Niger und Völkerrecht

Die International Progress Organization verurteilt die kollektive Bestrafung der Bevölkerung von Niger

Hans Köchler
(Bild hanskoechler.com)

Sie warnt vor einer die Charta der Vereinten Nationen verletzenden Militärintervention und wendet sich an die Staatsoberhäupter der ECOWAS beim Dringlichkeitsgipfel in Abuja, Nigeria

von Dr. Hans Köchler, Präsident der I.P.O., Wien, Österreich

(22. August 2023) (8. August 2023 – RE/28961c-is) In einer heute veröffentlichten Erklärung forderte der Präsident der International Progress Organization (I.P.O.), Dr. Hans Köchler, die Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (ECOWAS) auf, von einer Politik der Einschüchterung und Einmischung in die politische Situation in der Republik Niger abzusehen. Die Androhung einer militärischen Intervention und die gegen Niger verhängten Strafsanktionen verstossen gegen die Charta der Vereinten Nationen und bergen die Gefahr einer weiteren Destabilisierung der ohnehin prekären Sicherheitslage in der Region.

Diese Politik und diese Massnahmen haben keine Grundlage im Vertrag der ECOWAS, der den «Nichtangriff zwischen den Mitgliedstaaten» zu einem der «Grundprinzipien» der Gemeinschaft erklärt (Artikel 4[d]) und die «friedliche Beilegung von Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten» vorsieht.

Zusammen mit dem Entzug der finanziellen Unterstützung durch Frankreich und die Europäische Union werden die massiven wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen, die von ECOWAS und UEMOA (Westafrikanische Wirtschafts- und Währungsunion) sofort verhängt wurden, die Zivilbevölkerung in grosse Schwierigkeiten bringen. Das Embargo hat bereits zu einem erheblichen Anstieg der Preise für Grundnahrungsmittel geführt.

Es stellt eine Form der kollektiven Bestrafung und eine Verletzung der grundlegenden Menschenrechte der Bürger Nigers dar. Der Premierminister des Landes unter der Regierung von Präsident Bazoum, Ouhoumoudou Mahamadou, erklärte gegenüber France24, dass die Sanktionen für die Bevölkerung «katastrophal» seien.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Gemeinschaftsmitgliedschaft von vier Staaten – Burkina Faso, Guinea, Mali und Niger – derzeit suspendiert ist, sollten die anderen Mitgliedstaaten der ECOWAS eine friedliche Lösung gemäss Kapitel VI der UN-Charta anstreben, anstatt ein ganzes Volk in einem regionalen Streit als Geisel zu nehmen.

Darüber hinaus können wirtschaftliche Zwangsmassnahmen nach internationalem Recht nur vom UN-Sicherheitsrat als Massnahme der kollektiven Sicherheit gemäss Kapitel VII der Charta verhängt werden. Einseitige Zwangsmassnahmen, egal ob von einem einzelnen Staat oder einer Gruppe von Staaten verhängt, sind illegal.

Eine bewaffnete Intervention in Niger, wie sie von einigen Staaten der Region angedroht wird, würde nicht nur gegen Buchstaben und Geist des ECOWAS-Vertrags verstossen, sondern auch eine schwere Verletzung von Artikel 2 Absatz 4 der Charta der Vereinten Nationen darstellen, wonach sich alle Mitgliedstaaten «in ihren internationalen Beziehungen der Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates enthalten.»

Artikel 58 des revidierten ECOWAS-Vertrags von 1993 («Regionale Sicherheit») enthält keine Bestimmungen, die eine bewaffnete Intervention im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats rechtfertigen. Die Option der Aufstellung von «Friedenstruppen» in Artikel 58 Absatz 2 Buchstabe f kann keinesfalls so ausgelegt werden, dass sie militärische Aktionen in einem Mitgliedstaat rechtfertigt, die die Souveränität dieses Staates verletzen.

Aus den katastrophalen Auswirkungen der Interventionen der früheren ECOMOG (Economic Community of West African States Monitoring Group) in den Bürgerkriegen in Liberia und Sierra Leone sollten Lehren gezogen werden. Schon die Einrichtung der Gruppe durch einen «Ständigen Vermittlungsausschuss» und die Ausübung ihres Mandats durch die Entsendung von De-facto-Kampfeinheiten in Bürgerkriegssituationen in den Mitgliedsstaaten entsprach weder den verfassungsrechtlichen Anforderungen der ECOWAS noch der Charta der damaligen OAU (Organisation of African Unity) oder der Vereinten Nationen.

Unter Bezugnahme auf das gemeinsame Communiqué der Übergangsregierungen von Mali und Burkina Faso vom 31. Juli 2023, in dem unter Punkt 5 «die Ergreifung von Selbstverteidigungsmassnahmen [gemäss Artikel 51 der UN-Charta] zur Unterstützung der Streitkräfte und des Volkes von Niger» für den Fall einer militärischen Intervention in diesem Land erwähnt wird, warnte der Präsident der I.P.O. vor den schwerwiegenden Folgen eines bewaffneten Vorgehens einiger Mitgliedsstaaten im Namen der ECOWAS – nicht nur für das Volk von Niger, sondern für den Frieden und die Stabilität in der Region und in ganz Afrika. Er appellierte an die Staatschefs dieser Länder, auf ihrem bevorstehenden Dringlichkeitsgipfel in Abuja den Weg des friedlichen Dialogs zu beschreiten, wie er in den Kapiteln II und X des ECOWAS-Vertrags festgelegt ist.

Unter Bezugnahme auf die einseitige Militärintervention der NATO in Libyen im Jahr 2011, die von Frankreich initiiert wurde, und die offen die durch die Resolution 1973 des Sicherheitsrates gesetzten Grenzen missachtete, warnte die International Progress Organization vor einer erneuten Destabilisierung der Sahel-Region durch eine weitere bewaffnete Expedition unter Verletzung der UN-Charta.

Der Zerfall Libyens infolge der Nato-Intervention war die Ursache für das Sicherheitsvakuum und die politische Instabilität in der gesamten Region und darüber hinaus, auch in Europa. Wie heute im Fall von Niger muss jedes Land selbst über Strategien und Massnahmen zum Schutz seiner Sicherheit und seiner lebenswichtigen nationalen Interessen entscheiden, ohne Einmischung von aussen, sei es durch regionale oder globale Mächte.

«Krieg führen, um den Frieden zu erhalten», das trügerische Motto vieler unglücklicher Interventionen in der Geschichte der internationalen Beziehungen, darf nicht als Recht­fertigung für einen weiteren Akt unverhohlener Aggression dienen.

*  Hans Köchler wurde am 18. Oktober 1948 in der Stadt Schwaz, Tirol, Österreich, geboren. Er promovierte an der Universität Innsbruck (Österreich) zum Doktor der Philosophie (Dr. phil.) mit höchster Auszeichnung (sub auspiciis praesidentis rei publicae). Von 1982 bis 2014 war er Universitätsprofessor für Philosophie (mit besonderem Schwerpunkt auf politischer Philosophie und philosophischer Anthropologie). Er ist Ehrendoktor der Staatlichen Universität Mindanao (Philippinen) und der Armenischen Staatlichen Pädagogischen Universität sowie Ehrenprofessor für Philosophie der Universität Pamukkale (Türkei). Von 1990 bis 2008 war er Direktor des Instituts für Philosophie an der Universität Innsbruck.
An seiner Universität war Professor Köchler von 1971 bis 2014 auch Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Wissenschaft und Politik. Von 1974 bis 1988 war er Vorstandsmitglied des Österreichischen College (Wien) und Mitglied des Programmausschusses des Europäischen Forums Alpbach. Im Jahr 1998 war er Gastprofessor an der University of Malaya in Kuala Lumpur (Malaysia). Im Jahr 2004 wurde er zum Gastprofessor an der Polytechnic University of the Philippines in Manila ernannt. Nach seiner Wahl zum lebenslangen Mitglied (Life Fellow) im Jahr 2006 wurde er 2010 zum Co-Präsidenten der Internationalen Akademie für Philosophie gewählt. Von 2019 bis 2021 war er Mitglied des Hochschulrats der Universität für Digitale Wissenschaft (Berlin). Im Jahr 2018 wurde er Mitglied der Fakultät der Akademie für Kulturdiplomatie in Berlin, Deutschland.

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

Weiterführendes Dokument:
I.P.O. Research Paper: Sanktionen und Völkerrecht

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