Warum neutrale Länder zwischen Russland und der Ukraine vermitteln sollten

Jeffrey D. Sachs (Foto
Gabriella C. Marino, 2019)

von Jeffrey Sachs,* USA

(7. Februar 2023) Weder Russland noch die Ukraine werden in ihrem andauernden Krieg einen entscheidenden militärischen Sieg erringen: Beide Seiten haben erheblichen Spielraum für eine tödliche Eskalation. Die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten haben kaum eine Chance, Russland von der Krim und aus der Donbass-Region zu vertreiben, während Russland kaum eine Chance hat, die Ukraine zur Kapitulation zu zwingen. Wie Joe Biden im Oktober feststellte, stellt die Eskalationsspirale die erste direkte Drohung mit einem «nuklearen Armageddon» seit der Kubakrise vor 60 Jahren dar.

Auch der Rest der Welt leidet mit, wenn auch nicht in dem Ausmass wie auf dem Schlachtfeld. Europa befindet sich wahrscheinlich in einer Rezession. Die Volkswirtschaften der Entwicklungsländer kämpfen mit zunehmendem Hunger und Armut. Amerikanische Waffenhersteller und Ölkonzerne machen Gewinne, während sich die amerikanische Wirtschaft insgesamt verschlechtert. Die Welt leidet unter erhöhter Unsicherheit, unterbrochenen Lieferketten und der Gefahr einer nuklearen Eskalation.

Ein Zermürbungskrieg, für beide Seiten verheerend

Jede Seite kann sich für die Fortsetzung des Krieges entscheiden, weil sie glaubt, einen entscheidenden militärischen Vorteil gegenüber dem Gegner zu haben. Mindestens eine der Parteien wird sich mit dieser Ansicht irren, wahrscheinlich sogar beide. Ein Zermürbungskrieg wird für beide Seiten verheerend sein.

Der Konflikt könnte aber auch aus einem anderen Grund weitergehen: keine der beiden Seiten sieht die Möglichkeit eines durchsetzbaren Friedensabkommens. Die ukrainische Führung glaubt, dass Russland jede Kampfpause nutzen würde, um wieder aufzurüsten. Die russische Führung glaubt, dass die Nato jede Kampfpause nutzen würde, um das ukrainische Waffenarsenal zu erweitern. Sie ziehen es vor, jetzt zu kämpfen, anstatt sich später einem stärkeren Feind zu stellen.

Verhandlungsfrieden auf breiterer Basis

Die Herausforderung besteht darin, einen Weg zu finden, ein Friedensabkommen akzeptabel, glaubwürdig und durchsetzbar zu machen. Ich glaube, dass die Argumente für einen Verhandlungsfrieden auf breiterer Basis gehört werden müssen, zunächst um die Ukraine davor zu bewahren, zu einem ewigen Schlachtfeld zu werden, und ganz allgemein, weil sie für beide Seiten und den Rest der Welt von Vorteil sind. Es gibt gute Argumente dafür, neutrale Länder einzubeziehen, um eine Friedensregelung durchzusetzen, von der viele profitieren würden.

Ein glaubwürdiges Abkommen müsste zunächst den grundlegenden Sicherheitsinteressen beider Parteien gerecht werden. Wie John F. Kennedy auf dem Weg zum erfolgreichen Atomteststoppvertrag mit der Sowjetunion 1963 weise sagte, «man kann sich darauf verlassen, dass selbst die feindlichsten Nationen die Vertragsverpflichtungen akzeptieren und einhalten, die in ihrem eigenen Interesse liegen».

In einem Friedensabkommen müsste der Ukraine ihre Souveränität und Sicherheit zugesichert werden, während die Nato versprechen müsste, sich nicht nach Osten zu erweitern. (Obwohl die Nato sich selbst als Verteidigungsbündnis bezeichnet, ist Russland sicherlich anderer Meinung und lehnt die Nato-Erweiterung entschieden ab.) In Bezug auf die Krim und die Donbass-Region müssten einige Kompromisse gefunden werden, vielleicht ein Einfrieren und eine Entmilitarisierung dieser Konflikte für eine gewisse Zeit. Eine Einigung wird auch nachhaltiger sein, wenn sie die schrittweise Aufhebung der Sanktionen gegen Russland und eine Vereinbarung sowohl Russlands als auch des Westens beinhaltet, zum Wiederaufbau der vom Krieg zerstörten Gebiete beizutragen.

Friedensstiftende Rolle wichtiger Schwellenländer

Der Erfolg könnte auch davon abhängen, wer in die Bemühungen um Frieden und dessen Durchsetzung einbezogen wird. Da die kriegführenden Parteien einen solchen Frieden nicht allein herbeiführen können, liegt eine wichtige strukturelle Lösung darin, weitere Parteien in das Abkommen einzubeziehen. Neutrale Staaten wie Argentinien, Brasilien, China, Indien, Indonesien und Südafrika haben sich wiederholt für eine Beendigung des Konflikts auf dem Verhandlungsweg ausgesprochen. Sie könnten bei der Durchsetzung eines etwaigen Abkommens helfen.

Diese Länder sind weder Russland-Hasser noch Ukraine-Hasser. Sie wollen weder, dass Russland die Ukraine erobert, noch dass der Westen die Nato nach Osten erweitert, was viele als gefährliche Provokation nicht nur für Russland, sondern vielleicht auch für andere Länder ansehen. Ihr Widerstand gegen die Nato-Erweiterung hat sich verschärft, seitdem amerikanische Hardliner das Bündnis aufforderten, den Kampf auch gegen China aufzunehmen. Neutrale Länder waren erstaunt über die Teilnahme führender asiatisch-pazifischer Politiker aus Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland an einem Gipfeltreffen der angeblich «nordatlantischen» Länder im vergangenen Jahr.

Die friedensstiftende Rolle der grossen neutralen Länder könnte entscheidend sein. Russlands Wirtschaft und seine Fähigkeit, Kriege zu führen, hängen vom Fortbestehen enger diplomatischer Beziehungen und des internationalen Handels mit diesen neutralen Ländern ab. Als der Westen Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängte, folgten wichtige Schwellenländer wie Indien diesem Beispiel nicht. Sie wollten sich nicht für eine Seite entscheiden und haben enge Beziehungen zu Russland unterhalten.

Diese neutralen Länder sind wichtige Akteure in der Weltwirtschaft. Nach den Schätzungen des IWF zum BIP zu Kaufkraftparitäten war die kombinierte Produktion von Argentinien, Brasilien, China, Indien, Indonesien und Südafrika (51,7 Billionen Dollar oder fast 32% der Weltproduktion) im Jahr 2022 grösser als die der G7-Staaten USA, Grossbritannien, Kanada, Frankreich, Deutschland, Italien und Japan. Die Schwellenländer sind auch für die globale Wirtschaftspolitik von entscheidender Bedeutung. Sie werden vier Jahre in Folge den G20-Vorsitz innehaben sowie Führungspositionen in wichtigen regionalen Gremien einnehmen. Weder Russland noch die Ukraine wollen die Beziehungen zu diesen Ländern verschlechtern, was sie zu wichtigen potenziellen Garanten des Friedens macht.

Neutrale Länder und die UNO als Garanten für den Beginn einer neuen Ära des Friedens

Darüber hinaus werden viele dieser Länder versuchen, ihren diplomatischen Ruf aufzupolieren, indem sie bei den Friedensverhandlungen helfen. Einige von ihnen, darunter natürlich Brasilien und Indien, sind seit langem Anwärter auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Die mögliche Architektur eines Friedensabkommens könnte ein Abkommen sein, das vom UN-Sicherheitsrat gemeinsam mit mehreren der grossen Schwellenländer garantiert wird. Neben den oben genannten Ländern kommen auch die Türkei (die bei den Gesprächen zwischen Russland und der Ukraine geschickt vermittelt hat), Österreich, das auf seine dauerhafte Neutralität stolz ist, und Ungarn, das in diesem Jahr den Vorsitz in der UN-Generalversammlung innehat und wiederholt Verhandlungen zur Beendigung des Krieges gefordert hat, als Mitgaranten in Frage.

Der UN-Sicherheitsrat und die Mitgaranten würden von der UNO vereinbarte Handels- und Finanzmassnahmen gegen jede Partei verhängen, die das Friedensabkommen bricht. Die Umsetzung solcher Massnahmen würde nicht dem Vetorecht der verletzenden Partei unterliegen. Russland und die Ukraine müssten auf das Fairplay der neutralen Länder vertrauen, um den Frieden und ihre jeweiligen Sicherheitsziele zu sichern.

Es macht keinen Sinn, dass die Kämpfe in der Ukraine weitergehen. Wahrscheinlich wird keine der beiden Seiten den Krieg gewinnen, der derzeit die Ukraine verwüstet, Russland enorme Kosten in Form von Menschenleben und Geld auferlegt und weltweit Schaden anrichtet. Wichtige neutrale Länder können in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen als Garanten für den Beginn einer neuen Ära des Friedens und des Wiederaufbaus auftreten. Die Welt sollte nicht zulassen, dass die beiden Seiten eine rücksichtslose Eskalationsspirale fortsetzen.

* Jeffrey D. Sachs, geboren 1954 in Detroit, Michigan (USA), ist ein weltweit anerkannter Wirtschaftswissenschaftler, Bestsellerautor, innovativer Pädagoge und globaler Vordenker für nachhaltige Entwicklung. Er ist weithin anerkannt für seine mutigen und effektiven Strategien zur Bewältigung komplexer Herausforderungen, darunter die Überwindung extremer Armut, der globale Kampf gegen den vom Menschen verursachten Klimawandel, internationale Schulden- und Finanzkrisen, nationale Wirtschaftsreformen und die Bekämpfung von Pandemien und epidemischen Krankheiten. Er ist Direktor des Zentrums für nachhaltige Entwicklung an der Columbia University, wo er den Rang eines Universitätsprofessors innehat.
Jeffrey D. Sachs hat zahlreiche Bücher verfasst und herausgegeben, darunter drei New York Times-Bestseller: The End of Poverty (2005), Common Wealth: Economics for a Crowded Planet (2008) und The Price of Civilization (2011) sowie in jüngerer Zeit A New Foreign Policy: Beyond American Exceptionalism (2018) und The Ages of Globalization: Geography, Technology, and Institutions (2020).

Quelle: https://www.economist.com/by-invitation/2023/01/18/jeffrey-sachs-on-why-neutral-countries-should-mediate-between-russia-and-ukraine, 18. Januar 2023
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

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