Buchbesprechung

«Die Menschenrechts-Industrie»

Hans Köchler (Bild hanskoechler.com)

Alfred de Zayas: Überlegungen eines altgedienten Menschenrechtsverteidigers

von Hans Köchler,* Präsident, International Progress Organization, www.i-p-o.org, Österreich

(Wien, Juli 2023) «The Human Rights Industry» (Die Menschenrechts-Industrie) von Alfred de Zayas ist die bisher umfassendste und ehrlichste Bewertung und Kritik der Leistung der Institutionen, die die internationale Gemeinschaft eingerichtet hat, um die Einhaltung der Grundsätze zu überwachen, die der Gerechtigkeit und der Rechtsstaatlichkeit auf globaler Ebene zugrunde liegen.

Ob im eigenen Land oder in den Beziehungen zwischen souveränen Staaten – die Politik muss der Menschenwürde entsprechen, und die Staatsgewalt darf nur zur Durchsetzung des Rechts, nicht aber zu dessen Untergrabung um der blossen Macht willen, eingesetzt werden.

Dies ist der Grundgedanke aller internationalen Instrumente und Institutionen, die im Rahmen der Charta der Vereinten Nationen und insbesondere als Reaktion auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die 1948 von der Generalversammlung der Organisation verabschiedet wurde, geschaffen wurden.

Der Autor dieses sorgfältig dokumentierten Werkes hat uns bewusst gemacht, wie wichtig es ist, die Verfahren und die oft verborgenen Mechanismen zu verstehen, mit denen diese Institutionen ihr Mandat ausüben. Er tut dies mit äusserster Authentizität, da er mehrere Jahrzehnte lang in verschiedenen Funktionen bei den Vereinten Nationen tätig war, unter anderem von 2012 bis 2018 als erster Unabhängiger UN-Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung.

Im Hinblick auf seine Erfahrungen aus erster Hand und sein Engagement in der Menschenrechts-«Industrie» lässt sich der Schwerpunkt seiner Untersuchung treffend mit dem auch vom Autor zitierten Diktum Juvenals «Quis custodiet ipsos custodes?» beschreiben. (Wer wird die Wächter selbst bewachen?) Das Ergebnis der Untersuchung des Autors ist eine Diagnose ohne Illusionen, die dem Leser dennoch helfen wird, einige der Feinheiten der internationalen Diplomatie an der Schnittstelle von Recht und Macht zu begreifen.

Alfred de Zayas. The Human Rights Industry:
Reflections of a Veteran Human Rights Defender
Atlanta, GA (USA): Clarity Press, 2023 xx + 329 S.,
ISBN 978-1-949762-52-5

Das Buch untersucht die «Menschenrechts-Industrie» in einigen der wichtigsten Vorhaben und Projekte, sowohl unter der Ägide der UNO als auch ausserhalb des institutionellen Rahmens dieser Organisation. Der Autor gibt eine detaillierte Bewertung und Analyse der Arbeit und Methoden des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen (bis 2006: Menschenrechtskommission) und des Büros des UN-Hochkommissars für Menschenrechte (OHCHR). Er geht auch auf den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) und kurz auf die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) ein und weist auf Fälle politischer Einmischung in die Arbeit dieser beiden für die Durchsetzung des humanitären Völkerrechts wichtigen Institutionen hin.

Er setzt sich kritisch mit dem Abstimmungsverhalten der Staaten in Menschenrechtsfragen sowie mit der Rolle der Zivilgesellschaft – Nichtregierungsorganisationen und Medien – bei der Förderung der Menschenrechte auseinander. Die Arbeit schliesst mit einer Fülle konkreter Empfehlungen, die darauf abzielen, die Überwachung und Durchsetzung der Menschenrechte zu verbessern, aber auch die Menschenrechtsdoktrin im Kontext globaler Machtbeziehungen besser zu definieren.

In Übereinstimmung mit der Philosophie der UN-Charta betont der Autor die Priorität des Friedens als conditio sine qua non für die Verwirklichung der Menschenrechte. Er kritisiert die Verwässerung der «Erklärung über das Recht auf Frieden» des Menschenrechtsrates aus dem Jahr 2016 scharf und macht darauf aufmerksam, dass das Dokument – obwohl die Staaten den Text so weit abgeschwächt hatten, dass die Erklärung fast bedeutungslos wurde – von allen westlichen Mitgliedsstaaten des Rates abgelehnt wurde. Dies wirft nach Einschätzung des Autors die Frage nach der Glaubwürdigkeit derjenigen auf, die sich als Hauptverteidiger der Menschenrechte im heutigen globalen System sehen.

In Bezug auf den Frieden verweist er auch auf die einseitigen Äusserungen des Hohen Kommissars für Menschenrechte zum anhaltenden Konflikt in der Ukraine und beklagt das, was er als «wertendes Benennen und Anprangern» bezeichnet, ohne auf die wirklichen Probleme einzugehen. Seine freimütige Einschätzung, die auf seinen Erfahrungen aus erster Hand als Menschenrechtsbeauftragter beruht, lässt ihn an der Integrität des Ansatzes des Menschenrechtsbüros zweifeln.

In seinem Kommentar zu einer weiteren Erklärung des stellvertretenden Hochkommissars zum Ukraine-Konflikt bezeichnet er den Umgang des Amtes mit dieser Angelegenheit als eine «Übung zur Bestätigung westlicher Vorurteile». Der Autor beklagt die Praxis der Vereinten Nationen, hochrangige Posten mit politischen Vertretern zu besetzen, weist auf die «zunehmende Politisierung» des OHCHR hin und kritisiert die Selektivität der vom Amt eingeleiteten Untersuchungen.

Er stellt ausserdem fest, dass es zahlreiche Belege dafür gibt, dass das OHCHR «dem politischen Druck von Regierungen und Geldgebern nachgibt». Seiner Einschätzung nach «besteht kaum ein Zweifel daran, dass dem OHCHR in dem hybriden Krieg, den die USA zur Aufrechterhaltung einer unipolaren Welt führen, eine unterstützende Rolle zugewiesen wurde» (S. 30). Im Hinblick auf die Unabhängigkeit und Integrität der Menschenrechtsarbeit betont der Autor immer wieder, dass das Amt des Hochkommissars keine «freiwilligen Beiträge» annehmen sollte.

Bei der Bewertung des Zustands der Menschenrechtsindustrie in ihrer Gesamtheit diagnostiziert de Zayas das, was er als «feindliche Übernahme» vieler Menschenrechtsorganisationen durch Regierungen, Geheimdienste und (versteckte) Unternehmensinteressen bezeichnet. Er macht insbesondere auf die Unterwanderung des Internationalen Strafgerichtshofs, aber auch der Mainstream- und sozialen Medien durch Geheimdienste aufmerksam.

All dies hat zur politischen Instrumentalisierung und zum Missbrauch der Menschenrechte als Waffe beigetragen, was in der gegenwärtigen globalen Konstellation zunehmend einen binären Ansatz von «gut» versus «böse» bedeutet und die Bemühungen um Dialog und friedliche Streitbeilegung untergräbt.

Besonders aufschlussreich, was die Rolle der Machtpolitik im heutigen globalen Diskurs über Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit angeht, sind die Statistiken in Kapitel 8 des Buches, «The Voting Record of States».

Ob es um das «Recht der Völker auf Frieden» (UN-Generalversammlung, 1984), die bereits erwähnte «Erklärung über das Recht auf Frieden» (durch den Menschenrechtsrat), eine Resolution zur «Förderung des Friedens als unabdingbare Voraussetzung für den vollen Genuss aller Menschenrechte für alle» (2022) oder die wiederholten Resolutionen des Menschenrechtsrates zum Thema «Negative Auswirkungen einseitiger Zwangsmassnahmen auf die Wahrnehmung der Menschenrechte» ging: Diejenigen Staaten, vor allem aus dem Westen, die sich als Vorreiter bei der Durchsetzung der Menschenrechte sehen, stimmten entweder dagegen oder enthielten sich. In der Analyse des Autors sind diese Staaten jedoch eher als «Saboteure menschlicher Werte» oder «Vandalen der Menschenrechte» zu klassifizieren (S. 252).

De Zayas' schnörkellose Beschreibung des Status quo der Menschenrechte im heutigen internationalen System dient einem konstruktiven Zweck. Er erinnert den Leser daran, dass man zunächst die Probleme identifizieren muss, um sie dann korrigieren zu können. Er beschreibt seine Position als die eines «überlebensorientierten Humanismus» (survivalist humanism) und spricht eine «signifikante Durchsetzungslücke» in Bezug auf Menschenrechtspakte und -resolutionen an, die auf die internationale Machtpolitik und die daraus resultierende Praxis der Doppelmoral zurückzuführen ist.

Auf der Grundlage seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem UN-Menschenrechtsapparat legt er eine Reihe präziser Empfehlungen vor, die auf ein glaubwürdigeres und effizienteres Engagement der internationalen Gemeinschaft für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit abzielen. Als Prioritäten für die globale Politik nennt er unter anderem den «Weltfrieden», den Übergang von der «militärischen» zur «menschlichen Sicherheit», den Verzicht auf einseitige Zwangsmassnahmen (die er als Teil einer hybriden Kriegsführung betrachtet), die volle Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts und einen ganzheitlichen Ansatz für die Menschenrechte.

Auf der Grundlage dieser Kriterien entwirft der Autor einen «Aktionsplan», der unter anderem die Ratifizierung der wichtigsten UN-Menschenrechtsverträge durch alle Staaten, die Verabschiedung eines internationalen Abkommens über die soziale Verantwortung von Unternehmen und die Stärkung regionaler und internationaler Menschenrechtsgerichte vorsieht.

In Bezug auf die Arbeitsweise des UN-Menschenrechtsrates stellt er die Idee der «präventiven Berichterstatterschaft», die Einrichtung von Verfahren zur Verhinderung von Mobbing und Ad-hominem-Angriffen gegen Menschenrechtsvertreter und -aktivisten sowie die Verabschiedung einer «Charta der Rechte von Whistleblowern» vor. Er schlägt ausserdem vor, dass der Rat das Recht auf Selbstbestimmung als ständigen Punkt auf seine Tagesordnung setzen und sich speziell mit den Gefahren der Kriegspropaganda befassen sollte. Was das Amt des Hochkommissars für Menschenrechte betrifft, so müssen nach Ansicht des Autors Massnahmen ergriffen werden, um die so genannte «freiwillige» Finanzierung vollständig zu vermeiden und die Praxis der Ernennung ehemaliger Politiker zu Hochkommissaren zu beenden.

In der Gesamteinschätzung des Autors trägt die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine besondere Verantwortung für die Glaubwürdigkeit der globalen Menschenrechtspolitik. Die Mitgliedsstaaten sollten die anhaltenden Versuche zurückweisen, die Welt in «gute» und «schlechte» Länder einzuteilen.

Darüber hinaus sollte die Versammlung besser von Artikel 96 der UN-Charta Gebrauch machen, der sie ermächtigt, den Internationalen Gerichtshof um Gutachten zu ersuchen, und sie sollte den Vertretern indigener Völker in den Sitzungen der Versammlung einen besonderen Status einräumen. Sie sollte auch die Ernennung eines Sonderberaters des Generalsekretärs der Vereinten Nationen für das Recht auf Selbstbestimmung in Betracht ziehen. Nach Ansicht des Autors ist der Grundsatz der territorialen Integrität nicht absolut und muss im Zusammenhang mit dem Selbstbestimmungsrecht interpretiert werden.

Was die Beteiligung der internationalen Zivilgesellschaft an der Menschenrechtsarbeit der Vereinten Nationen betrifft, so sollte sichergestellt werden, dass mächtige Länder keinen unangemessenen Druck ausüben, um Nichtregierungsorganisationen einen beratenden Status zu gewähren oder diesen zu blockieren. Weiters dürfen die Wissenschaft und die Medien nicht der «cancel culture» nachgeben oder dogmatisch die «politische Korrektheit» durchsetzen. Sie sollten sich dazu verpflichten, einer Pluralität von Ansichten Raum zu geben. Mit Blick auf das Internet und die sozialen Medien schlägt der Autor unter anderem vor, die privatwirtschaftliche Zensur und die Manipulation der öffentlichen Meinung durch Suchmaschinenalgorithmen unter Strafe zu stellen.

Die Fülle an Analysen und Kritiken in Kombination mit konkreten Reformvorschlägen macht die in diesem Band versammelten Ideen zu einem echten Gegenmittel gegen die Selbstgerechtigkeit der «Erzählmanager» (narrative managers, so die Bezeichnung des Autors), die die globale Menschenrechtsagenda nur allzu oft für engstirnige politische Interessen missbraucht und manipuliert haben. Das Werk ist in der Tat ein überzeugendes Plädoyer an die internationale Gemeinschaft, zu dem zurückzukehren, was de Zayas als die «Spiritualität» der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bezeichnet.

* Hans Köchler wurde am 18. Oktober 1948 in der Stadt Schwaz, Tirol, Österreich, geboren. Er promovierte an der Universität Innsbruck (Österreich) zum Doktor der Philosophie (Dr. phil.) mit höchster Auszeichnung (sub auspiciis praesidentis rei publicae). Von 1982 bis 2014 war er Universitätsprofessor für Philosophie (mit besonderem Schwerpunkt auf politischer Philosophie und philosophischer Anthropologie). Er ist Ehrendoktor der Staatlichen Universität Mindanao (Philippinen) und der Armenischen Staatlichen Pädagogischen Universität sowie Ehrenprofessor für Philosophie der Universität Pamukkale (Türkei). Von 1990 bis 2008 war er Direktor des Instituts für Philosophie an der Universität Innsbruck.
An seiner Universität war Professor Köchler von 1971 bis 2014 auch Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Wissenschaft und Politik. Von 1974 bis 1988 war er Vorstandsmitglied des Österreichischen College (Wien) und Mitglied des Programmausschusses des Europäischen Forums Alpbach. Im Jahr 1998 war er Gastprofessor an der University of Malaya in Kuala Lumpur (Malaysia). Im Jahr 2004 wurde er zum Gastprofessor an der Polytechnic University of the Philippines in Manila ernannt. Nach seiner Wahl zum lebenslangen Mitglied (Life Fellow) im Jahr 2006 wurde er 2010 zum Co-Präsidenten der Internationalen Akademie für Philosophie gewählt. Von 2019 bis 2021 war er Mitglied des Hochschulrats der Universität für Digitale Wissenschaft (Berlin). Im Jahr 2018 wurde er Mitglied der Fakultät der Akademie für Kulturdiplomatie in Berlin, Deutschland.

(Übersetzung aus dem Englischen durch «Schweizer Standpunkt»)

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