«Die einzigen legalen Sanktionen sind diejenigen, die vom Sicherheitsrat verhängt werden»
UN-Charta, UN-Glaubwürdigkeit und unrechtmässige UCMs
von Alfred de Zayas,* Genf
(CH-S) Am 25. März 2024 hat Russland ein Treffen «nach der Arria-Formel» zu den Auswirkungen der «Einseitigen Zwangsmassnahmen» [Unilateral Coercive Measures (UCM)] auf die weltweite Terrorismusbekämpfung einberufen.
Einzelne Mitglieder des UN-Sicherheitsrates haben die Möglichkeit eine informelle Sitzung nach der Arria-Formel zu wichtigen Themen einzuberufen. Sie verdankt ihren Namen dem venezolanischen Botschafter Diego Arria, der 1992 zum ersten Mal diese Art Sitzung initiierte.
Neben den Mitgliedern des Sicherheitsrats können alle anderen UN-Mitglieder, ständige Beobachter, UN-Einrichtungen, Organisationen der Zivilgesellschaft sowie auch Medien an solchen Sitzungen teilnehmen.
Ziel besagter UN-Sitzung war es, kritisch zu untersuchen, welchen Einfluss «Einseitige Zwangsmassnahmen» auf Verschärfung von Unsicherheit, Förderung von Ressentiments, Radikalisierung und Feindseligkeit unter betroffenen Bevölkerungsgruppen sowie die Behinderung internationaler Zusammenarbeit zur Bekämpfung von Terrorismus und Extremismus ausüben: Die anwesenden UN-Teilnehmer und Experten waren aufgefordert, auf die Auswirkungen von UMCs auf Souveränität, Völkerrecht, Stabilität sowie Menschenrechten in Redebeiträgen einzugehen.
Die UN-Versammlung hat zur Sitzung vom 25. März 2024 auch die UNHCHR-Sonderberichterstatter Alena Douhan und Alfred de Zayas für spezielle Redebeiträge zum Thema über eine Videokonferenzzuschaltung eingeladen.
Wir dokumentieren in der Folge die vollständige Rede von Alfred de Zayas.
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Exzellenzen, verehrte Delegierte,
Die Rechtswidrigkeit «Einseitiger Zwangsmassnahmen» [Unilateral Coercive Measures = UCM], die von bestimmten Ländern gegen andere Staaten, Unternehmen und Einzelpersonen verhängt werden, wurde in Studien der Vereinten Nationen dokumentiert, die auf den bahnbrechenden Bericht der Unterkommission für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte aus dem Jahr 2000,1 den Bericht der Hohen Kommissarin Navi Pillay aus dem Jahr 20122 und den Allgemeinen Kommentar Nr. 8 des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte3 zurückgehen.
In Dutzenden von Resolutionen der Generalversammlung, zuletzt am 19. Dezember 2023,4 und in Resolutionen des Menschenrechtsrats, zuletzt am 11. Oktober 2023,5 werden die spezifischen Verstösse gegen das Völkerrecht, die mit den UCM einhergehen, und die Bedrohung, die sie für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit darstellen, festgestellt. Diese Resolutionen, die mit grosser Mehrheit angenommen wurden, fordern alle Staaten auf, die UCM aufzuheben. Einunddreissig Resolutionen der Generalversammlung verurteilen das US-Embargo gegen Kuba, zuletzt am 2. November 2023.6
Ungeachtet des eindeutigen Willens der weltweiten Mehrheit, die UCM abzuschaffen, verstösst eine Reihe von Staaten ungestraft gegen diese Resolutionen und verhängt weiterhin Zwangsmassnahmen mit rechtswidrigen inner- und extraterritorialen Auswirkungen. Die Umgehung dieser rechtswidrigen UCMs wird mit drakonischen Strafen geahndet. Diese auf Zwang basierende internationale Ordnung usurpiert die Funktionen der Vereinten Nationen und untergräbt ihre Autorität und Glaubwürdigkeit.
Es ist wichtig zu erkennen, dass der Anschein von Recht kein Recht ist, dass nicht jede Anordnung der Exekutive legitim ist oder es verdient, befolgt zu werden, wie wir aus Sophokles’ Antigone7 wissen und im Urteil des dritten Nürnberger Prozesses, dem Prozess der Richter,8 bestätigt sahen.
Viele Nazigesetze waren «Gesetze», aber nur dem Namen nach. Sie waren Diktate, die gegen das Wesen des Rechts verstiessen. Das Gleiche gilt für die europäischen und US-amerikanischen Gesetze zur Sklaverei und zum Sklavenhandel, die von den Kolonialmächten auferlegten Gesetze und die Gesetze der Apartheid.
Wenn Gesetze nicht der Gerechtigkeit, sondern der geopolitischen Vorherrschaft dienen, untergraben sie die Rechtsstaatlichkeit selbst und das, was wir Zivilisation nennen.9 Alle zivilisierten Menschen sind weit davon entfernt, sich solchen ungesetzlichen Massnahmen zu beugen, und haben die Pflicht, sich ihnen zu widersetzen.
Die Zivilisation verlangt von Staaten, Einzelpersonen und Unternehmen, dass sie sich gegen die Vereinnahmung der Rechtsprechung, die Instrumentalisierung des Rechts für Macht und Unrecht, auch durch rechtswidrige UCMs, wehren.
Es ist belegt, dass UCMs zu groben Menschenrechtsverletzungen führen, einschliesslich des Rechts auf Leben, Nahrung, Gesundheit, Wasser und sanitäre Einrichtungen. UCM haben ein rasches und wirksames Vorgehen gegen Pandemien wie Covid-19 verhindert, Ausbrüche von Cholera, Polio und Tuberkulose verschlimmert, lebensrettende Krebsbehandlungen behindert und sind für Hunderttausende von Todesfällen weltweit verantwortlich.10
Wir sind Zeugen eines Rückschritts bei der Achtung des Völkerrechts und der Menschenwürde. Regierungsanwälte sollten ihre Regierungen beraten, wie sie internationale Verträge und Normen am besten einhalten können, und nicht, wie sie Schlupflöcher finden und sich vor internationalen Verpflichtungen drücken können.
Ungeachtet der tödlichen Auswirkungen von UCMs spielen Regierungsjuristen in einigen Ländern diese herunter und versuchen so, die demokratische Öffentlichkeit in dem Glauben zu lassen, dass einseitige Zwangsmassnahmen legitimen Zwecken dienen. Es ist zutiefst zynisch, sich auf die Menschenrechte zu berufen, um Massnahmen zu rechtfertigen, die nachweislich die Rechte der Schwächsten verletzen.
Opfer und Geschädigte sind hier vertauscht. Die Praxis der UCMs zeigt, wie Rechtsbegriffe und Sprache korrumpiert wurden und wie die Menschenrechte als Waffe eingesetzt werden, um die Menschenrechte zu zerstören. Die kognitive Dissonanz wird zur neuen Normalität. Nein, das Narrativ eines vermeintlich guten Zwecks ist falsch. Der geopolitische Zweck heiligt nicht die kriminellen Mittel.
Die Diagnose ist eindeutig:
Einseitige Zwangsmassnahmen führen zu humanitären Krisen, rechtlichem und sozialem Chaos und lassen die Opfer ohne effektiven Zugang zur Justiz und ohne Rechtsmittel zurück. UCMs sind unvereinbar mit den hehren Grundsätzen der UN-Charta11 und den Verfassungen vieler UN-Organisationen, darunter UNESCO und WHO.
Lassen Sie uns daher der erkenntnistheoretischen Falle entkommen und aufhören, die UCM als «Sanktionen» zu bezeichnen. Die einzigen legalen Sanktionen sind die, die von diesem Sicherheitsrat verhängt werden. Alles andere stellt eine unrechtmässige Anwendung von Gewalt dar und verstösst gegen Buchstaben und Geist der UN-Charta, insbesondere gegen Artikel 2, Absatz 4.
Ausserdem impliziert das Wort «Sanktionen», dass der Staat, der sie verhängt, die moralische oder rechtliche Autorität dazu hat. Dies ist nicht der Fall, wie die UN-Sonderberichterstatter Dr. Idriss Jazairy, Dr. Alena Douhan, Dr. Michael Fakhri und andere aufzeigen.
Ich werde unsere Diagnose nicht weiter ausführen, sondern ziehe es vor, jetzt pragmatische Vorschläge zu formulieren, wie die internationale Ordnung gerettet werden kann und wie den Opfern Rechtsmittel und Rechtsbehelfe zur Verfügung gestellt werden können.
In Anbetracht der Tatsache, dass einige Staaten nach wie vor ungestraft ein Drittel der Weltbevölkerung mit UCMs belegen, schlage ich vor, dass:
- UN-Organisationen wie ILO, UNDP, UNEP, UNESCO, UNICEF, WHO sammeln, quantifizieren und bewerten fortan den durch UCM verursachten Schaden. Die Folgenabschätzungen sollten breit veröffentlicht werden.
- Es sollte eine internationale Beobachtungsstelle eingerichtet werden, um die Auswirkungen von UCMs zu dokumentieren. Diese Beobachtungsstelle oder «UCM Watch» sollte dem UN-Menschenrechtsrat unterstellt sein und vom OHCHR betreut werden, das eine Datenbank führen und einen Überwachungsmechanismus einrichten sollte.
- Die Generalversammlung sollte sich auf Artikel 96 der UN-Charta berufen und den IGH mit den rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit UCMs befassen, um ein Gutachten über deren Rechtswidrigkeit und die Höhe der Entschädigung für die Opfer zu erhalten. Der IGH sollte auch prüfen, ob es sich bei den humanitären Krisen und den Tausenden von Toten, die durch die UCM verursacht werden, um «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» im Sinne von Artikel 7 des Statuts von Rom handelt.
- Gemäss Artikel 9 der Völkermordkonvention12 von 1948 sollten die Vertragsstaaten dem IGH die Frage vorlegen, ob die vorsätzliche Schaffung von Bedingungen, die eine Gruppe ganz oder teilweise vernichten, plausibel als Völkermord angesehen werden kann. Das Erfordernis des «Vorsatzes» lässt sich aus der Vorhersehbarkeit der Todesfälle infolge von UCMs ableiten. Das IGH-Urteil in der Rechtssache Bosnien gegen Serbien gebietet eine Verpflichtung zu deren Verhinderung.13
- Die zwischenstaatlichen Beschwerdeverfahren der verschiedenen UN-Vertragsorgane sollten in Anspruch genommen werden. Nach Artikel 41 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte ist der Menschenrechtsausschuss für die Prüfung zwischenstaatlicher Beschwerden über schwere Menschenrechtsverletzungen, einschliesslich des Rechts auf Leben, zuständig. Da es keine Vorbehalte zu diesem Artikel gibt, ist die Zuständigkeit des Menschenrechtsausschusses prima facie gegeben. Das Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sieht ebenfalls zwischenstaatliche Beschwerden gemäss Artikel 10 vor.14
- Die Gesetze vieler Länder sehen eine zivile Verpflichtung zur Hilfe für Personen vor, die sich in grosser Lebensgefahr befinden. Diese Gesetze werden manchmal auch als Rettungspflicht-Gesetze bezeichnet.15 Zweifellos stellen UCMs eine grosse Gefahr für das Leben dar, und die Staaten sollten sicherstellen, dass Einzelpersonen und Unternehmen, die ihrer Rechtsprechung unterliegen, sich an solche Gesetze zur Hilfeleistung halten und sich nicht an UCM-Verbrechen mitschuldig machen.
- Die Staaten sollten diplomatischen Schutz im Namen von Einzelpersonen und Unternehmen ausüben, die von Staaten bestraft werden, die UCMs verhängen.
Exzellenzen
Wenn wir wollen, dass internationale Institutionen, Tribunale und andere Mechanismen richtig funktionieren, müssen wir sicherstellen, dass sich alle Parteien wieder auf die Ziele und Prinzipien der Vereinten Nationen besinnen. Wir müssen der erkenntnistheoretischen Falle entkommen und den Versuch zurückweisen, die UCM als «Sanktionen» zu tarnen, und die unethische Forderung nach «Einhaltung» von in Wirklichkeit totalitären Befehlen zurückweisen, die die souveräne Gleichheit der Staaten und die Selbstbestimmung der Völker verletzen.
Ich fordere alle hier Anwesenden auf, die Spiritualität der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wiederzuentdecken und dafür zu sorgen, dass die Autorität und Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen durch die Einhaltung der UN-Resolutionen gestärkt und nicht durch die Komplizenschaft bei der Duldung von UCMs untergraben wird, die in einem sehr realen Sinne eine Rebellion gegen die UN-Charta darstellen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beinhalten. Ich fordere Sie auf, konstruktiv an der Zusammenarbeit und Versöhnung auf unserem gemeinsamen Planeten zu arbeiten.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
* Alfred de Zayas ist Professor für Völkerrecht an der Genfer Hochschule für Diplomatie und war von 2012–2018 unabhängiger Experte der Vereinten Nationen für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung. |
(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)
1 E/CN.4/Sub2/2000/33, https://digitallibrary.un.org/record/422860
2 A/HRC/19/33, https://undocs.org/Home/Mobile?FinalSymbol=A%2FHRC%2F19%2F33&Language=E&DeviceType=Desktop&LangRequested=False
3 E/C.12/1997/8
4 https://www.un.org/en/ga/78/resolutions.shtml
5 https://www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/regular-sessions/session54/res-dec-stat
6 https://www.undocs.org/Home/Mobile?FinalSymbol=A%2FRES%2F78%2F7&Language=E&DeviceType=Desktop&LangRequested=False. Res. 78/7
7 https://classics.mit.edu/Sophocles/antigone.html
8 https://www.archives.gov/files/research/captured-german-records/microfilm/m889.pdf
9 https://iihl.org/the-laws-of-humanity/
https://www.icrc.org/en/doc/assets/files/other/irrc-844-coupland.pdf
https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-94-6265-299-6_3
Jeffrey Sachs, The Price of Civilization, Random House, New York 2011.
10 https://cepr.net/images/stories/reports/venezuela-sanctions-2019-04.pdf
11 See also the 25 Principles of International Order, published as Chapter 2 of A. de Zayas, Building a Just World Order, Clarity Press, 2021.
12 It is not possible to submit case against the US under article 9, because of US submitted a reservation against article 9 when ratifying the Convention in 1992. But it is possible to submit cases against Canada, UK, France, Germany, and all other countries imposing UCMs and causing suffering and death in countries like Cuba,
Nicaragua, Syria, Venezuela, Zimbabwe, etc.
13 https://icj-cij.org/case/91
15 https://www.thelaw.com/law/good-samaritan-laws-the-duty-to-help-or-rescue-someone.218/