Schützt der «Sky Shield» Österreich?
von General i.R. DI Mag. Günther Greindl,* Österreich
(CH-S) Die Überlegungen von Günther Greindl betreffen auch die Schweiz sehr direkt. Ein neues, milliardenteures Luftabwehrsystem soll über Europa vor russischen Raketen schützen. Doch machen sich die neutralen Staaten Schweiz und Österreich damit nicht erst zum Angriffsziel? Und wären andere Systeme nicht ausreichend und besser vereinbar mit der Neutralität? In Bezug auf Österreich warnt General Greindl deutlich. Die Parallelen zur Schweiz sind nicht zu übersehen. Der Beitrag der Redaktion zum Thema «Sky Shield und die Schweiz» folgt nächste Woche.
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Mit dem Beitritt zur Initiative «Sky Shield» hat die Regierung in Österreich eine Diskussion ausgelöst, die grundsätzliche Fragen der Sicherheitspolitik und der Neutralität berührt. Regierungsnahe Sicherheitsexperten behaupten, Sky Shield sei für unsere Luftverteidigung unabdingbar, da Österreich seinen Luftraum nicht alleine schützen könne. Österreich werde erstmals in der Lage sein, Raketen schon in der Stratosphäre bekämpfen zu können. Die Gegner des Projekts sind der Ansicht, Sky Shield sei mit der Neutralität unvereinbar und von zweifelhaftem Nutzen. Bei so unterschiedlichen Bewertungen lohnt es sich, das – sehr teure – Projekt «Sky Shield» etwas näher zu betrachten.
Der Sky Shield
Die «European Sky Shield Initiative» (ESSI) wurde von Deutschland 2022 auf den Weg gebracht. Die Initiative soll das bestehende Luftverteidigungssystem der Nato, das «Integrated Air Defence System», stärken, um russische Raketenangriffe abzuwehren. Bis jetzt wollen 22 Nato -Staaten sowie Österreich und die Schweiz daran teilnehmen. Frankreich, Italien, Spanien und Polen haben sich noch nicht entschieden. Frankreich bemängelt die einseitige Ausrichtung auf US-Gerät und US-Technologie. Die US-Rüstungsindustrie wäre der unangefochtene Profiteur. Europa würde sich in eine dauerhafte Abhängigkeit von den USA begeben. Warum die neutralen Staaten Österreich und Schweiz von Beginn an mitmachen, dürfte der neuen sicherheitspolitischen Ausrichtung der beiden Regierungen geschuldet sein, die eine verstärkte und engere Kooperation mit der Nato vorsieht.
Der Beitritt Österreichs
Die österreichische Regierung folgt, so wie die EU, der Einschätzung der Nato, die seit dem Ukraine-Krieg den früheren strategischen Partner Russland wieder als ewigen Feind der westlichen Welt betrachtet. Die EU müsse daher kriegstüchtig gemacht werden, so das zentrale Argument. Der Schutz vor russischen Raketenangriffen wird somit zur vordringlichen Aufgabe für das gesamte Gebiet der EU. Österreich macht freiwillig mit, obwohl ein Land mit einer glaubwürdigen Neutralität gute Chancen hat, sich aus einem Krieg herauszuhalten. Denn wenn Österreich seine Neutralität zu Erde und in der Luft verteidigt und die Nutzung seines Territoriums durch Kriegsparteien verhindert: Welchen Grund sollte Russland haben, das neutrale Österreich mit Raketen anzugreifen?
Ganz anders wäre die Sicherheitslage, wenn Österreich bei der ESSI mitmacht. Denn als Teilnehmer am Sky Shield ist Österreich von vornherein ein legitimes Angriffsziel. Diese Befürchtung wird mit dem Hinweis entkräftet, dass in einer Zusatzerklärung festgehalten ist, dass eine operative Beteiligung an der Raketenabwehr nicht beabsichtigt ist. Es gehe lediglich um die gemeinsame Beschaffung von Geräten und um Ausbildungsmassnahmen. Der Beitritt sei daher mit der Neutralität vereinbar. Dies werde auch von Völkerrechts-Experten bestätigt.
Dieser Argumentation kann man nur schwer folgen. Sky Shield ist als strategisches Abwehrsystem konzipiert, das Raketen bereits in der Stratosphäre abfangen soll. Dafür ist der Ankauf von Patriot- oder Arrow 3-Systemen erforderlich, die mehrere Milliarden Euro kosten werden. Österreich wird bei einem Ankauf dieser Systeme zwangsläufig operativer Teilnehmer am Sky Shield, da ein Abschuss moderner Raketen nur im Verbund aller Abwehrsysteme und unter einheitlichem Kommando erfolgen kann.
Spätesten dann braucht es eindeutige Antworten auf wichtige Fragen: In welcher Höhe endet die Souveränität Österreichs im Luftraum? Ist ein Abschuss von Raketen, die Österreich ausserhalb der Souveränitätszone überfliegen, neutralitätsrechtlich gedeckt? Wird Österreich womöglich in einen Raketenkrieg hineingezogen, der Österreich gar nicht betrifft? Welches Risiko verbleibt trotz Sky Shield? Welche anderen Mittel würden für die Verteidigung der Neutralität im Luftraum genügen?
Bewahrung der Neutralität
Die Verschmelzung zwischen EU und Nato stellt Österreich vor eine schwierige Aufgabe, da die EU ihre sicherheitspolitischen Entscheidungen in voller Übereinstimmung mit der Nato trifft. In der gemeinsamen Erklärung zur Zusammenarbeit zwischen EU und Nato vom Jänner 2023 heisst es: «Wir befürworten die grösstmögliche Einbeziehung der Nato-Verbündeten, die nicht Mitglieder der EU sind, in deren Initiativen. Wir befürworten die grösstmögliche Einbeziehung der EU-Mitglieder, die nicht Teil des Bündnisses sind, in dessen Initiativen.»
Wenn Österreich seine in der Verfassung verankerte Neutralität nicht völlig preisgeben will, muss es seine Verteidigung selbständig organisieren. Die geostrategische Lage mitten in Europa begünstigt Österreich und eröffnet realistische Chancen, sich aus Kriegen herauszuhalten. Die grösste Bedrohung für unsere Neutralität sind Überflüge oder Waffentransporte von Kriegsparteien durch Österreich. Der Krieg in der Ukraine hat uns vor Augen geführt, wie wichtig Österreich für den Nachschub der Nato ist. Eine glaubwürdige Neutralität muss jedoch im Kriegsfall allen Kriegsparteien die Nutzung unseres Territoriums verwehren.
Die Verletzung unserer Neutralität in der Luft konnte Österreich mangels moderner Ausrüstung bisher nicht effektiv verhindern. Mit dem Beschluss, das Flugabwehrraketen-System IRIS-T-SLM mit einer Bekämpfungsreichweite bis zu 40 Kilometer anzukaufen, erfolgte ein entscheidender Schritt, diese Lücke zu schliessen. Auch die Beschaffung von Fliegerabwehrkanonen «Skyranger» mit einer Reichweite von 3000 Metern ist im Zeitalter der Drohnen eine wichtige Ergänzung für die Luftverteidigung. Damit besitzt Österreich, neben den Eurofightern, wichtige Mittel, um seinen Luftraum gegen nicht genehmigte Überflüge zu verteidigen oder bedeutende Grossereignisse gegen terroristische Angriffe aus der Luft zu schützen. Diese Beschaffungen erlauben Österreich, seine Verpflichtungen als neutraler Staat selbständig zu erfüllen. Eine Beteiligung am Projekt Sky Shield ist dafür nicht notwendig.
Die Rückkehr des kalten Krieges
Sky Shield folgt der Logik des Kalten Krieges und steht am Beginn eines neuerlichen Wettrüstens. Ein kalter Krieg setzt eine Rüstungsspirale in Gang, die unverhältnismässige Kosten verursacht, ohne die Sicherheit zu erhöhen. Jede Massnahme führt zu einer Gegenmassnahme, wodurch der Wettlauf eine stete Beschleunigung erfährt. Das gegenseitige Misstrauen nimmt zu und die Bedrohung bleibt trotz aller Anstrengungen allgegenwärtig.
Ein neues Wettrüsten dient nur der Rüstungsindustrie, liegt aber nicht im Interesse Europas. Was Europa braucht, ist die Rückkehr zur Diplomatie, zur kooperativen Sicherheit und zur Rüstungskontrolle. Die Kündigung des INF-Vertrages («Intermediate Range Nuclear Force Treaty») ging nicht von Russland aus. Es war Europa, das zu schwach war, um die Kündigung dieses für die europäische Sicherheit so wichtigen Vertrages zu verhindern.
Heute ist die EU wiederum auf einem geopolitischen Irrweg. Sie schliesst Verhandlungen aus, weil mit dem «totalitären und imperialen Russland» so lange nicht verhandelt werden kann, bis Russland seine imperiale Haltung aufgibt. Mit dieser Einstellung wäre die Entspannungspolitik der 1970er Jahre nicht möglich gewesen. Damals wurden mit der totalitären und imperialen Sowjetunion sehr erfolgreich Verträge zur Rüstungskontrolle abgeschlossen. Die Rückkehr des Kalten Kriegs nützt weder der Ukraine noch Europa.
Der Gründungsgedanke der EU war es, den europäischen Kontinent der Kriege in einen Kontinent des Friedens zu verwandeln. Wenn die EU unter dem Einfluss der Nato diese Zielsetzung vergessen hat, wäre es da nicht eine lohnende Aufgabe Österreichs, seine Neutralität für eine engagierte Friedenspolitik zu nutzen? Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung statt Sky Shield – das wäre der Weg zum Frieden!
* Günther Greindl, General i.R., geboren 1939, ist ehemaliger Berufsoffizier des österreichischen Bundesheeres mit dem letzten Dienstgrad General. Neben seiner Offizierskarriere studierte er an der Technischen Universität Wien die Fachrichtung Raumplanung und schloss dieses Studium als Diplom-Ingenieur ab. Er war an verschiedenen UN-Missionen in leitender Stellung für die österreichische Abordnung, unter anderem auch Force Commander der UN-Friedenstruppen in Syrien, Kuwait und Zypern. Anschliessend war er auch in militärnahen diplomatischen Verwendungen tätig. Er ist Gründungsmitglied der «Initiative Engagierte Neutralität». |
Quelle: https://libratus.online/de/schuetzt-der-sky-shield-oesterreich, 10. September 2024