Eine Stimme aus Taiwan

«Wir haben keine Demokratie mehr, die es wert ist, verteidigt zu werden»

Joanna Lei. (Bild
autumnapo/wikipedia)

Johanna Lei geht mit ihrem Land hart ins Gericht. Der Konfrontationskurs zur Volksrepublik China sei gefährlich. Die USA gössen Öl ins Feuer.

Interview von Joanna Lei* geführt von Pierre Heumann

(21. März 2023) Die taiwanesische Oppositionspolitikerin Joanna Lei wirft der Regierung in Taipeh vor, die Demokratie abzubauen und sich von der Volksrepublik stärker abgrenzen zu wollen. Lei setzt stattdessen auf eine friedliche Koexistenz mit Festlandchina, zum Beispiel durch die Gründung eines «Commonwealth». Das errege Unmut in Washington. Die USA wollten auf Kosten Taiwans ihre eigenen Interessen durchsetzen, so Lei. Sie befürchtet, dass Amerika die kleine Republik China, also Taiwan, für einen Stellvertreterkrieg gegen die Volksrepublik benutzen könnte.

(Grafik APA/ORF.at)
Weltwoche: Frau Lei, Xi Jinping, der Präsident der chinesischen Volksrepublik, versucht, die Wiedervereinigung der beiden Chinas mit Gewalt voranzutreiben. Macht Ihnen das Angst?

Joanna Lei: Das Streben nach Wiedervereinigung ist nicht neu. Davon ist seit vielen Jahren die Rede. Aber obwohl sowohl Taiwan als auch die Volksrepublik behaupten, dass sie die einzigen legitimen Vertreter von ganz China seien, hat es seit 1958 keinen Krieg gegeben.

Damals führten die Spannungen zwischen der Volksrepublik China und der Republik China letztmals zu einem bewaffneten Konflikt um strategische Inseln in der Strasse von Taiwan.

Seither haben wir Frieden, bereits seit 65 Jahren. Doch dann landete die damalige Sprecherin des amerikanischen Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, in Taipeh …

… das war im August 2022.

Worauf Peking gleich ein neues «White Paper» über die Beziehungen zu Taiwan und die Wiedervereinigung publizierte. Dass sich die Volksrepublik darin das Recht vorbehielt, die Wiedervereinigung mit Gewalt anzustreben, war nicht neu. Das stand schon in den beiden «White Papers» von 1983 und von 2000. Doch nach Pelosis Besuch in unserer Hauptstadt kamen zwei Bestimmungen hinzu.

Welche?

Sollte es zu einer ausländischen Intervention kommen oder die Unabhängigkeit Taiwans deklariert werden, wäre die gewaltsame Wiedervereinigung die Folge. Das hat bereits jetzt Konsequenzen. Peking hält sich nicht mehr an die Mittellinie in der Meerenge von Taiwan.

Sie sprechen von der inoffiziellen Grenze zwischen der Volksrepublik und Taiwan, die bisher respektiert wurde.

Jetzt nicht mehr. Nach Pelosis Besuch überquerten Pekings Kampfflugzeuge und Kriegsschiffe diese inoffizielle Grenze.

Befürchten Sie jetzt, dass Taiwan wie die Ukraine angegriffen werden könnte?

Ich weiss, dass dieses Szenario, der Vergleich zwischen der Ukraine und Taiwan, im Westen derzeit intensiv diskutiert wird, in den USA, in Europa, in Japan und in Australien. Aber ich sage es nochmals: In den letzten Jahrzehnten haben wir, Gegensätze hin oder her, den Frieden stets bewahren können. In den ersten drei Jahren der Regierungszeit unserer Präsidentin Tsai Ing-wen …

… also von 2016 bis 2018 …

… sind knapp vier Millionen Taiwanesen aufs chinesische Festland migriert. Zurzeit studieren oder arbeiten mehr als 1,5 Millionen Taiwanesen in der Volksrepublik. Obwohl die Rhetorik über die Taiwanstrasse extrem feindselig wurde, trafen Geschäftsleute und die Bevölkerung ihre eigenen Entscheide und profitierten vom relativen Frieden und von der Stabilität der vergangenen Jahre. Die Volksrepublik ist für uns ja der wichtigste Markt. Die Hälfte unsere Exporte geht dorthin.

Läuft das am Ende auf eine Defacto-Wiedervereinigung hinaus?

Es ist, um ein chinesisches Sprichwort zu gebrauchen, wie bei einem Fluss. Es ist unmöglich, ihn mit einem Messer entzweizuschneiden. Wir müssen deshalb so schnell wie möglich die Friedensagenda voranbringen.

Wie würde die friedliche Lösung aussehen?

Es gibt verschiedene Varianten; zum Beispiel eine Commonwealth-Lösung, bei der Taiwan nicht Teil des chinesischen politischen Systems wird. In früheren «White Papers» war die Volksrepublik sogar damit einverstanden, unterschiedliche Nationalflaggen, Landeshymnen oder nationale Identitäten zu akzeptieren. Seit Pelosis Besuch in Taiwan will sie aber nichts mehr davon wissen.

Wie wappnet sich Taiwan gegen die Eskalation?

Erstens wurde für die jungen Männer die Dienstzeit verlängert, und zwar von vier Monaten auf ein Jahr. Diese Bestimmung gilt ab Januar 2024. Damit vollzieht unsere Regierung eine Kehrtwende. Erst 2018 war bei uns die Wehrpflicht von einem Jahr auf vier Monate verkürzt worden. Zweitens wurde die Verteidigungsstrategie komplett umgestaltet. In der Vergangenheit kauften wir Plattformen, grosse Schiffe oder Flugzeuge, so dass wir offshore kämpfen können. Taiwan ist ja bekanntlich eine extrem kleine Insel ohne strategische Tiefe. Jetzt setzt die Armee auf asymmetrische Kriegsführung und kauft kleinere, beweglichere Waffen. Die jüngste Anschaffung ist ein System zur Verlegung von Panzerabwehrminen an der Küste Taiwans. Das jagt den Bürgern ziemlich grosse Angst ein.

Weshalb?

Wir wollen keinen Krieg auf unserer kleinen Insel, weil er schnell in unseren Städten und Dörfern ausgetragen würde. Angst macht den Bürgern auch, dass die Zahl der Amerikaner, die unsere Soldaten trainieren, erhöht wurde. Das gibt uns das Gefühl, dass ein Krieg bevorstehen könnte. Anderseits glauben wir nicht wirklich, dass die Volksrepublik einen totalen Krieg gegen Taiwan lancieren wird.

Wäre Taiwan Ihrer Meinung nach für eine militärische Konfrontation mit Peking stark genug?

Keineswegs. Das zeigen alle Kriegsszenarien des Center for Strategic and International Studies (CSIS). In keinem haben wir die geringste Chance zu gewinnen. Ohne Verstärkung durch die USA und/oder Japan kann sich Taiwan nicht erfolgreich verteidigen.

US-Präsident Joe Biden versicherte im Herbst einmal mehr, dass US-Truppen im Falle einer Invasion Taiwans gegen die Volksrepublik China kämpfen würden. Damit wollte er wohl Peking vor den Folgen einer Invasion Taiwans warnen, ohne die «strategische Zweideutigkeit» zugunsten einer «strategischen Klarheit» völlig aufzugeben.

Von der Zusicherung Bidens halte ich nicht viel. Die USA haben Taiwan in der Vergangenheit wiederholt enttäuscht und sich der Volksrepublik angenähert, stets auf unsere Kosten. 1978 anerkannte Washington die Volksrepublik und brach kurz darauf die diplomatischen Beziehungen zu Taiwan ab. Was besonders hässlich war: Die Amerikaner informierten unseren Präsidenten damals mitten in der Nacht. Uns ist deshalb klar, dass die Vereinigten Staaten nicht immer aufgrund unserer Interessen entscheiden, sondern die eigenen in den Vordergrund rücken. Die strategische Zweideutigkeit hat deshalb nichts mit Taiwan zu tun, sondern dient ausschliesslich den USA.

Wen hätten Sie jetzt denn lieber im Weissen Haus, Trump oder Biden?

Anfangs dachten wir, Trump sei schrecklich, weil er gegen die Globalisierung war. Jetzt aber sehen wir, dass Biden die Kluft zwischen West und Ost weiter öffnet. Zudem hat Biden die Chip-Fabrik TSMC von Taiwan nach Arizona geholt, was vor allem politisch motiviert war. Was sonst drei Jahre dauert, wurde in nur drei Monaten durchgezogen. Amerika holte die ganze Fabrik zu sich, samt Arbeitnehmern, deren Familien und deren Hunde. Alle wanderten nach Arizona aus. Sie sehen: Wenn immer es um amerikanische Interessen geht, müssen wir zurückstecken.

Taiwans Präsidentin Tsai wird im nächsten Jahr zurücktreten. Wie beurteilen Sie ihre Amtszeit nach acht Jahren?

Sie ist enttäuschend. Unter ihrer Regierung wurde Taiwan zunehmend eine illiberale Demokratie. Es wurden politische Parteien und politische Organisationen aufgelöst. Sie liess ein Gesetz neu aufleben, laut dem die Regierung das Eigentum der Opposition konfiszieren darf. Dazu gehört auch meine Partei, die Kuomintang. Zudem wurde eine Kommission gegründet, die das Recht hat, unsere Geschichte neu zu interpretieren. Taiwan ist nicht mehr die liberale Demokratie, als die sie sich gerne gibt. Wir haben keine Demokratie mehr, die es wert ist, verteidigt zu werden.

Wie bitte?

Im Westen steht die Demokratie auf der Werteliste ganz oben, zusammen mit Freiheit und Gleichheit. Aber wichtiger ist doch das Recht zu leben. Wenn wir nur von Demokratie, Freiheit und Gleichheit sprechen, ohne über das Recht zu leben zu sprechen, und sogar bereit sind, Taiwan in den Krieg zu stossen, dann bedeutet das, dass wir für die drei anderen Werte grosse Opfer bringen. Das wäre gegenüber den Taiwanesen nicht fair. Deshalb würden wir gerne sehen, dass Menschen auch die Friedensagenda hochhalten und vorantreiben.

Das klingt so, als würden Sie sagen wollen, der Westen treibe Taiwan in den Krieg.

Wir sehen die Gefahr, dass die USA Taiwan für einen Stellvertreterkrieg gegen die Volksrepublik benutzen könnten. Es wäre ein Krieg für die USA – und nicht für uns.

* Joanna Lei, 1958, studierte an der Nationalen Universität Taiwan und an der Annenberg School for Communication der Universität von Pennsylvania, USA. Joanna Lei war als Abgeordnete im taiwanesischen Parlament. Dabei engagierte sie sich besonders für die Rechte von Hausangestellten und Wanderarbeitern. Ausserdem organisierte sie Petitionen, um die Familie als Institution zu stärken. Seit 2017 ist sie Vorsitzende der Nationalen Frauenliga.

Quelle: Weltwoche Nr. 7/2023 vom 16. Februar 2023
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

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