Russlands Hommage an die Nord Stream-Pipelines

M. K. Bhadrakumar (Bild zvg)

von M. K. Bhadrakumar,* Indien

(7. November 2022) David Brinkley, der legendäre amerikanische Nachrichtensprecher, dessen Karriere sich seit dem Zweiten Weltkrieg über erstaunliche 54 Jahre erstreckte, sagte einmal, dass ein erfolgreicher Mann derjenige sei, der mit den Ziegeln, die andere auf ihn geworfen haben, ein festes Fundament legen kann. Wie viele amerikanische Staatsmänner diesen edlen, von Jesus Christus geerbten Gedanken jemals praktiziert haben, bleibt zweifelhaft.

Der verblüffende Vorschlag des russischen Präsidenten Wladimir Putin an den türkischen Präsidenten Recep Erdogan, eine Gaspipeline in die Türkei zu bauen, um einen internationalen Knotenpunkt zu schaffen, von dem aus russisches Gas nach Europa geliefert werden kann, erweckt genau diesen «gandhistischen» Gedanken zu neuem Leben.

Putin erörterte diese Idee mit Erdogan bei ihrem Treffen in Astana am 13. Oktober und sprach darüber auf dem Forum der Russischen Energiewoche in der vergangenen Woche, wo er vorschlug, in der Türkei den grössten Gasknotenpunkt Europas zu schaffen und die Gasmengen, deren Durchleitung durch Nord Stream nicht mehr möglich ist, zu diesem Knotenpunkt umzuleiten.

Putin sagte, dies könne den Bau eines weiteren Gaspipelinesystems bedeuten, um den Knotenpunkt in der Türkei zu versorgen, durch das Gas an Drittländer, vor allem europäische Länder, geliefert werden soll, «wenn sie daran interessiert sind».

Auf den ersten Blick erwartet Putin keine positive Reaktion aus Berlin auf sein bestehendes Angebot, den Strang der Nord Stream 2, der unbeschädigt geblieben ist, zu nutzen, um 27,5 Milliarden Kubikmeter Gas über die Wintermonate zu liefern. Die ohrenbetäubende Stille in Deutschland ist verständlich. Bundeskanzler Olaf Scholz fürchtet den Zorn von Präsident Biden.

Berlin sagt, es wisse, wer die Nord Stream-Pipelines sabotiert habe, wolle dies aber nicht preisgeben, da es die nationale Sicherheit Deutschlands betreffe! Auch Schweden beteuert, die Angelegenheit sei viel zu heikel, als dass es die gesammelten Beweise mit irgendeinem Land, einschliesslich Deutschland, teilen könnte! Biden hat diesen ängstlichen europäischen «Verbündeten» das Fürchten gelehrt, die nicht wissen, was gut für sie ist! Auch die westlichen Medien haben den Auftrag, die Nord Steam-Saga herunterzuspielen, damit sie mit der Zeit aus dem Gedächtnis der Öffentlichkeit verschwindet.

Russland hat jedoch seine Hausaufgaben gemacht: Europa kann nicht auf russisches Gas verzichten, ungeachtet der gegenwärtigen Prahlerei der Selbstverleugnung. Einfach ausgedrückt: Die europäischen Industrien sind auf billige, zuverlässige russische Lieferungen angewiesen, um auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig zu bleiben.

Der katarische Energieminister Saad al-Kaabi sagte letzte Woche, er könne sich keine Zukunft vorstellen, in der «kein russisches Gas» nach Europa fliesst. Er merkte bissig an: «Wenn das der Fall ist, dann denke ich, dass das Problem sehr gross sein wird, und zwar für eine sehr lange Zeit. Man hat einfach nicht genug Volumen, um dieses (russische) Gas langfristig zu ersetzen, es sei denn, man sagt: ‹Ich werde riesige Atomkraftwerke bauen, ich werde Kohle zulassen, ich werde Heizöl verbrennen›.»

Im Grunde genommen plant Russland, sein Gasdrehkreuz in Haidach in Österreich zu ersetzen (das im Juli von den Österreichern beschlagnahmt wurde). Das Drehkreuz in der Türkei hat einen fertigen Markt in Südeuropa, einschliesslich Griechenland und Italien. Aber es steckt mehr dahinter, als man auf den ersten Blick sieht.

Kurz gesagt, Putin hat einen strategischen Schachzug in der Geopolitik des Erdgases gemacht. Seine Initiative macht die hirnrissige Idee der russophoben Bürokraten der Europäischen Kommission in Brüssel unter der Leitung von Ursula von der Leyen zunichte, eine Preisobergrenze für Gaskäufe einzuführen. Die Pläne der USA und der EU, das Profil Russlands als Gas-Supermacht abzuschwächen, werden damit ad absurdum geführt.

Der nächste Schritt für Russland sollte logischerweise darin bestehen, sich mit Katar, dem zweitgrössten Gasexporteur der Welt, zu verbünden. Katar ist auch ein enger Verbündeter der Türkei. Kürzlich traf Putin in Astana am Rande des Gipfels der Konferenz über Interaktion und vertrauensbildende Massnahmen in Asien (CICA) mit dem Emir von Katar, Scheich Tamim bin Hamad Al Thani, zu einem Gespräch unter Ausschluss der Öffentlichkeit zusammen.1 Sie kamen überein, bald ein weiteres Treffen in Russland abzuhalten.

Russland arbeitet mit dem Iran bereits im Rahmen einer Reihe gemeinsamer Projekte in der Öl- und Gasindustrie zusammen. Der stellvertretende russische Ministerpräsident Alexander Novak gab kürzlich Pläne bekannt,2 bis Ende des Jahres ein Öl- und Gasaustauschabkommen mit dem Iran abzuschliessen. Er sagte, dass «technische Details ausgearbeitet werden – Fragen des Transports, der Logistik, des Preises und der Tarifgestaltung».

Derzeit verfügen Russland, Katar und der Iran zusammen über mehr als die Hälfte der gesamten nachgewiesenen Gasreserven der Welt.3 Es ist an der Zeit, dass sie ihre Zusammenarbeit und Koordination nach dem Vorbild der OPEC+ intensivieren. Alle drei Länder sind im Forum der Erdgasexportierenden Länder (GECF) vertreten.

Putins Vorschlag appelliert an den langjährigen Traum der Türkei, eine Energiedrehscheibe vor den Toren Europas zu werden. Es überrascht nicht, dass Erdogan sich instinktiv für Putins Vorschlag erwärmte. In einer Rede vor den Mitgliedern der Regierungspartei im türkischen Parlament sagte Erdogan diese Woche:4 «In Europa beschäftigt man sich jetzt mit der Frage, wie man sich im kommenden Winter warmhalten kann. Wir haben ein solches Problem nicht. Wir haben mit Wladimir Putin vereinbart, in unserem Land einen Gasknotenpunkt zu schaffen, über den, wie er sagt, Erdgas nach Europa geliefert werden kann. Europa wird also Gas aus der Türkei bestellen.»

Neben der Stärkung der eigenen Energiesicherheit kann die Türkei auch einen Beitrag zu Europas Energiesicherheit leisten. Zweifellos wird die Bedeutung der Türkei im aussenpolitischen Kalkül der EU einen Quantensprung machen und gleichzeitig ihre strategische Autonomie in der Regionalpolitik stärken. Dies ist ein grosser Schritt nach vorn in Erdogans Geostrategie – der geografischen Ausrichtung der türkischen Aussenpolitik unter seiner Führung.

Aus russischer Sicht ist die strategische Autonomie der Türkei und ihr Wille, eine unabhängige Aussenpolitik zu betreiben, für Moskau unter den gegenwärtigen Bedingungen der westlichen Sanktionen natürlich von grossem Vorteil. Es ist denkbar, dass russische Unternehmen die Türkei als Produktionsstandort betrachten, an dem westliche Technologien zugänglich sind. Die Türkei hat ein Zollunionsabkommen mit der EU geschlossen, das die Zölle auf alle Industriegüter türkischen Ursprungs vollständig abschafft. (Siehe meinen Blog Russia-Turkey reset eases regional tensions,5 9. August 2022)

Geopolitisch gesehen ist Moskau mit der NATO-Mitgliedschaft der Türkei zufrieden. Das vorgeschlagene Gasdrehkreuz bringt der Türkei erhebliche zusätzliche Einnahmen und wird den Beziehungen zwischen Russland und der Türkei mehr Stabilität und Berechenbarkeit verleihen. In der Tat werden die strategischen Verbindungen zwischen den beiden Ländern immer enger – das ABM S-400-Abkommen, die Zusammenarbeit in Syrien, das Kernkraftwerk Akkuyu, die Gaspipeline Turk Stream, um nur einige zu nennen.

Die beiden Länder geben offen zu, dass sie Meinungsverschiedenheiten haben, aber die Art und Weise, wie Putin und Erdogan durch konstruktive Diplomatie widrige Umstände immer wieder in Gelegenheiten für eine «Win-Win»-Kooperation verwandeln, ist einfach erstaunlich.

Es erfordert Einfallsreichtum, die europäischen Verbündeten der USA dazu zu bringen, russisches Gas ohne Zwang oder Grobheit zu beziehen, selbst nachdem Washington die Nord-Stream-Gaspipelines in den Tiefen der Ostsee vergraben hat. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass eine Nato-Macht sich mit Russland in dieser Richtung verbündet.

Die aus Osteuropa stammende aussenpolitische Elite der USA ist sprachlos angesichts der schieren Raffinesse des russischen Einfallsreichtums, die schäbige Art und Weise zu umgehen, mit der die USA und ihre Verbündeten – insbesondere Deutschland und Schweden – Moskau die Tür vor der Nase zuschlugen, damit es sich die beschädigten, milliardenschweren Pipelines, die es in gutem Glauben auf Betreiben der beiden deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder und Angela Merkel in den Tiefen der Ostsee gebaut hatte, auch nur ansehen konnte.

Die derzeitige deutsche Führung unter Bundeskanzler Olaf Scholz sieht sehr dumm und feige aus – und provinziell. Ursula von der Leyen von der Europäischen Kommission erhält bei all dem eine gewaltige Abfuhr, die letztlich ihr tragisches Vermächtnis in Brüssel als Fahnenträgerin amerikanischer Interessen bestimmen wird. Dies wird wahrscheinlich die erste Fallstudie für Historiker darüber, wie Multipolarität in der Weltordnung funktionieren wird.

* M. K. Bhadrakumar hat rund drei Jahrzehnte als Karrierediplomat im Dienst des indischen Aussenministeriums gewirkt. Er war unter anderem Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Pakistan, Iran und Afghanistan sowie in Südkorea, Sri Lanka, Deutschland und in der Türkei. Seine Texte beschäftigen sich hauptsächlich mit der indischen Aussenpolitik und Ereignissen im Mittleren Osten, in Eurasien, in Zentralasien, Südasien und im Pazifischen Asien. Sein Blog heisst «Indian Punchline».

Quelle: https://www.indianpunchline.com/russias-homage-to-nord-stream-pipelines/, 22. Oktober 2022

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 http://en.kremlin.ru/events/president/news/69588

2 https://caspiannews.com/news-detail/russia-iran-plan-joint-energy-projects-oil-gas-swap-deal-2022-10-8-0/

3 https://www.worldometers.info/gas/gas-reserves-by-country/

4 https://tass.com/economy/1524701

5 https://www.indianpunchline.com/russia-turkey-reset-eases-regional-tensions/

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