifffahrtsnetz ein und gehört andererseits genau zu der Gruppe von Häfen in Nordostasien, die von Schiffen auf der nördlichen Seeroute angelaufen oder verlassen werden könnten, von denen drei – Busan, Qingdao und Tianjin – auch zu den zehn verkehrsreichsten Containerhäfen der Welt gehören.

Die Absicht der USA, die Spannungen im Zusammenhang mit Nordkorea hoch zu halten, liegt auf der Hand. Um Rajin wirklich zu einer Logistikdrehscheibe zu machen, müssten sich die politischen Verhältnisse auf der koreanischen Halbinsel wahrscheinlich massiv ändern.

Schoigus wegweisender Besuch in Pjöngjang hat ein viel bedeutenderes Ziel, nämlich Nordkorea in die eurasische Geowirtschaft zu integrieren. Es als Nullsummenspiel zu betrachten, würde Russlands intellektuellen Ressourcen, die Zukunft mit einer langfristigen Vision zu planen, nicht gerecht. Seien Sie nicht überrascht, wenn Schoigus Gespräche in Pjöngjang bei Putins bevorstehendem Besuch in China im Oktober eine Rolle spielen werden, bei dem die Belt and Road Initiative im Mittelpunkt steht.6

*  M. K. Bhadrakumar hat rund drei Jahrzehnte als Karrierediplomat im Dienst des indischen Aussenministeriums gewirkt. Er war unter anderem Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Pakistan, Iran und Afghanistan sowie in Südkorea, Sri Lanka, Deutschland und in der Türkei. Seine Texte beschäftigen sich hauptsächlich mit der indischen Aussenpolitik und Ereignissen im Mittleren Osten, in Eurasien, in Zentralasien, Südasien und im Pazifischen Asien. Sein Blog heisst «Indian Punchline».

Quelle: https://www.indianpunchline.com/russia-china-have-a-shared-vision-for-north-korea/, 28. Juli 2023

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://www.globaltimes.cn/page/202307/1295051.shtml

2 https://www.whitehouse.gov/briefing-room/statements-releases/2023/04/26/washington-declaration-2/

3 https://iz.ru/1548425/aleksei-ramm-roman-kretcul-iuliia-leonova/lebedinaia-staia-tikhii-okean-prikroiut-strategicheskie-tu-160

4 https://www.globaltimes.cn/page/202307/1295042.shtml#:~:text=Cooperation%20between%20China%20and%20Russia,route%20has%20important%20strategic%20significance.

5 https://www.globaltimes.cn/page/202307/1295074.shtml

6 https://www.globaltimes.cn/page/202307/1295102.shtml

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