Das Recht auf Entwicklung und nationales Interesse im globalen Kontext
Internationale Organisation für den Patriotischen Pakt – Forum 2025 Vereinte Nationen, Genf, Palais des Nations,
1. Oktober 2025
Hans Köchler,* Österreich
I
(24. Oktober 2025) Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat in ihrer Resolution 41/128 vom 4. Dezember 1986 das Recht auf Entwicklung als «unveräusserliches Menschenrecht» im individuellen und kollektiven Sinne definiert.1 Gemäss Artikel 1 Absatz 2 der Erklärung bedeutet dies, dass alle Völker das «unveräusserliche Recht auf volle Souveränität über alle ihre natürlichen Reichtümer und Ressourcen» geniessen.
IPPO, und Hans Köchler (Österreich), Vizepräsident des 2025-Forums.
(Bild zvg)
Die Werte und Grundsätze der Erklärung der Generalversammlung stehen in krassem Gegensatz zum Erbe des Kolonialismus und Imperialismus. Sie sind völlig unvereinbar mit der Politik der Ausbeutung in den Ländern des Globalen Südens, die von industriell fortgeschrittenen und militärisch mächtigen Staaten zu ihrem eigenen Vorteil und zur Schaffung von Wohlstand betrieben wird. Die historische Ungerechtigkeit wurde nur teilweise wiedergutgemacht. Mehrere Jahrzehnte lang überschatteten der bipolare Machtkampf des Kalten Krieges und später die Hegemonie einer globalen Supermacht die Bemühungen um die Schaffung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung, die die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1974 gefordert hatte. Die International Progress Organization hatte daraufhin 1979 in einer Expertentagung die moralischen, rechtlichen und sozialen Imperative eines solchen Systems skizziert.2
Da es die «vorrangige Verantwortung» der Staaten ist, «bei der Sicherstellung der Entwicklung miteinander zu kooperieren» (gemäss Artikel 3, Absätze 1 und 3 der Erklärung), muss das Recht auf Entwicklung auf der Grundlage der Gegenseitigkeit umgesetzt werden. Jede souveräne Nation muss alle anderen Nationen in dieser Hinsicht als gleichberechtigte Partner akzeptieren. Das bedeutet, dass jeder Staat bei der Verfolgung seiner nationalen Interessen das gleiche Recht aller anderen Staaten auf Entwicklung nach ihrer eigenen souveränen Entscheidung anerkennen sollte.
In unserem globalen Zeitalter muss Patriotismus daher auf gegenseitiger Basis definiert und praktiziert werden. Wie der Präsident der International Patriotic Pact Organization in seiner Neujahrsbotschaft vom 31. Dezember 2024 erklärte, darf das Prinzip «Liebe zu unserem eigenen Land» nicht dazu führen, dass die Interessen anderer Länder geopfert werden. Die International Progress Organization hatte dies 1979 als Achtung der «ethischen Grundsätze der gegenseitigen Verantwortung auf transnationaler Ebene» beschrieben, die eine Verpflichtung jedes Staates zum gemeinsamen Wohl der Menschheit beinhaltet.3
Eine exklusivistische, einseitige Politik des «Mein Land zuerst!», wie sie derzeit von einer der grossen Weltmächte verfolgt – und propagiert – wird, führt nur zu Konflikten und Spannungen und birgt die Gefahr des Ausbruchs – und der weiteren Eskalation – von erbitterten Handelskriegen. Ein solcher Ansatz destabilisiert die Weltwirtschaft und ist in keiner Weise mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) und der internationalen Rechtsordnung im Allgemeinen vereinbar. Jede Form von Unilateralismus, sei es im wirtschaftlichen oder diplomatischen Bereich, ist unvereinbar mit dem Geist der gleichberechtigten Entwicklung und dem Prinzip der friedlichen Koexistenz aller Staaten. Wie 1996 bei der Rundtischkonferenz der International Progress Organization (I.P.O.) bei den Vereinten Nationen in Wien betont wurde, «kann die Frage der Entwicklung nicht von der Frage einer gerechten Weltordnung getrennt werden».4
Burkina Faso, Kamerun, China, Indien, Irak, Mauretanien, Pakistan, Russland, Senegal, Serbien und Sri Lanka. (Bild zvg)
II
Ungeachtet der Erklärungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen und anderer internationaler Gremien hat sich die imperialistische Denkweise früherer Jahrhunderte – die von Anfang an im Widerspruch zum Recht der Völker auf Entwicklung stand – in Form der heutigen einseitigen Sanktionspolitik der westlichen Grossmächte, die sich über die Mehrheit der Weltbevölkerung hinwegsetzen, weiter behauptet. Durch ihre wirtschaftlichen Zwangsmassnahmen, die unter Verletzung der Charta der Vereinten Nationen und unter Missachtung zahlreicher Resolutionen von UN-Gremien verhängt werden, versuchen diese Staaten, ganze Völker ihrem Willen zu unterwerfen, wodurch sie die betroffenen Länder in die Armut treiben, Konflikte weiter eskalieren lassen und ganze Regionen destabilisieren (wie dies beispielsweise im Nahen Osten der Fall ist).
Diese Massnahmen sind nicht nur eine Form der Kollektivstrafe und damit ein Verstoss gegen grundlegende Normen des Völkerrechts, sondern sie untergraben auch das Recht auf Entwicklung. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden diese Politiken durch das Fehlen eines Machtgleichgewichts ermöglicht und werden in einem Umfeld, in dem eine neue multipolare Ordnung noch nicht fest etabliert ist, weiterhin in gewisser Weise gefördert. Die nationalen – insbesondere strategischen – Interessen eines einzelnen Landes oder einer Gruppe von Ländern (wie der EU) über die Interessen aller anderen zu stellen, ist jedoch eine grosse Gefahr für den Weltfrieden und die globale Sicherheit.
Ein wirksames Gegenmittel gegen den Unilateralismus und die damit einhergehende Herausforderung des Rechts auf Entwicklung könnte die Ausformung und allmähliche Verfestigung eines multipolaren Machtgleichgewichts sein, in dem jede Nation, einschliesslich der wichtigsten Akteure, die Verfolgung ihrer nationalen Interessen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit aushandeln muss. Der Anreiz für multilaterales Handeln könnte somit von den Realitäten einer neuen Machtkonstellation ausgehen, die sich aus neuartigen Initiativen auf regionaler und globaler Ebene ergibt, wie beispielsweise der Zusammenarbeit zwischen den BRICS-Staaten oder der Shanghai Cooperation Organisation. Diese Initiativen könnten auch dazu beitragen, den Einfluss des ideologisch überholten neoliberalen Wirtschaftssystems zu verringern, das nur die kolonialen Machtstrukturen fortschreibt.
Von grosser Bedeutung in diesem Zusammenhang wird die Schaffung alternativer Modelle der wirtschaftlichen und finanziellen Zusammenarbeit sein, einschliesslich Transaktionen in anderen Währungen als dem US-Dollar, um den Druck oder die Gefahr von Einmischungen – insbesondere durch sogenannte «sekundäre» (d. h. extraterritoriale) Sanktionen – durch unilaterale Akteure zu verringern oder letztendlich zu vermeiden, die versuchen, ihre eigene Agenda durchzusetzen und ihre nationalen Interessen «an erste Stelle» zu setzen.5
Die Gründung der Neuen Entwicklungsbank durch die BRICS-Staaten war ein wichtiger Schritt in Richtung wirtschaftlicher Souveränität und ebnete den Weg für ein gerechteres System des globalen Finanz- und Handelsaustauschs. Solche Initiativen bieten die Chance, Entwicklung nachhaltig zu gestalten und insbesondere die Länder des globalen Südens vor Einmischung und willkürlichen Massnahmen von aussen zu schützen. Nur Nachhaltigkeit macht das Recht auf Entwicklung sinnvoll.
| * Prof. Hans Köchler ist emeritierter Professor für Philosophie, Universität Innsbruck, Österreich, Präsident der International Progress Organization (I.P.O.) und Gründungsmitglied der International Patriotic Pact Organization. |
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(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)
1 Artikel 1 der Erklärung über das Recht auf Entwicklung.
2 «The New International Economic Order – Philosophical and Socio-cultural Implications» [Die neue internationale Wirtschaftsordnung – philosophische und soziokulturelle Implikationen]. Wien, 2. bis 3. April 1979. Tagungsband veröffentlicht in: Studies in International Relations, Band III. Guildford (England): Guildford Educational Press, 1980.
3 Hans Köchler (Hrsg.), Kommuniqué, «Global Aspects of the New International Economic Order» [Globale Aspekte der neuen internationalen Wirtschaftsordnung], in: The New International Economic Order: § 6, S. 103.
4 Hans Köchler (Hrsg.), Economic Sanctions and Development [Wirtschaftssanktionen und Entwicklung]. Wien: International Progress Organization, 1997, S. 11.
5 Zur Rechtswidrigkeit solcher Massnahmen vgl. Köchler, «Sanctions and International Law», in: International Organisations Research Journal, Bd. 14, Nr. 3 (2019) («Economic Sanctions, Global Governance and the Future of World Order»), S. 27–47.