Das tamilische Volk: «Missachtete Opfer»

Alfred de Zayas (Bild zvg)

von Alfred de Zayas,* Genf

(25. Januar 2023) Die Tamilen auf der Insel Sri Lanka (Ceylon) gehören zu der Kategorie von Opfern schwerer Menschenrechtsverletzungen, die nur wenige in der Welt als Opfer anerkennen wollen. Nicht nur heute, sondern auch in den vergangenen 50 Jahren, in denen ich in verschiedenen Funktionen in Organen der Vereinten Nationen und in Menschenrechtsorganisationen tätig war, habe ich viele Tamilen getroffen und dabei festgestellt, dass die Tamilen im Gegensatz zu anderen Opfern nicht die Aura der Empathie geniessen, die anderen Opfergruppen zugute kommt.

Ich habe auch gesehen, wie im Menschenrechtssystem einige Opfer als «politisch korrekt» gelten und die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen, während andere Opfer deutlich ignoriert und vergessen werden – schlimmer noch, sie werden als «Terroristen» diffamiert, so dass niemand Mitgefühl für sie empfindet.

Die unglücklichen Palästinenser werden in ähnlicher Weise als «Terroristen» diffamiert, und ihre Menschenrechte werden systematisch verletzt, aber zumindest wissen wir über sie Bescheid, und viele internationale Anwälte wie die Professoren Richard Falk und Francis Boyle verteidigen ihre Rechte.

In der Südspitze Indiens leben etwa 70 Millionen Tamilen. Das sind 5,9% der indischen Bevölkerung, die vor allem in Tamil Nadu und Puducherry leben. Während der Kolonialzeit wurden viele Tamilen als billige Arbeitskräfte von Indien nach Südafrika verschleppt, darunter auch die Eltern von Navi Pillay, der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte (2008–2014).

Eelam-Tamilen und «Opfersolidarität»

Etwa drei Millionen Tamilen leben in den nördlichen und östlichen Provinzen der Insel Sri Lanka, die meisten von ihnen als Eelam-Tamilen bekannt, und es gibt eine grosse Diaspora in Kanada, dem Vereinigten Königreich und Deutschland. Über diese unglücklichen Menschen schreibe ich. Die Vorfahren der Eelam-Tamilen liessen sich vor mehr als zwei Jahrtausenden in Sri Lanka nieder.

Das Phänomen sich zu fragen, wer in die Kategorie der «Konsensopfer» gehört, ist nicht neu und wird sich wahrscheinlich fortsetzen, ebenso wie der ungebührliche Wettbewerb unter den Opfern. Als leitender Jurist bei den Vereinten Nationen habe ich immer für «Opfersolidarität» plädiert, damit die Aufmerksamkeit der NGOs und der Medien grosszügig allen zuteil wird, deren Rechte und Würde verletzt worden sind.

Verweigerung der Selbstbestimmung durch die Behörden in Colombo

Das Kernproblem bei den Menschenrechten der Eelam-Tamilen ist die Verweigerung der internen und externen Selbstbestimmung durch die Behörden in Colombo. Dies ist besonders ärgerlich, da der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR) eindeutig das Recht auf Selbstbestimmung ALLER Völker festschreiben. Dieser Artikel ist zwar geltendes Recht – aber er ist nicht selbstausführend:

«1. Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.

2. Alle Völker können für ihre eigenen Zwecke frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen, unbeschadet aller Verpflichtungen, die aus der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigen Wohles sowie aus dem Völkerrecht erwachsen. In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden.

3. Die Vertragsstaaten, einschliesslich der Staaten, die für die Verwaltung von Gebieten ohne Selbstregierung und von Treuhandgebieten verantwortlich sind, haben entsprechend den Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen die Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung zu fördern und dieses Recht zu achten.»

Selbstbestimmungsrecht «à la carte»?

Die Doktrin besagt, dass das Recht an die Menschen und nicht an die Staaten gebunden ist. Zweifellos sind die Tamilen Sri Lankas ein «Volk» und haben nach ICCPR und ICESCR das Recht auf Selbstbestimmung. Bisher war die politische Konstellation ungünstig, wie auch im Fall der Igbos und Ogonis in Biafra, der Kurden in der Türkei, Syrien, Irak und Iran, der Katalanen in Spanien und der Korsen in Frankreich. Diese Völker könnten sich zu Recht auf die so genannte «remedial secession» berufen, da gegen sie schwere Menschenrechtsverletzungen begangen wurden. Dennoch haben weder die Vereinten Nationen noch die internationale Gemeinschaft einen Finger gerührt, um ihnen zu helfen.

Die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts in Estland, Lettland, Litauen, Tschechien, der Slowakei, Slowenien, Kroatien, Bosnien, Mazedonien und Montenegro geschah, weil die Grossmächte dies unterstützten und dem Selbstbestimmungsrecht Vorrang vor dem Grundsatz der territorialen Integrität einräumten. Die Begründetheit eines jeden Falles war nicht ausschlaggebend für den Erfolg der Forderung. Es war nicht die grundlegende Gerechtigkeit, sondern die geopolitische Umstrukturierung, die zur Unabhängigkeit dieser Völker führte.

Wie ich 2014 in meinem Bericht an die UN-Generalversammlung2 schrieb und in meinem Buch «Building a Just World Order»3 mit seinen 25 Prinzipien der internationalen Ordnung wiederholte, ist die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts eine Strategie zur Konfliktvermeidung. Hier ein Auszug aus Prinzip 10:

«Alle Völker ohne Ausnahme sind Träger des Selbstbestimmungsrechts. Die Pflichtenträger sind alle Staaten, die Mitglieder der UNO sind. Die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts ist ein Ausdruck der Demokratie, da die Demokratie ein Ausdruck der Selbstbestimmung ist. […] Die Vereinten Nationen haben eine wesentliche Vermittlerrolle zwischen Staaten und Völkern und sollten Selbstbestimmungsreferenden als Konfliktverhütungsmassnahme durchführen, da sich Beschwerden über das Selbstbestimmungsrecht oft zu einer Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit im Sinne von Artikel 39 der UN-Charta entwickeln. Das Selbstbestimmungsrecht hat nicht nur eine kollektive, sondern auch eine individuelle Dimension. Darüber hinaus ist das Recht, ein Referendum einzuberufen und durchzuführen, durch Artikel 19 des ICCPR geschützt.»

In meiner Eigenschaft als Unabhängiger Experte für internationale Ordnung habe ich dafür plädiert, dass die Vereinten Nationen in allen umstrittenen Gebieten Referenden organisieren und überwachen sollten, um zu erfahren, was die Mehrheit der Bevölkerung für sich und ihre Kinder will. Die Vereinten Nationen haben Volksabstimmungen in Timor-Leste, Äthiopien/Eritrea und im Sudan organisiert, aber erst nachdem Zehntausende von Menschen in bewaffneten Konflikten ihr Leben verloren hatten. Im wahrsten Sinne des Wortes haben die Vereinten Nationen Millionen von Menschen in der Welt im Stich gelassen, indem sie zu grossen Ungerechtigkeiten und Missständen geschwiegen haben und nicht rechtzeitig Vorschläge zur Erleichterung des Dialogs und, wo nötig, der friedlichen Sezession formuliert haben.

Selbstbestimmungsrecht ist Teil des fundamentalen Naturrechts

In meinen Berichten an den Menschenrechtsrat und die Generalversammlung habe ich die Schaffung der Funktion eines Sonderberaters des Generalsekretärs für Selbstbestimmung und die Schaffung der Funktion eines Sonderberichterstatters des Menschenrechtsrates für Selbstbestimmung vorgeschlagen. Ich habe auch dafür plädiert, dass der Menschenrechtsrat das Thema Selbstbestimmung zu einem ständigen Tagesordnungspunkt macht, so wie es ein ständiger Tagesordnungspunkt der früheren Menschenrechtskommission war.

Erinnern wir uns auch daran, dass das Selbstbestimmungsrecht Teil des fundamentalen Naturrechts ist, wie es Francisco de Vitoria bereits im 16. Jahrhundert anerkannt hat. Noch bevor wir uns mit dem Naturrecht und seiner Metaphysik befassen, müssen wir anerkennen, dass die Selbstbestimmung ein angeborener Impuls ist, ein Instinkt für Freiheit, Identitätsgefühl, Individualismus und Selbstverwirklichung. Die Selbstbestimmung ist keineswegs die Quelle von Konflikten, sondern eine Voraussetzung für das Zusammenleben.

Der Konflikt entsteht nicht durch die Ausübung des Rechts, sondern durch dessen ungerechte Verweigerung. Sie ist keineswegs eine Form der Anarchie, sondern ein Baustein zivilisierten Regierens, die Quelle einer gerechten Gesellschaft, die auf gleichen Rechten und gleichen Ausgangsbedingungen beruht. Es war die grausame Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Eelam-Tamilen, die zu einem 30-jährigen Unabhängigkeitskampf (1979–2009) und zum Tod von mindestens 200 000 Tamilen, zum Verschwinden von Zehntausenden (mutmasslich Toten) und zur Zerstörung von enormem Privateigentum und kulturellem Erbe der Menschheit führte.

Daher sollten wir uns gegen die falschen Narrative der Regierung Sri Lankas wehren, die die Tamilen zu Unrecht als Terroristen darstellen und ihr Recht auf Selbstbestimmung, ihr Recht auf ihre Identität, Kultur und Sprache nicht anerkennen. In den srilankischen Medien und in den Verlautbarungen Sri Lankas bei den Vereinten Nationen und anderswo gibt es ein hohes Mass an Desinformation und «Aufstachelung zum Hass» gegen die Tamilen, was einen Verstoss gegen Artikel 20 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte darstellt.

Beantragung eines Gutachtens des «Internationalen Gerichtshofs»

Die Verantwortung für diese ungerechte Situation geht auf den fehlerhaften Entkolonialisierungsprozess zurück, der von Grossbritannien durchgeführt wurde. Bei der Entkolonialisierung hätte Sri Lanka in zwei Staaten aufgeteilt werden können. Das hätte Hunderttausende von Menschenleben gerettet. Wir können diese Leben nicht zurückholen, aber wir sind es den Überlebenden und künftigen Generationen von Tamilen schuldig, zu versuchen, das fortdauernde Unrecht wiedergutzumachen, z.B. indem wir ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) gemäss Artikel 96 der UN-Charta beantragen.

Gestatten Sie mir, auf das Gutachten des IGH vom 25. Februar 2019 zu den Chagos-Inseln hinzuweisen. Der IGH entschied, dass die Entkolonialisierung von Mauritius durch Grossbritannien gegen das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung der Chagos-Inseln verstossen hat.4 Dies ist ein nützlicher Präzedenzfall für die Tamilen.

Im September 2022 veröffentlichte das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte einen Bericht mit dem Titel «Die Lage der Menschenrechte in Sri Lanka» (A/HRC/51/5).5

Darin wird die Regierung aufgefordert, unverzüglich die Anwendung drakonischer Sicherheitsgesetze und die Niederschlagung friedlicher Proteste zu beenden, die Tendenz zur Militarisierung umzukehren, eine Reform des Sicherheitssektors durchzuführen und der Straflosigkeit ein Ende zu setzen.

Besonders wichtig ist der Abschnitt mit dem Titel «Versöhnung und Rechenschaftspflicht». Der Bericht fordert die neue Regierung nachdrücklich auf, eine umfassende und opferorientierte Strategie für die Übergangsjustiz und die Rechenschaftspflicht mit einem zeitgebundenen Plan zur Umsetzung der noch ausstehenden Verpflichtungen wieder auf den Weg zu bringen, einschliesslich Massnahmen zur Einrichtung eines glaubwürdigen Mechanismus zur Wahrheitsfindung und eines Ad-hoc-Sondergerichts. Den Opfern muss eine zentrale Rolle bei der Gestaltung und Umsetzung aller Mechanismen der Rechenschaftspflicht und der Übergangsjustiz eingeräumt werden.

Wir schliessen uns der Aufforderung des OHCHR an die sri-lankischen Behörden an, die Empfehlungen des Berichts ohne weitere Verzögerung umzusetzen.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Objektive Beobachter sind bereits zu dem Schluss gekommen, dass der von der sri-lankischen Regierung gegen das tamilische Volk geführte Krieg Verbrechen gegen die Menschlichkeit und sogar Völkermord darstellte. Das Ständige Völkertribunal6 hielt 2010 in Dublin Anhörungen ab, und die Richter veröffentlichten 2014 in Bremen ein Urteil.

Das Tribunal konzentrierte sich auf die Verbrechen, die in den letzten Monaten des 30-jährigen Krieges begangen wurden, als die sri-lankischen Streitkräfte versuchten, nicht nur die Regierung der Befreiungstiger von Tamil Eelam, sondern auch Hunderttausende von Tamilen aus Eelam, die in sogenannten «Feuerverbotszonen» Zuflucht gesucht hatten, physisch zu vernichten.

Jetzt ist es an der Zeit, den Internationalen Strafgerichtshof aufzufordern, sich zu den Verstössen gegen die Artikel 6 und 7 des Römischen Statuts durch die politische Führung und das Militär von Sri Lanka zu äussern.

Zumindest sollte die Organisation der Vereinten Nationen verlangen, dass in Sri Lanka ein Referendum über die Frage der Selbstbestimmung des tamilischen Volkes abgehalten wird. Darüber hinaus sollte eine angemessene Entschädigung für die Überlebenden des Völkermordes festgelegt werden, um einen Versöhnungsprozess zu ermöglichen, der mit Hilfe der zuständigen UN-Organisationen koordiniert werden sollte.

* Alfred de Zayas ist Professor für Völkerrecht an der Genfer Hochschule für Diplomatie und war von 2012–2018 unabhängiger Experte der Vereinten Nationen für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung.

Quelle: https://www.counterpunch.org/2022/12/23/the-tamil-people-unsung-victims

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 Vortrag in London anlässlich des Tages der Menschenrechte am 10. Dezember 2022

2 https://www.ohchr.org/en/special-procedures/ie-international-order/annual-thematic-reports, A/69/272.

3 https://www.claritypress.com/product/building-a-just-world-order/

4 https://www.icj-cij.org/public/files/case-related/169/169-20190225-ADV-01-00-EN.pdf

5 https://www.ohchr.org/en/press-releases/2022/09/sri-lanka-critical-juncture-un-report-urges-progress-accountability.

6 https://sangam.org/verdict-permanent-peoples-tribunal/   https://redflag.org.au/article/tribunal-condemns-sri-lankan-genocide-against-eelam-tamils

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