Zielt die Niederlage in Afghanistan darauf ab, Russland und China zu behindern?

Thierry Meyssan (Bild
réseau voltaire)

von Thierry Meyssan*

(30. September 2021) Die grossen Medien teilen sich hinsichtlich der Interpretationen des Sturzes von Kabul in zwei Gruppen. Für die einen sind die Demokraten Feiglinge, und der Abmarsch aus Afghanistan entmutigt die Alliierten. Für die anderen haben sie gut gespielt und die Russen und Chinesen in die Klemme genommen. Beide Sichtweisen entsprechen dem traditionellen Paradigma des US-Imperiums. Aber für Thierry Meyssan ist Washington seit dem 11. September 2001 in den Händen der Anhänger der «Rumsfeld-Cebrowski-Doktrin».

Die USA verhalten sich jetzt wie Erpresser. Das Chaos in Afghanistan wird auf Dauer anhalten. Russische, chinesische und europäische Unternehmen, die wünschen Bergbau in diesem Land zu betreiben, können es tun, aber nur, wenn sie ihre Sicherheit den US-Streitkräften anvertrauen. Diejenigen, die diesen Schutz ablehnen, werden nicht berücksichtigt.

Der Sturz von Kabul führte zu schrecklichen Fluchtszenen und Verzweiflung. Lassen wir die Tatsache beiseite, dass die Flüchtenden mehrheitlich keine friedlichen Übersetzer der westlichen Botschaften waren, sondern Kollaborateure der US-Aufstandsbekämpfung mit Blut an den Händen. Was wir sehen, ist ein Debakel, das uns den Glauben an die Macht Amerikas verlieren lassen sollte.

  • 51% der US-Amerikaner missbilligen die Aussenpolitik von Präsident Joe Biden.

  • 60% missbilligen besonders seine Afghanistan-Politik

  • 63% sagen, dieser Krieg sei es nicht wert, geführt zu werden.1

Fast alle US-Amerikaner, die im Irak gekämpft haben, sind sehr schockiert.

Freiwillige Abgabe der Macht an die Taliban?

Schlimmstenfalls ist jedoch klar, dass Washington genau wusste, dass die afghanische Armee sich gegen die Taliban – theoretisch dreimal weniger zahlreich und viel weniger gut ausgerüstet – nicht behaupten würde. Das Combating Terrorism Center (CTC) von West Point hatte im Januar eine Studie veröffentlicht, um diese vorhersehbare Katastrophe anzukündigen.2 Die Frage war also nicht, ob die Taliban gewinnen würden, sondern wann Präsident Biden sie gewinnen lassen würde.

Die Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban, die seit Jahren andauerten und plötzlich von Präsident Biden abgeschlossen wurden, müssen als freiwillige Abgabe der Macht an die Taliban interpretiert werden. Es stellt sich somit die Frage, ob hunderttausende Tote, astronomische Summen und die Bemühungen von vier aufeinander folgenden Präsidenten in Washington notwendig waren, um die Taliban aus Kabul zu vertreiben und sie dann dorthin zurückzubringen. Man kann sich auch fragen, weshalb Präsident Biden beschlossen hat, die Rolle des Besiegten zu übernehmen.

Das gleiche Unverständnis herrschte, als die Baker-Hamilton-Kommission zum Rückzug der USA aus dem Irak führte und der damalige Verteidigungsminister Donald Rumsfeld ohne zu zögern die Rolle des Besiegten übernommen hatte; Unverständnis, das auch noch vor drei Monaten bestand, als dieser Rumsfeld starb.

Es ist nun angebracht, nicht mehr auf die Politiker zu hören sondern das zu lesen, was die Militärverantwortlichen schreiben. Die Politiker sagen uns nur, was wir gerne hören: Wir sind immer auf der richtigen Seite und sind bereit für die Demokratie zu sterben. Die Militärverantwortlichen hingegen versuchen nicht, uns zu verführen, sondern zu verstehen, was von ihnen erwartet wird. Sie schreiben also nicht, um unseren Illusionen zu schmeicheln, sondern stellen die Realität ungeschminkt dar.

«Stabilität ist der Feind Amerikas»

Wie ich bereits mehrfach erklärt habe,3 veröffentlichte das US-Heer in den Tagen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 einen Artikel von Oberst Ralph Peters, der versicherte, dass die USA keine Kriege mehr gewinnen, sondern in einigen Teilen der Welt, insbesondere im «Greater Middle East» [Grossraum Mittlerer Osten], Instabilität schaffen müssten. Er versicherte weiter, dass die Staaten nach ethnischen Kriterien zusammengesetzt werden müssten, also die gemischten Völker getrennt werden sollten, und dass dies nur mit ethnischen Säuberungen und anderen Verbrechen gegen die Menschheit geschehen könne. Er beendete seinen Vortrag mit der Zusicherung, dass das Pentagon seine Macht auch an Söldner delegieren könnte, um die Drecksarbeit zu erledigen.4 In den gefühlsbeladenen Tagen des 11. September hat niemand diesen Artikel aufgegriffen, der offen die Vorbereitung abscheulicher Verbrechen forderte.

Fünf Jahre später veröffentlichte Ralph Peters die Karte, an der das Komitee der Generalstabschefs 2001 arbeitete.5 Da wurden alle Generalstäbe im erweiterten Nahen Osten von Panik ergriffen: Niemand war geschützt, nicht einmal die Verbündeten der USA. Es folgten verschiedene Änderungen in den bisherigen Bündnissen. Aber erst 2011 mit dem Angriff auf Libyen (damals Verbündeter der USA) konnte man ermessen, was vor sich ging.

Seither konnten wir feststellen, dass der Krieg in Afghanistan, der bis zur Flucht von Osama bin Laden dauern sollte, seit 20 Jahren andauert; dass der Krieg in Irak, der bis zum Sturz von Präsident Saddam Hussein dauern sollte, seit 17 Jahren andauert; dass der Libyen-Krieg, der bis zum Sturz des Führers Muammar al-Gaddafi dauern sollte, seit 10 Jahren andauert; dass der Syrien-Krieg, der bis zum Sturz von Präsident Baschar al-Assad dauern sollte, seit 10 Jahren andauert. Darüber hinaus haben wir erfahren, wie Al-Kaida (historisch gesehen eine Schöpfung der CIA) und der Islamische Staat (IS) (historisch gesehen eine Schöpfung von Botschafter John Negroponte) Verbrechen gegen die Menschheit begangen haben, die alle in die von Oberst Ralph Peters angekündigte Richtung gingen. Und wir wissen, dass diese terroristischen Organisationen von den Briten und den Amerikanern finanziert, bewaffnet und geschult werden.

Ja, der von Präsident George W. Bush erklärte «Krieg ohne Ende» dient nicht der «Terrorbekämpfung», sondern instrumentalisiert den Terrorismus, um eine ganze Weltregion zu «destabilisieren». So lautete der Titel des Artikels von Oberst Peters im Jahr 2001: «Stabilität ist der Feind Amerikas».

«Die Welt aus dem Hintergrund beherrschen, um sich so viel Kapital wie möglich zu verschaffen»

Mit diesem Wissen müssen wir den Fall Kabuls angesichts dieser Strategie neu interpretieren. Zwei Jahre lang, in den Jahren 2002–2003, begab sich Admiral Arthur Cebrowski in alle US-Militärakademien, um sie zu erläutern. Er traf sich mit allen derzeit aktiven US-Generalstabsoffizieren. Diese Strategie wurde von Cebrowskis Assistent Thomas Barnett für die breite Öffentlichkeit verständlich gemacht – übersetzt wurde sein Buch6 jedoch nicht.

Der Fall Kabuls entspricht dem Kern des Zieles dieser Strategie unter der Bedingung, dass es den Taliban nicht gelingt, ein stabiles Regime zu errichten – und ohne Verbündete werden sie es nicht schaffen können.

Die Flucht der Kollaborateure der US-Aufstandsbekämpfung wird, wenn es ihnen gelingt, sich als friedliche Übersetzer auszugeben, ermöglichen, den Terrorismus in den Aufnahmeländern auszuweiten. Davor warnt Präsident Wladimir Putin bereits. Die Übergabe der militärischen Ausrüstung der afghanischen Armee an die Taliban wird es ihnen ermöglichen, ihre Nachbarn anzugreifen. Im Gegensatz zum IS verfügen die Taliban ab sofort über eine biometrische Datei fast ihrer gesamten Bevölkerung und über eine Luftwaffe mit einer Flotte von mehr als 200 Kampfflugzeugen. Der Krieg in Zentralasien wird also noch viel schrecklicher sein als der Krieg im Grossraum Mittlerer Osten.

Und nun noch eine wichtige Sache. Manche Kommentatoren sind der Meinung, dass Washington Afghanistan aufgegeben habe, um Russland und China Probleme zu bereiten. Das ist überhaupt nicht die Rumsfeld-Cebrowski-Strategie. Letzterer ist der Ansicht, dass diese Grossmächte nicht bekämpft werden sollten, sondern im Gegenteil, sie müssen zu «Kunden» gemacht werden. Man muss ihnen helfen, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und viele andere Länder auszubeuten, aber nur unter dem Schutz der amerikanischen Armee.

Verstehen Sie es richtig: Washington sieht sich nicht als Rivale des Römischen Reiches, sondern als Erpresser. Es baut nirgendwo Triumph-Bögen zu seinem Ruhm und akzeptiert sogar, dass sein Präsident Joe Biden in Afghanistan besiegt wird. Es versucht, die Welt aus dem Hintergrund zu beherrschen um sich so viel Kapital wie möglich zu verschaffen.

Sind Sie der Meinung, das sei ein Szenario der Apokalypse? Dann sagen Sie mir, wo die Lücke in meiner Argumentation ist!

Quelle: https://www.voltairenet.org/article213829.html, 25. August 2021

(Übersetzung Horst Frohlich, Korrekturlesen Werner Leuthäusser/Schweizer Standpunkt)

* Thierry Meyssan ist Politischer Berater und Gründungspräsident des Voltaire Netzwerk. Sein aktuellstes Buch in Französisch heisst: Sous nos yeux – Du 11-Septembre à Donald Trump und liegt auch auf Englisch vor.

1 «Afghanistan war unpopular amid chaotic pullout», AP-NORC poll, by Josh Boak, Hannah Fingerhut & Ben Fox, August 19, 2021. «Nationwide Issues Survey», Convention of States Action-Trafalgar Group, August 2021.

2 «Afghanistan’s Security Forces Versus the Taliban: A Net Assessment», Jonathan Schroden, CTC Sentinel, January 2021 (Vol 14, #1).

3 Siehe unter anderem «Comment redessiner le Moyen-Orient?» in L’Effroyable imposture II, par Thierry Meyssan, 1ère éd. Alphée (2006), 2e éd. Demi-Lune (2020).

4 «Stability. America’s enemy», Ralph Peters, Parameters, #31-4, Winter 2001.

5 «Blood borders. How a better Middle East would look», Ralph Peters, Armed Forces Journal, June 1, 2006.

6 «The Pentagon’s New Map: War and Peace in the Twenty-first Century», Thomas P. M. Barnett, Paw Prints (2004). Deutsche Version: «Der Weg in die Weltdiktatur: Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert. Die Strategie des Pentagon», J-K-Fischer (2016).

 

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