Palästina und das Völkerrecht

Von der Besetzung zur De-facto-Annexion?

Prof. Dr. Hans Köchler (Bild
www.hanskoechler.com)

Erklärung der «International Progress Organization» auf einem Treffen der Vereinten Nationen zu Palästina

Büro der Vereinten Nationen in Wien, 29. November 2022 – RE/28630c-is

(6. Dezember 2022) In einer Erklärung auf einer Sondersitzung der Vereinten Nationen, die vom Ausschuss für die Ausübung der unveräusserlichen Rechte des palästinensischen Volkes einberufen wurde, begrüsste der Präsident [Dr. Hans Köchler*] der International Progress Organization (I.P.O.) die Entscheidung des Sonderausschusses für Politik und Entkolonialisierung der Generalversammlung der Vereinten Nationen, den Internationalen Gerichtshof um ein Gutachten über die rechtlichen Folgen der andauernden Verletzung des Rechts des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung zu ersuchen.

«Eine andauernde Besetzung, die mit einer Politik der illegalen Aneignung von Territorium und des Bevölkerungstransfers einhergeht, wird de facto zu einer Annexion», sagte der Präsident des I.P.O.. Er erinnerte auch die Vertragsstaaten der Vierten Genfer Konvention an ihre Verpflichtung, Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht in den besetzten palästinensischen Gebieten zu untersuchen und zu verfolgen, und forderte eine unabhängige internationale Untersuchung der brutalen Ermordung der palästinensischen Journalistin Shireen Abu Akleh am 11. Mai 2022.

In diesem Jahr fiel der Internationale Tag der Solidarität mit dem palästinensischen Volk am Sitz der Vereinten Nationen in New York, Genf und Wien mit dem 75. Jahrestag der Resolution 181 (vom 29. November 1947) der Generalversammlung der Vereinten Nationen über Palästina zusammen.

Die Sitzung im Büro der Vereinten Nationen in Wien wurde von der Ständigen Vertreterin Namibias, Botschafterin Nada Kruger, geleitet. Die Generaldirektorin des Büros der Vereinten Nationen in Wien, Frau Ghada Fathi Waly, überbrachte eine Botschaft des Generalsekretärs der Vereinten Nationen. König Mohamed VI. von Marokko, Vorsitzender des Jerusalem-Ausschusses der Organisation der Islamischen Konferenz, König Salman bin Abdulaziz von Saudi-Arabien, König Abdullah II. von Jordanien und Recep Tayyip Erdoğan, Präsident der Republik Türkei, richteten besondere Botschaften an das Treffen.

Der Ständige Beobachter der Liga der Arabischen Staaten übermittelte eine Botschaft des Generalsekretärs Ahmed Aboul Gheit. Die Ständigen Vertreter Südafrikas und Aserbaidschans gaben Erklärungen im Namen der Afrikanischen Union und der Bewegung der Blockfreien Staaten ab. Auch die Ständigen Vertreter von Ägypten, Algerien, Ecuador, Irak, Iran, Katar, Kuba, Kuwait, Malta, Oman, Österreich, Pakistan, Syrien, Tunesien und Venezuela gaben Erklärungen ab. Die Delegierten sprachen sich einhellig für das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes aus.

Das Treffen wurde mit einer Erklärung von Dr. Hans Köchler, Präsident der International Progress Organization, im Namen der internationalen Zivilgesellschaft und mit der Rede von Botschafter Salah Abdel-Shafi, Ständiger Vertreter des Staates Palästina, abgeschlossen, der eine Botschaft von Mahmoud Abbas, Präsident des Staates Palästina, verlas.

* Hans Köchler wurde am 18. Oktober 1948 in der Stadt Schwaz, Tirol, Österreich, geboren. Er promovierte an der Universität Innsbruck (Österreich) zum Doktor der Philosophie (Dr. phil.) mit höchster Auszeichnung (sub auspiciis praesidentis rei publicae). Von 1982 bis 2014 war er Universitätsprofessor für Philosophie (mit besonderem Schwerpunkt auf politischer Philosophie und philosophischer Anthropologie). Er ist Ehrendoktor der Staatlichen Universität Mindanao (Philippinen) und der Armenischen Staatlichen Pädagogischen Universität sowie Ehrenprofessor für Philosophie der Universität Pamukkale (Türkei). Von 1990 bis 2008 war er Direktor des Instituts für Philosophie an der Universität Innsbruck.
An seiner Universität war Professor Köchler von 1971 bis 2014 auch Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Wissenschaft und Politik. Von 1974 bis 1988 war er Vorstandsmitglied des Österreichischen College (Wien) und Mitglied des Programmausschusses des Europäischen Forums Alpbach. Im Jahr 1998 war er Gastprofessor an der University of Malaya in Kuala Lumpur (Malaysia). Im Jahr 2004 wurde er zum Gastprofessor an der Polytechnic University of the Philippines in Manila ernannt. Nach seiner Wahl zum lebenslangen Mitglied (Life Fellow) im Jahr 2006 wurde er 2010 zum Co-Präsidenten der Internationalen Akademie für Philosophie gewählt. Von 2019 bis 2021 war er Mitglied des Hochschulrats der Universität für Digitale Wissenschaft (Berlin). Im Jahr 2018 wurde er Mitglied der Fakultät der Akademie für Kulturdiplomatie in Berlin, Deutschland.

International Progress Organization

Internationaler Tag der Solidarität mit dem palästinensischen Volk

Sondersitzung einberufen vom
Ausschuss für die Ausübung der unveräusserlichen Rechte des palästinensischen Volkes
– In Übereinstimmung mit der Resolution 32/40 der UNO-Generalversammlung –

Erklärung im Namen der Zivilgesellschaft
von
Dr. Hans Köchler, Präsident der «International Progress Organization»

Büro der Vereinten Nationen in Wien 29. November 2022, 16 Uhr

Frau Präsidentin,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren!

In einer Situation zunehmender globaler Spannungen und der möglichen Rückkehr des Ost-West-Konflikts ist 2022 bereits das tödlichste Jahr für Palästinenser im besetzten Westjordanland, seit die Vereinten Nationen vor 17 Jahren begonnen haben, die Todesfälle zu erfassen.

Die anhaltende Besetzung der palästinensischen Gebiete, die nun schon 56 Jahre andauert, hat zu einer immer verzweifelteren Situation für die betroffene Bevölkerung geführt und einen gefährlichen Kreislauf der Gewalt in Gang gesetzt.

Der fortgesetzte Bau und die Ausweitung jüdischer Siedlungen, die Enteignung arabischen Landes, die Vertreibung und die willkürlichen Verhaftungen von Palästinensern gehen in einer allgemeinen Atmosphäre der Gesetzlosigkeit und der Vernachlässigung der Grundrechte der Menschen im besetzten Palästina unvermindert weiter.

Im vergangenen Monat äusserte sich der Sprecher des UN-Hochkommissars für Menschenrechte besorgt über die mögliche Wiederaufnahme unrechtmässiger gezielter Tötungen durch Sicherheitskräfte der Besatzungsmacht.

Angesichts der Tatsache, dass extremer Nationalismus und religiöser Zionismus in Israel immer mehr zum Mainstream werden und eine im Wesentlichen koloniale Agenda von Mitgliedern der neuen Regierungskoalition offen befürwortet wird, muss die internationale Gemeinschaft ihre Bemühungen zum Schutz der unter dem Joch der Besatzung lebenden Menschen verstärken und dem illegalen Status quo ein Ende setzen.

In einem Bericht vom 14. September dieses Jahres hat die unabhängige internationale Untersuchungskommission, die unter dem Mandat des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen arbeitet, schwere Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht durch die Besatzungsmacht festgestellt.

Unter diesen Verstössen werden genannt: «Rechtswidrige Abschiebung oder Überführung», rechtswidrige Inhaftierung und die «umfangreiche Zerstörung und Enteignung von Eigentum». Nach der Genfer Konvention (IV) von 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten haben die Vertragsstaaten der Konvention (d.h. alle UN-Mitgliedsstaaten und der Staat Palästina) eine besondere Verantwortung, die Einhaltung der Konvention «unter allen Umständen» zu gewährleisten (Artikel 1).

Die Staaten sind verpflichtet, bei schweren Verstössen gegen die Konvention strafrechtliche Sanktionen zu verhängen. In Artikel 146 heisst es unmissverständlich, dass jeder Staat «verpflichtet ist, nach Personen zu fahnden, denen vorgeworfen wird, solche schweren Verstösse begangen oder deren Begehung angeordnet zu haben, und diese Personen ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor seine eigenen Gerichte zu stellen.»

In diesem Zusammenhang ist es von grösster Bedeutung, dass der Tod der palästinensischen Journalistin Shireen Abu Akleh, einer Bürgerin der Vereinigten Staaten, am 11. Mai 2022 umfassend untersucht wird und die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden.

Nach der Genfer Konvention ist das Justizministerium der Vereinigten Staaten uneingeschränkt befugt, diesen Fall zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen, in dem eine unbewaffnete und eindeutig als Journalistin identifizierbare Person bei der Ausübung ihrer Pflichten in der Stadt Dschenin im Westjordanland getötet wurde.

Darüber hinaus scheint Israel durch die fortgesetzte Errichtung von Siedlungen – unter klarem Verstoss gegen Artikel 49 der Genfer Konvention, der es der Besatzungsmacht strikt untersagt, Teile ihrer Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet zu verlegen – eine De-facto-Annexion des Westjordanlandes anzustreben, «während es sich hinter der Fiktion der Vorläufigkeit zu verstecken sucht» (so die Unabhängige Internationale Untersuchungskommission des Menschenrechtsrates).

Angesichts dieser Politik der vollendeten Tatsachen, die eine Zweistaatenlösung immer schwieriger macht, ist die Initiative des Sonderausschusses für Politik und Entkolonialisierung der UN-Generalversammlung (Vierter Ausschuss), den Internationalen Gerichtshof um ein Gutachten zu den «rechtlichen Folgen der andauernden Verletzung des Rechts des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung durch Israel» und zu den Auswirkungen der israelischen Politik und Praxis auf den «Rechtsstatus der Besatzung» zu ersuchen, mehr als gerechtfertigt – wenn man die internationale Rechtsstaatlichkeit ernst nimmt und nicht vor der militärischen Macht kapituliert.

Eine andauernde Besatzung, die mit einer Politik der illegalen Aneignung von Territorium und des Bevölkerungstransfers einhergeht, wird de facto zur Annexion. Ausserdem besteht die reale Gefahr einer Rückkehr zum Annexionsplan von 2020, da der Block des Religiösen Zionismus in der neu gebildeten Koalition die Siedlungstätigkeit intensivieren will, wozu auch die Genehmigung Tausender Wohneinheiten in grossen Teilen des Gebiets C im Westjordanland gehört.

Es ist höchste Zeit, dass die internationale Gemeinschaft einer Eroberungspolitik ein Ende setzt, die Frieden und Stabilität nicht nur im Nahen Osten, sondern in der ganzen Welt bedroht.

Wir begrüssen die Algier-Erklärung der Arabischen Liga vom 2. November 2022, in der alle Mitgliedstaaten ihr Bekenntnis zur Arabischen Friedensinitiative von 2002 in ihrer Gesamtheit bekräftigen und eine gerechte und umfassende Lösung der Palästina-Frage auf der Grundlage der Formel «Land für Frieden» unterstützen. In ihrer Erklärung bezeichneten die arabischen Führer dies als «strategische Option», die darauf abziele, die israelische Annexion und Besetzung aller arabischen Gebiete zu beenden.

Ein erneutes Engagement für eine kollektive arabische Anstrengung, die über separate Vereinbarungen auf rein bilateraler Basis hinausgeht, steht auch im Einklang mit dem Versöhnungsabkommen, das zum Abschluss der «palästinensischen Einheitsgespräche» am 13. Oktober dieses Jahres in Algier erzielt wurde und in dem bekräftigt wurde, dass die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) der einzige legitime Vertreter des palästinensischen Volkes ist.

Gestatten Sie mir, Frau Vorsitzende, mit den historischen Worten zu schliessen, die der Vorsitzende des Exekutivkomitees der PLO, der verstorbene Jassir Arafat, im November 1980 an die Delegierten der von unserer Organisation hier in Wien veranstalteten Konferenz zum Thema «Die rechtlichen Aspekte des Palästina-Problems unter besonderer Berücksichtigung der Jerusalem-Frage» richtete.

Seine Betonung der Rechtsgrundsätze ist gerade jetzt, wo die politischen Entwicklungen in Israel in die entgegengesetzte Richtung zu gehen scheinen, von besonderer Bedeutung.

In seiner Botschaft betonte der Vorsitzende Arafat den Wert internationaler zivilgesellschaftlicher Initiativen zur Unterstützung «der Gerechtigkeit der palästinensischen Sache und des Rechts des palästinensischen Volkes auf Rückkehr und Selbstbestimmung, einschliesslich des Rechts auf Gründung eines unabhängigen Staates». Er betonte auch, wie wichtig es sei, «die rechtlichen Dimensionen aufzuzeigen, die die Unrechtmässigkeit der Aggression des israelischen Staates, der Angriffe, der Annexion von Land, der Verletzung der Menschenrechte, der Verhängung von Kollektivstrafen gegen ein ganzes Volk und der Entweihung heiliger islamischer und christlicher Stätten bestätigen.»

Nach so vielen Jahren darf dieses leidenschaftliche Plädoyer für Gerechtigkeit für das palästinensische Volk von der internationalen Gemeinschaft nicht weiter ignoriert werden.

Wir hoffen aufrichtig, dass der Internationale Gerichtshof – sobald die UN-Generalversammlung formell um ein Gutachten ersucht hat – die Dinge in Bezug auf die längste Besatzung in der jüngeren Geschichte richtigstellen und klare Leitlinien für ein entschlossenes Handeln zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in Palästina vorgeben wird.

Eine Politik der offenen Missachtung des Willens der internationalen Gemeinschaft, der in unzähligen Resolutionen der Vereinten Nationen seit 1967 zum Ausdruck kommt, kann und darf nicht hingenommen werden.

Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin.

(Übersetzung aus dem Englischen «Schweizer Standpunkt»)

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