Schlussfolgerungen aus dem Biden-Putin-Gipfel

M. K. Bhadrakumar (Bild zvg)

von M. K. Bhadrakumar*

(24. Juni 2021) Auf der diplomatischen Bühne sind russisch-amerikanische Gipfeltreffen an schierer Theatralik nicht zu überbieten. Wenn sich die Führer der beiden mächtigsten Atommächte der Welt gegenübersitzen, kann alles passieren.

Was 1985 geschah, ist ein klassisches Beispiel. Im Schatten von Ronald Reagans berühmter Charakterisierung der UdSSR als «Reich des Bösen» öffnete jener Gipfel in Genf mit dem sowjetischen Führer Michail Gorbatschow die Tür zum Weg, der den Kalten Krieg beendete.

Der Genfer Gipfel vom 16. Juni wurde dieser Tradition gerecht. Beide Präsidenten, Joe Biden und Wladimir Putin, waren sich einig, dass es ein produktives Treffen war – trotz der relativen Kürze.

Putin war für ihn typisch auf der einstündigen Pressekonferenz nach dem Gipfel offen, er sah ganz entspannt aus und lächelte. Er beantwortete eine Menge Fragen von amerikanischen und russischen Journalisten. Er sagte, es habe keine Feindseligkeit bei den Gesprächen gegeben, die in einem konstruktiven Geist verlaufen seien.

Allerdings wies Putin die Vorwürfe der USA zu Cyberangriffen und Menschenrechten kategorisch zurück. In Bezug auf die Ukraine und Weissrussland waren sich die beiden Präsidenten einig, nicht einer Meinung zu sein. Das wichtigste Ergebnis des Gipfels war die Wiederaufnahme des strategischen Dialogs und die Behandlung von Cyber-Problemen.

Möglicherweise hat Putin genug erreicht, um zu Hause einen politischen Sieg in Anspruch nehmen zu können. Moskauer Analysten werden davon ausgehen, dass Washington erkannt hat, dass es unmöglich ist, Russland zu isolieren, dass Russland wichtig und in gewisser Weise sogar unverzichtbar ist und dass die USA deshalb in Sachen strategischer Stabilität und wahrscheinlich sogar in Sachen Cybersicherheit wieder auf Kurs kommen.

Bidens 30-minütige Pressekonferenz (die unerklärlicherweise auf amerikanische Journalisten beschränkt war) bestätigte später, dass es ein positives und konstruktives Treffen war. Biden schätzte es so ein: «Und jetzt haben wir eine klare Basis dafür geschaffen, wie wir mit Russland und den Beziehungen zwischen den USA und Russland umgehen wollen.»

Aber die Fragen und Antworten machten deutlich, dass Biden zu Hause mit einem ernsten Problem konfrontiert ist. Die amerikanischen Journalisten bewerteten Bidens neu entdeckten Pragmatismus in Bezug auf Russland und Putin mit Unverständnis.

Biden ist unter Druck geraten, seine Öffnung gegenüber Putin an diesem Gipfel zu verteidigen. Er hat sich über die amerikanische Mainstream-Meinung hinweggesetzt. Die Pressekonferenz endete mit einer Auseinandersetzung, als ein Journalist auf Biden losging: «Warum sind Sie so zuversichtlich, dass er (Putin) sein Verhalten ändern wird, Mr. President?» Biden wurde wütend: «Ich bin nicht zuversichtlich, dass er sein Verhalten ändern wird. Wo zum Teufel – was machen Sie die ganze Zeit? Wann habe ich gesagt, ich sei zuversichtlich?... Ich bin von nichts zuversichtlich...»

Hat Biden das politische Kapital, um ein Projekt zur Schaffung von «Stabilität und Berechenbarkeit» in den Beziehungen zwischen den USA und Russland voranzutreiben? Es ist eindeutig zu früh, um zu sagen, ob dieser Gipfel ein Erfolg für Biden war oder nicht. Es werden Wochen und Monate nötig sein, um zu sehen, wie sich die Beziehungen zwischen den USA und Russland entwickeln. Ein einzelnes Gipfelgespräch in Genf kann die Beziehung nicht verändern.

Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde Genf das erste
Zentrum der multilateralen Diplomatie. Noch heute ist es
deren aktivster Standort. (Bild keystone)

Der Gipfel hat wahrscheinlich die Erwartungen auf beiden Seiten erfüllt, aber die Latte der Erwartungen wurde absichtlich niedrig gehalten. Die gemeinsame Erklärung zur strategischen Stabilität war eine Überraschung. Aber dann ist es eine Artikulation erster Prinzipien – dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und deshalb nicht geführt werden sollte.

Ein Endpunkt im strategischen Dialog ist vielleicht nicht einmal in 3-6 Monaten möglich, da das Gespräch auf die Kernaspekte der Beziehung übergehen muss, was im Kontext des 21. Jahrhunderts auch Cyber-, Weltraum-, konventionelle Sicherheitsfragen, diplomatische Infrastruktur usw. umfasst.

Einfach ausgedrückt: Während Putin in der Lage ist, seiner Regierung zu signalisieren, dass eine produktive Arbeit beginnen kann, ist Biden ebenso gut in der Lage, dies zu tun?

Aufgepasst: Cybersicherheit ist ein sehr kompliziertes Thema, bei dem eine dünne Linie Verbrechen von Terrorismus trennt. Putin wird niemals ein Fehlverhalten des russischen Staates zugeben und auch keine einseitigen Verpflichtungen eingehen, da Russland selbst Opfer von Cyberangriffen ist. Und die Cyberfrage ist zufällig auch ein Thema der nationalen Sicherheit.1 Um überhaupt damit beginnen zu können, braucht man Vertrauen – und daran mangelt es. Ein holpriger Weg liegt vor uns.

Bidens Motivationen bleiben ambivalent. Drei Dinge gehen aus seiner Pressekonferenz hervor. Erstens wollte Biden auf breiter Front mit Russland «Themen für die praktische Arbeit identifizieren» – abgesehen vom strategischen Austausch und der Cybersicherheit erwähnte Biden «humanitäre Korridore» in Syrien; den Iran und Afghanistan, wo er Putins «Hilfe» brauche; die Zusammenarbeit in der Arktis, usw. Insgesamt suchte er ein konstruktives Engagement.

Zweitens hofft Biden, eine persönliche Übereinstimmung mit Putin zu finden. In seinen Worten: «Ich meine, ich – hört mal, Leute, ich weiss, dass wir Aussenpolitik als diese ganz grossartige Fähigkeit bezeichnen, die irgendwie so etwas wie ein Geheimcode ist. Praktisch… alle Aussenpolitik ist…, ist eine logische Erweiterung der persönlichen Beziehungen. Es ist die Art, wie die menschliche Natur funktioniert.»

Drittens glaubt Biden, dass er einen praktikablen Zuckerbrot-und-Peitsche-Ansatz gegenüber Putin hat. Nach Bidens Einschätzung steht Putin unter immensem Druck. Biden sagte: «Ich glaube, das Letzte, was er (Putin) jetzt will, ist ein Kalter Krieg. Sie haben eine mehrere Tausend Meilen lange Grenze mit China. China ist auf dem Vormarsch, wild entschlossen, wie man so schön sagt, die mächtigste Wirtschaft der Welt und die grösste und mächtigste Armee der Welt zu werden.

«Sie (Putin) sind in einer Situation, in der ihre Wirtschaft in Schwierigkeiten ist, kämpfen muss, sie müssen sie in aggressiver Art antreiben, in Bezug auf das Wachstum. Und sie – ich glaube nicht, dass er einen Kalten Krieg mit den USA anstrebt...»

«Aber das bedeutet nicht, dass er (Putin) bereit ist, um, Zitat, bildlich gesprochen, ‹seine Waffen niederzulegen› und zu sagen: ‹Na, dann halt.› Er ist, glaube ich, immer noch besorgt darüber, ‹eingekreist› zu sein. Er ist immer noch besorgt, dass wir (die USA) ihn tatsächlich zu Fall bringen wollen, usw. Er hat immer noch diese Bedenken, aber ich glaube nicht, dass sie die treibende Kraft für die Art von Beziehung sind, die er mit den Vereinigten Staaten anstrebt.»

Diese verblüffenden Äusserungen unterstreichen, dass das Verständnis der Biden-Administration von Putins Russland voller Naivität steckt und zutiefst fehlerhaft ist. Moskau und Peking müssen das spüren. Putins aussergewöhnliche Äusserungen über die Beziehungen zwischen Russland und China während seines NBC-News-Interviews vom 14. Juni zeugen davon.

Putin sagte: «Darf ich ganz ehrlich sein? Wir erkennen Versuche, die Beziehungen zwischen Russland und China zu zerstören. Wir können sehen, dass diese Versuche in der praktischen Politik gemacht werden. Und auch Ihre Fragen haben damit zu tun.»

Das ist vielleicht der springende Punkt des Genfer Gipfels. Es scheint, dass es unter Amerikas aussenpolitischer Elite ein ernsthaftes Missverständnis über die Belastbarkeit der strategischen Partnerschaft zwischen Russland und China gibt.

Russland und China haben ein übereinstimmendes Interesse daran, sich gegenseitig zu unterstützen, um Raum für die andere Partei zu schaffen, damit diese die USA zurückdrängen kann. Die Partnerschaft ist entgegenkommend gegenüber den Kernanliegen und spezifischen Interessen des jeweils anderen, für beide Seiten vorteilhaft und inhaltlich lohnend.

Im Grunde erbt Biden die Hinterlassenschaft der Anti-Trump-Kampagne der Demokratischen Partei (und der Obama-Präsidentschaft), die 2016 ein erfundenes Narrativ der «Russland-Kollusion» schuf, um den ehemaligen US-Präsidenten als «Manchurian Candidate»2 schlecht zu machen und danach seine Präsidentschaft zu untergraben.

Biden ist heute in diesem falschen Narrativ gefangen. Er kann es nicht als Richtschnur benutzen, um die Russland-Politik zu steuern und gleichzeitig kann er dieses Narrativ auch nicht verleugnen. Dieser Widerspruch kann nur aufgelöst werden, wenn die Beziehungen der USA zu Russland als aussenpolitisches Thema behandelt werden und nicht als Muster der Innenpolitik. Aber Biden ist ein zu schwacher Präsident, um eine solch tiefgreifende Kurskorrektur zu vollziehen, ungeachtet seiner tadellosen Legitimation als Falke.

1 Anmerkung der Redaktion: In der Pressekonferenz hat Vladimir Putin darauf hingewiesen, dass Russland etwa 10 Anfragen der US-Regierung bezüglich Cyberangriffen aus Russland erhalten habe. Diese seien alle vollumfänglich beantwortet worden. Umgekehrt habe Russland 40 Anfragen an die USA gestellt und keine einzige sei beantwortet worden…

2 Anmerkung der Redaktion: «The Manchurian Candidate» ist der Titel eines Polittriller aus dem Jahr 1962 (Neuverfilmung 2004), in dem es um einen Doppelagenten und die geplante Beseitigung eines amerikanischen Präsidenten geht. (Deutscher Titel: Botschafter der Angst/Der Manchurian Kandidat)

Quelle: https://www.indianpunchline.com/takeaways-from-biden-putin-summit/ 17. Juni 2021

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

* M. K. Bhadrakumar hat rund drei Jahrzehnte als Karrierediplomat im Dienst des indischen Aussenministeriums gewirkt. Er war unter anderem Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Pakistan, Iran und Afghanistan sowie in Südkorea, Sri Lanka, Deutschland und in der Türkei. Seine Texte beschäftigen sich hauptsächlich mit der indischen Aussenpolitik und Ereignissen im Mittleren Osten, in Eurasien, in Zentralasien, Südasien und im Pazifischen Asien. Sein Blog heisst «Indian Punchline».

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