«Die Russische Föderation hat sich an geltendes Völkerrecht gehalten»
von Wolfgang van Biezen
(15. Mai 2022) (Red.) Der militärische Einsatz Russlands in der Ukraine wird im Allgemeinen als völkerrechtswidrig bezeichnet. Doch die Situation ist völkerrechtlich nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick erscheint. Eine entscheidende Rolle bei der Beurteilung spielt das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Sezession des Kosovo von 2010, wie der Autor in seiner aufschlussreichen Untersuchung zeigt.
Die Russische Föderation hat sich, sowohl bei der Aufnahme der Krim als auch bei der Anerkennung der Republiken Lugansk und Donezk, an geltendes Völkerrecht gehalten, und die «militärische Operation» in der Ukraine ist als Verteidigungsmassnahme durch Artikel 51 der UN-Charta legitimiert.
Als der völkerrechtswidrige Krieg gegen Serbien von der Nato angezettelt wurde, war die alte Bundesregierung, Kohl/Kinkel noch im Amt.
Bisher war ich der Meinung, dass die Regierung Schröder/Fischer den deutschen Teil des Krieges gegen Serbien zu verantworten hat. Das stimmt nur zum Teil. Die Bundeswehr ist per Grundgesetz eine Parlamentsarmee, und dort liegt auch die Verantwortung. Zu den letzten Amtshandlungen der bereits abgewählten Regierung Kohl gehörte die dringende Bitte an das Parlament, doch der militärischen Intervention gegen Milosevic zuzustimmen.1
Rita Süssmuth, damals Bundestagspräsidentin, berief bereits vier Tage später das Parlament ein. Auffallend in der Debatte war, dass es keine Opposition mehr gab, und dass sich die Sprecher aller Parteien, mit Ausnahme der PDS, an Schärfe und verbalen Spitzfindigkeiten für diesen Kriegseinsatz überboten.
Der Westen, unter Federführung der USA, hatte mit Hilfe professioneller Dienste und PR-Agenturen in seiner Einflusszone eine derart scharfe Stimmung gegen Milosevic und für den Kosovo erzeugt, dass die deutsche Regierung offensichtlich keine andere Wahl hatte, als mit den Wölfen zu heulen, wenn man nicht in die bereits seit Monaten vorgespurte und medial unterstützte «Milosevic-Serbische-Verbrecher Ecke» gedrängt werden wollte.
Von Deutschlands Zustimmung für diesen Einsatz hing der Krieg der NATO überhaupt ab. Die Bundesrepublik war der letzte von damals noch 16 NATO-Staaten, 15 hatten dem Einsatz bereits zugestimmt. Es galt das «NATO – Einstimmigkeitsprinzip».
Hätte man damals Nein sagen können, und der Krieg hätte nicht stattgefunden?
Der internationale Druck seinerzeit war dermassen gross, dass Deutschland nicht «abseitsstehen» und seine «Bündnistreue» beweisen müsse. Die Argumentationen im Deutschen Bundestag damals erinnern frappant an die gegenwärtigen politischen Stellungnahmen für immer schärfere Sanktionen.
Das einleitende Referat der Bundesregierung im Bundestag hielt Aussenminister Kinkel – eine flammende Rede für den Einsatz der Bundeswehr.2 Allen Politikern damals war bewusst, dass ein Angriffskrieg das Völkerrecht auf das Gröbste verletzt; nebenbei gesagt, das deutsche Grundgesetz ebenso.
Ähnlichen Druck verspüren heute alle europäischen Regierungen inklusive der zur Neutralität verpflichteten Schweiz. Gemeinsam mit der EU schraubt man sich derzeit in eine beispiellose Sanktionsspirale.
Nun, die noch amtierende Bundesregierung Kohl hatte im deutschen Parlament ihrerseits eine solche Stimmung erzeugt, dass einige Wochen später die Nachfolgeregierung Schröder/Fischer nicht mehr aussteigen konnte.3 Hätte diese Regierung Nein sagen können? Rein theoretisch, ja.
Wenn ich daran denke, dass die Schweiz heute alle Sanktionen der EU und der USA mitträgt und damit ihre Verpflichtung zur Neutralität scheinbar ohne Not aufgibt, kann ich mir nur vorstellen, dass der heutige Druck auf Personen und Regierungen ungeheuer sein muss.
Die Bevölkerung zieht bei diesem Trommelfeuer der Medien, welches derzeit von einer Vielzahl an Agenturen Tag und Nacht orchestriert wird, den Kopf ein. Man weiss nicht, was man glauben soll. Die Wortwahl zwischen den Menschen wird vorsichtiger, das Misstrauen in alltäglichen Beziehungen grösser. Das Vertrauen in eigene gesunde Reaktionen schwindet. Die treffende Schrift von Alfred Adler, einem der Pioniere der Tiefenpsychologie, «Die andere Seite» hatte 1919 und hat 2022 Gültigkeit.
So viel zur massenpsychologischen Frage.
Wir wissen, dass in Rambouillet in dieser Stimmung von Serbien ultimativ verlangt wurde, dass die Nato die Kontrolle über serbisches Staatsgebiet mit vielen Implikationen ausüben wollte. In diesen sogenannten «Verhandlungen» wurde internationales Recht mit Füssen getreten.
Das Militärbündnis NATO, welches seit 1999 von einem reinen Verteidigungs- zu einem selbsternannten Angriffsbündnis mutiert ist, beachtete bewusst die UNO-Resolutionen zu Serbien und dem Kosovo, die es sehr wohl gab, nicht. Die NATO wohlgemerkt, stattet sich selbstherrlich mit völkerrechtlichen Befugnissen aus, vertritt ihr eigenes «Internationales Recht» für die «Internationale Gemeinschaft», sie erfüllt «heilige» Pflichten, versorgt dabei die halbe Welt mit Krieg und Waffen. Und jeder, der gegen die von der NATO aufgestellten, «regelbasierte Ordnung», verstösst habe neuerdings zum Beispiel nicht das Recht, gewählter Präsident eines Staates zu sein. Ja, ein solch abqualifizierter und international zu ächtender Präsident – Milosevic war Vorbild, Präsident al-Assad war gestern, Präsident Putin hört es heute – habe natürlich auch nicht das Recht, sich und sein Volk zu verteidigen, geschweige denn noch Präsident zu sein. Diplomatie ist ausser Kraft gesetzt.
Zu dieser und anderer Rechtsverluderung veröffentlichte das russische Aussenministerium einen lesenswerten Artikel über Recht, Rechte und Regeln.4 Sergej Lawrow erinnert daran, dass das Völkerrecht für alle gilt, und sich nicht eine Organisation oder ein Staat über dieses Recht erheben könne, eigene Regeln aufstelle, diese nach Belieben und situativ ändere, so, wie es der Westen fortwährend praktiziere. Russland und viele andere Staaten hielten sich an das geltende Völkerrecht und er fügte diplomatisch hinzu, «man möge sich bitte wieder an das geltende Recht halten».
Und da sind wir bei der Frage angelangt, ob Russland selber sich mit seiner «militärischen Operation» in der Ukraine an das bestehende Völkerrecht hält oder nicht.
Internationalen Gerichtshof und Sezession des Kosovo
Da gibt das Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag vom 22. Juli 2010 zur Sezession des Kosovo, die in der Folge des NATO-Angriffes auf Serbien einseitig vollzogen wurde, eine eindeutige Antwort.5 Wie kam es zu dieser Antwort und welche Rolle spielt sie für die gegenwärtige Situation?
Russland und Serbien, unter anderem, mahnten den völkerrechtswidrigen Krieg gegen Serbien und die danach vollzogene Sezession des Kosovo sowie die beschämende Reaktion des Westens auf diese Ungerechtigkeiten bei der UNO und diese beim IGH an. Das Urteil wurde international mit grosser Spannung erwartet.
Statt die Nato ins Recht zu nehmen, denn Serbien hatte niemanden angegriffen und der Nato-Bündnisfall konnte nicht geltend gemacht werden, wartete der Internationale Gerichtshof in Den Haag mit einem für den Westen damals komfortablen Gutachten auf. Die einseitige Sezession des Kosovo von Serbien sei mit dem Völkerrecht vereinbar. Das war unerwartet und neu.
Es wurde mit diesem Gutachten ein Präzedenzfall geschaffen, der später für den Anschluss der Krim an die Russische Föderation und jetzt für die Unabhängigkeitsanerkennung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk durch Russland von Bedeutung ist.
Zur Krim
Das Gutachten des IGH stellt die territoriale Integrität eines Staates auf die gleiche Stufe mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker.6 Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist eigentlich dazu gedacht, eine Kolonie darin zu unterstützen, sich von den Kolonialherren, wie zum Beispiel Grossbritannien oder Frankreich, unabhängig zu machen. Nun war aber der Kosovo keine Kolonie von Serbien sondern integraler Bestandteil eines Staates. Alfred de Zayas schreibt dazu, das Völkerrecht habe sich «weiterentwickelt» und selbstverständlich hätten auch die Katalanen oder die Kurden das gleiche Recht auf Selbstbestimmung.7
Russland hat also bei der gewaltlosen Aufnahme der Krim in sein Staatsgebiet, dem ein Referendum vorausgegangen war, völkerrechtlich korrekt gehandelt.
Beharrlich wird jedoch in den Presseorganen des Westens von einer Annexion gesprochen, womit bereits spätestens ab diesem Zeitpunkt eine tendenziöse, Russland diffamierende Berichterstattung zur Norm geworden ist.
Wie sieht die Beachtung des Völkerrechts durch Russland im Fall des Donbass aus?
Zum Donbass
Die Volksrepubliken Luhansk und Donezk hatten bereits bei der Auflösung der Sowjetunion 1991 einen Antrag auf Beitritt zur neugeschaffenen Russischen Föderation gestellt. Russland hatte damals andere Sorgen, und so blieben beide Oblasten bei der Ukraine. Ihre russische Bevölkerung, weil russisch und nicht ukrainisch, wurde fortan von den ukrainischen Behörden auf verschiedenste Arten diskriminiert und sogar von der Armee bekämpft.
Wie bekannt ist, verlagert sich die NATO, sie zählt heute bereits 27 Mitglieder, in den letzten Jahren sukzessiv und provokativ an die russische Grenze.
Die USA erzeugten anfangs 2022 weltweit Druck, zum Beispiel indem ein russischer Einmarsch in die Ukraine medienwirksam auf den 16. Februar 2022 vorausgesagt wurde. Die anwesende OSZE beobachtete und dokumentierte tatsächlich in jener Woche einen massiven Beschuss gegen die beiden Republiken durch die ukrainische Armee entlang der Kontaktlinie. Aussenminister Lawrow sprach von über hunderttausend Flüchtlingen, die in der Folge der massiven Angriffe überwiegend nach Russland flohen.
Die Republiken Donezk und Luhansk beschlossen die Sezession von der Ukraine und stellten einen Antrag auf Anerkennung durch die Russische Föderation. Die Duma in Moskau beschloss aufgrund der Dringlichkeit am 15. Februar diesem Begehren stattzugeben und bat Präsident Putin um seine Zustimmung. Dieser unterzeichnete, für alle Welt sichtbar, mit dem Hinweis, dass die Ukraine nicht gewillt sei das Minsker Abkommen umzusetzen, einige Tage später am 21. Februar die entsprechenden Urkunden. Der Vertrag zwischen den Volksrepubliken und Russland sah neben der Absicht zur Freundschaft und Zusammenarbeit ausdrücklich den gegenseitigen Beistand vor. Konkret wurde vereinbart, dass die Streitkräfte der Russischen Föderation «friedenserhaltende Funktionen im Hoheitsgebiet» der beiden Volksrepubliken wahrnehmen können. Das gilt ab dem 21. Februar 2022.
Spätestens ab jenem Datum war der zunehmend anhaltende Beschuss durch die Armeen der Ukraine nach Völkerrecht kein Bürgerkrieg mehr, sondern ein kriegerischer Akt zwischen den Staaten Ukraine auf der einen Seite und den unabhängig gewordenen Republiken Donezk und Lugansk und der Russischen Föderation andererseits, wobei ganz klar die Ukraine der Aggressor ist.
Hätte die Ukraine spätestens zu diesem Zeitpunkt die Kampfhandlungen eingestellt und wäre an den Verhandlungstisch zurückgekehrt, wäre unter Umständen die militärische Operation durch Russland vermeidbar gewesen. Da das aber bis heute nicht der Fall ist, nehmen Russland und die von Russland anerkannten souveränen und eigenständigen Gebiete für sich das Recht auf kollektive Verteidigung in Anspruch, wie sie im Artikel 51 der UNO-Charta festgeschrieben ist.8
Soviel zur rechtlichen Situation.
Da Russland es mit dem Völkerrecht sehr genau nimmt, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Bundesrepublik Deutschland mit dem Feuer spielt. Wenn sich der neue Wirtschafts- und Umweltminister Robert Habeck und die Aussenministerin Annalena Baerbock weiterhin in ihrer Unerfahrenheit unbedarft, gemeinsam mit dem Bundeskanzler Olaf Scholz, für massive Waffenlieferungen an die Ukraine stark machen und dabei zu sehr mit dem Säbel rasseln, könnte sich Russland, und das ebenfalls völkerrechtskonform, auf die Artikel 53.2 und 107 der UNO-Charta berufen.
Fazit
Es geht Russland nicht um die Vergrösserung seines Territoriums, sondern um den Schutz der russischen Minderheiten in der Ukraine, um die Sicherung seiner eigenen Grenzen und die Schaffung von Voraussetzungen für Verhandlungen über seine Ziele auf Augenhöhe.
Die Russische Föderation hat sich, sowohl bei der Aufnahme der Krim als auch bei der Anerkennung der Republiken Lugansk und Donezk, an geltendes Völkerrecht gehalten, und die «militärische Operation» in der Ukraine ist als Verteidigungsmassnahme durch Artikel 51 der UNO-Charta legitimiert.
So viel zur Legalität.
Jedes Wort, das George Friedman im Frühjahr 2015 bei seinem Auftritt beim Chicago Council on Foreign Relations über amerikanische Politik der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft äusserte, ist wörtlich und ernst zu nehmen. So zum Beispiel: «Die Vereinigten Staaten werden auch weiterhin Kriege führen»!9
Quelle: https://weltexpress.info/die-russische-foederation-hat-sich-sowohl-bei-der-aufnahme-der-krim-als-auch-bei-der-anerkennung-der-republiken-lugansk-und-donezk-an-geltendes-voelkerrecht-gehalten-und-die-militaerische/ vom 18. April 2022
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
1. Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/11469, Antrag er Bundesregierung vom 12.10.1998
2. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 13/248, Stenographischer Bericht, 248. Sitzung, Bonn, den 16.10.1998
3. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 14.43, Stenographischer Bericht, 43. Sitzung, Bonn, den 11. Juni 1999
4. Lawrow, Sergej, Über Recht, Rechte und Regeln, Zeit-Fragen Nr. 16, 13. Juli 2021
5. Wikipedia, Rechtsgutachten zur Gültigkeit der Unabhängigkeitserklärung Kosovos, abgerufen am 30.03.2022
6. Röper, Thomas, Ukraine Krise 214, S.151 ff., J-K-Fischer Verlag, 2019
7. Prof. Dr. Alfred de Zayas und Prof. Dr. Axel Schönberger, Briefe an den Herausgeber, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. März 2022, S. 25
8. Baud, Jacques, «Die Politik der USA war es immer, zu verhindern, dass Deutschland und Russland enger zusammenarbeiten», Zeitgeschehen im Fokus, Nr. 4/5, vom 15.März 2022
9. Friedman, George, Vortrag gehalten beim Chicago Council on Foreign Relations, Februar 2015, engl. mit deutscher Simultanübersetzung. https://www.youtube.com/watch?v=T1hn5LRT5dw