Zwei Arten der Aussenpolitik

Thierry Meyssan (Bild
réseau voltaire)

von Thierry Meyssan

(10. August 2021) Die Aussenpolitik zielt darauf ab, Konflikte mit den Nachbarn zu verhindern und friedliche Beziehungen untereinander zu entwickeln. Die Westmächte haben dieses Ziel jedoch aufgegeben, um ihre kollektiven Interessen auf Kosten der anderen Akteure zu fördern.

Jedes Jahrhundert der internationalen Beziehungen ist von den Initiativen einiger aussergewöhnlicher Männer geprägt. Die Art und Weise, wie sie die Aussenbeziehungen ihres Landes betrachten, beruht auf gemeinsamen Grundsätzen.

Nehmen wir als jüngste Beispiele die Fälle des Inders Jawaharlal Nehru, des Ägypters Gamal Abdel Nasser, des Indonesiers Sukarno, des Chinesen Zhou En Lai, des Franzosen Charles de Gaulle, des Venezolaners Hugo Chávez und heute des Russen Wladimir Putin oder des Syrers Bachar al-Assad.

Identität oder Geopolitik

Diese Männer haben in erster Linie versucht, ihr Land zu entwickeln. Sie haben ihre Aussenpolitik nicht auf eine geopolitische Strategie gestützt, sondern auf die Identität ihres Landes. Im Gegensatz dazu sieht der heutige Westen die internationalen Beziehungen als Schachbrett, auf dem man mittels einer geopolitischen Strategie eine neue Weltordnung durchsetzen kann.

Der Begriff «Geopolitik» wurde Ende des 19. Jahrhunderts vom Deutschen Friedrich Ratzel kreiert. Er hat auch das Konzept des «Lebensraums» erfunden, das die Nazis schätzten. In seinen Augen war es legitim, die Welt in grosse Reiche zu unterteilen, darunter Europa und der Nahe Osten unter deutscher Herrschaft.

Der US-Amerikaner Alfred Mahan träumte von einer Geopolitik, die auf der Kontrolle der Meere beruhte. Er beeinflusste Präsident Theodor Roosevelt, der die USA in eine Politik der Eroberung der Meerengen und transozeanischen Kanäle trieb.

Der Brite Halford John Mackinder versteht die Erde als Herzland (Afrika, Europa und Asien) und zwei grosse Inseln (Amerika und Australien). Er behauptet, die Kontrolle des Hauptkontinents sei nur durch die Eroberung der grossen Ebene Mitteleuropas und Westsibiriens möglich.

Ein vierter Autor, der US-Amerikaner Nicolas J. Spykman versuchte eine Synthese der beiden vorgenannten Autoren zu schaffen. Er beeinflusste Franklin Roosevelt in Richtung auf die Eindämmungspolitik der Sowjetunion, das heisst auf den Kalten Krieg. Dies wurde von Zbigniew Brzezinski übernommen.

Geopolitik im engeren Sinne ist also keine Wissenschaft, sondern eine Strategie der Dominanz.

Smart power

Wenn wir auf die Beispiele der grossen Männer des 20. und 21. Jahrhunderts zurückkommen, die nicht nur im eigenen Land, sondern auch im Ausland für ihre Aussenpolitik gefeiert wurden, dann stellen wir fest, dass ihre Aussenpolitik nicht an ihre militärische Fähigkeit gebunden war. Sie haben nicht versucht, neue Gebiete zu erobern oder zu annektieren, sondern das Bild, das sie von ihrem eigenen Land und seiner Kultur hatten, zu verbreiten. Wenn sie auch eine starke Armee – mit Atombomben – hatten, wie de Gaulle und Putin, konnten sie sich natürlich besser Gehör verschaffen. Aber dies war für sie nicht das Wesentliche.

Jeder dieser grossen Staatsmänner hat auch die Kultur seines Landes entwickelt. (z.B. Charles De Gaulle mit André Malraux). Es war ihnen sehr wichtig, die künstlerischen Schöpfungen ihres Landes zu preisen und ihr Volk mit diesen zu vereinen. Dann ging es darum, ihre Kultur im Ausland zu verbreiten.

In gewisser Weise war dies die «intelligente Macht» (Smart Power), von der der US-Amerikaner Joseph Nye sprach. Kultur ist genau so bedeutsam wie Kanonen, wenn man sie zu nutzen weiss. Warum denkt niemand daran, den Vatikan anzugreifen, der keine Armee hat? Weil das die Menschen schockieren würde.

Gleichheit

Die Staaten sind wie die Menschen, die sie bilden. Sie wollen Frieden, aber bekriegen sich leichtfertig. Sie streben nach der Anwendung bestimmter Grundsätze, aber vernachlässigen sie auch im eigenen Land und mehr noch in anderen Ländern.

Als man am Ende des Ersten Weltkriegs den Völkerbund gründete, wurden alle Mitgliedsstaaten als gleichwertig erklärt, aber die Briten und die USA weigerten sich, alle Völker als gleichberechtigt zu betrachten. Ihre Ablehnung löste übrigens den japanischen Expansionismus aus.

Die Vereinten Nationen (UNO), die nach dem Zweiten Weltkrieg an die Stelle des Völkerbundes traten, billigten zwar die Gleichheit der Völker, die Angelsachsen in ihrer Praxis aber nicht. Heute gründen die Westmächte zwischenstaatliche Organisationen zu allen Themen, zum Beispiel zur Pressefreiheit oder zur Bekämpfung der Cyberkriminalität. Aber sie tun es unter sich, indem sie andere Kulturen ausschliessen, insbesondere die russische und die chinesische. Sie gründen diese Organisationen, um sie an die Stelle der UN-Versammlungen zu setzen, in denen alle Staaten vertreten sind.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Es ist zum Beispiel völlig legitim, die G7-Staaten zusammenzubringen, um sich unter Freunden abzusprechen, aber es ist absolut inakzeptabel, zu siebt die Regeln der Weltwirtschaft festlegen zu wollen – und dabei sogar China als weltweit grösste Volkswirtschaft von dem Treffen auszuschliessen.

Das Recht und die Regeln

Die Idee einer rechtlichen Regelung der internationalen Beziehungen wurde von dem russischen Zar Nikolaus II. vorangetrieben. Er war es, der 1899 in Den Haag (Niederlande) die Internationale Friedenskonferenz einberief. Die radikalen französischen Republikaner, angeführt vom künftigen Friedensnobelpreisträger Léon Bourgeois, haben dort den Grundstein für das Völkerrecht gelegt.

Die Idee dazu ist einfach: Nur gemeinsam angenommene Grundsätze werden akzeptiert, niemals von den Stärkeren aufgezwungene. Diese Grundsätze müssen die Vielfalt der Menschheit widerspiegeln. So begann das Völkerrecht mit Zaristen und Republikanern, Russen und Franzosen.

Diese Idee wurde jedoch [nach zwei Weltkriegen und der UNO-Gründung] durch die Gründung der Organisation des Nordatlantikvertrags (Nato, selbsternanntes «einziges legitimes Entscheidungszentrum») vereitelt. Später kam die Gründung des Warschauer Pakts dazu. Diese beiden Bündnisse (die Nato von der Gründung an, der Warschauer Pakt auf der Grundlage der Breschnew-Doktrin) waren lediglich «Vereinbarungen zur kollektiven Verteidigung, die den besonderen Interessen der Grossmächte dienen sollen». In diesem Sinne verstossen sie beide formell gegen die Charta der Vereinten Nationen. Daher die Konferenz von Bandung (1955), auf der die Blockfreien Staaten die Haager Grundsätze wieder klarstellten.

Dieses Problem taucht heute wieder auf, jedoch nicht weil es eine neue Bewegung gibt, die dem Kalten Krieg entkommen will, sondern im Gegenteil, weil der Westen wieder zu einem Kalten Krieg gegen Russland und dieses Mal auch gegen China zurückkehren will.

In allen ihren Abschlusserklärungen der Gipfeltreffen berufen sich die westlichen Mächte nicht mehr auf das Völkerrecht, sondern nur noch auf «Regeln», die nie genauer erläutert werden. Diese rechtswidrigen Regeln werden je nach Bedürfnis der Westmächte auch im Nachhinein erlassen. Sie sprechen dann von einem «wirkungsvollen Multilateralismus», das heisst in Wirklichkeit von der Verletzung der demokratischen Grundsätze der UNO.

So ist es auch möglich, dass die Westmächte – obwohl das Völkerrecht das Selbstbestimmungsrecht der Völker anerkennt – die Unabhängigkeit des Kosovo ohne Volksbefragung und unter Verletzung einer Resolution des Sicherheitsrates anerkannt haben, die Unabhängigkeit der Krim haben sie jedoch abgelehnt, obwohl sie durch eine Volksbefragung gebilligt wurde. Die westlichen Regeln entsprechen somit einem Recht «à la carte».

Die Westmächte behaupten einerseits, jedes Land müsse die Gleichberechtigung seiner Einwohner respektieren, andererseits wehren sie sich vehement gegen die Gleichberechtigung aller Staaten.

Imperialismus oder Patriotismus

Die Westmächte, das selbsternannte «Lager der liberalen Demokratie» und «internationale Gemeinschaft», beschuldigen alle, die sich ihnen widersetzen als «autoritäre Nationalisten».

Daraus folgen künstliche Unterscheidungen und groteske Vermischungen, nur um den Imperialismus zu legitimieren. Warum werden Demokratie und Nationalismus gegeneinander ausgespielt? Tatsächlich kann Demokratie nur in einem nationalen Rahmen existieren. Warum wird Nationalismus mit Autoritarismus verbunden? Einzig um die Nationen zu diskreditieren.

Keiner der grossen Staatsmänner, die ich anfangs erwähnt habe, war US-Amerikaner oder deren Vasall. Dies ist die entscheidende Erklärung.

* Thierry Meyssan ist Politischer Berater und Gründungspräsident des Voltaire Netzwerk. Sein aktuellstes Buch in Französisch heisst: «Sous nos yeux – Du 11-Septembre à Donald Trump» und liegt auch auf Englisch vor.

Quelle: https://www.voltairenet.org/article213604.html, 6. Juli 2021
(Übersetzung Horst Frohlich/«Schweizer Standpunkt»)

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