Die UN-Charta muss das Herz und die Seele jeder neuen Friedensarchitektur sein

Michael von der Schulenburg
(Bild zvg)

Michael von der Schulenburg,* Deutschland

(5. September 2023) Dieser Artikel ist ein Beitrag für die deutsche Friedensbewegung zum diesjährigen «Anti-Kriegstag am 1. September». An diesem Tag vor 84 Jahren überfiel das Deutsche Reich Adolf Hitlers Polen und entfachte damit den Zweiten Weltkrieg und brachte damit unbeschreibliches Unglück und Leiden über Europa und die Welt.

Die UN-Charta war der Versuch den beiden wohl schrecklichsten, zerstörerischsten und mörderischsten Kriegen der Menschheitsgeschichte seit der Zeit der Aufklärung, ein Friedenskonzept der Menschlichkeit entgegenzustellen.

Erforderten der Erste und Zweite Weltkrieg in heutiger Währung Tausende von Milliarden an Dollar, um immer schlimmere Waffensysteme für millionenfaches Töten zu produzieren und einzusetzen, bestand die UN-Charta nur aus zwanzig Seiten Papier. Damit stand die Kraft der Worte des Friedens den Arsenalen an Kriegswaffen gegenüber – zwei höchst ungleiche Gegenspieler! Und doch sind es die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und nicht Kriege oder militärische Siege, die die eigentlichen historischen Errungenschaften der Menschheit darstellen.

Denn als sich im Juni 1945 in San Francisco 26 Repräsentanten der alliierten Siegernationen trafen, taten sie etwas unglaublich Revolutionäres. Die nach dem Zweiten Weltkrieg zu entstehende neue Weltordnung sollte nicht mehr, wie noch nach dem Ersten Weltkrieg, durch einen Siegfrieden bestimmt werden. Von nun an sollte ein auf gemeinsame Prinzipien aufbauendes kollektives Sicherheitssystem den Weltfrieden bewahren.

Alle Nationen, unabhängig ihrer Grösse oder ihrer politischen und wirtschaftlichen Systeme, würden daran teilnehmen. Der einigende Gedanke war: Nie wieder Krieg! So ging es in der UN-Charta auch nicht um Rache und Vergeltung und es wurde nicht mehr zwischen gerechten und ungerechten Kriegen oder Siegern und Besiegten unterschieden. Konflikte zwischen Staaten sollten nur noch durch Verhandlungen und nicht mehr durch militärische Gewalt gelöst werden. Die UN-Charta nahm dadurch beide Seiten eines Konfliktes gleichermassen in die Verantwortung, eine friedliche Lösung zu finden.

In der UN-Charta verpflichten sich die Mitgliedsstaaten dann auch zur Gleichberechtigung aller Nationen, der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, der Einhaltung internationaler Vereinbarungen sowie zur internationalen Kooperation and gegenseitiger Toleranz. Herkömmliche Überlegungen Kriege durch militärisches Gleichgewicht zu verhindern, waren nicht mehr gefragt. Hingegen legt die UN-Charta das Hauptgewicht für den Erhalt eines Friedens auf fundamentale Menschenrechte und die unantastbare Würde eines jeden Menschen unabhängig von seiner Herkunft, Geschlecht und Religion und die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, sowie auf dem Recht aller Menschen auf sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt.

Und doch wurde die UN-Charta fast sofort in Frage gestellt. Nur 20 Tage nach der Unterzeichnung der UN-Charta am 26. Juni 1945 und wenige hundert Kilometer vom Tagungsort San Francisco entfernt explodierte in der Wüste von New Mexico die erste Atombombe. Und noch vor dem Inkrafttreten der UN-Charta am 24. Oktober 1945, wurden durch den Abwurf von nur zwei Atombomben auf japanische Städte, vielleicht bis zu einer Viertelmillion Menschen, fast ausschliesslich Zivilisten, getötet.

Die Jahrtausende alte Überzeugung, dass nur eine militärische Überlegenheit Sicherheit garantieren könne, war so mit einer nie dagewesenen Zerstörungskraft wiedererstanden. Hatten bereits die vorhergegangenen Kriege Weltbrände verursacht, so bestand nun die Möglichkeit in kürzester Zeit die gesamte Menschheit auszulöschen. Im Kalten Krieg haben dann auch Atomwaffen und nicht die UN-Charta die internationalen Beziehungen bestimmt. Die Hoffnung auf einen Frieden, der auf der Zusammenarbeit aller Nationen aufbaut, wurde durch die Bedrohung einer sich «gegenseitig zugesicherten Vernichtung» ersetzt.

Die grosse Tragödie unserer Zeit ist es aber, dass auch mit dem Ende des Kalten Krieges kein Frieden entstand. Dabei waren die Voraussetzungen dafür ausgesprochen vielversprechend. Mit der Auflösung des Warschauer Paktes und dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 gab es keine Feinde mehr. Der Weg zu einem in der UN-Charta vorgesehenen weltumspannenden Frieden war nun frei. Anfangs schien es auch so, als im Jahre 1990 die auf der UN-Charta aufbauende Charta von Paris für ein neues friedliches Europa feierlich beschlossen wurde.

Nur sahen das die Strategen der USA ganz anders. Indem damals Russland im Chaos versank und China geopolitisch noch keine Rolle spielte, war die USA zur alleinigen globalen Supermacht aufgestiegen.

Bereits im Jahr 1992, also nur einem Jahr nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, wurde die Wolfowitz-Doktrin formuliert, nach der kein kollektives Sicherheitssystem wie das der UN-Charta, sondern allein die USA, gestützt auf ihre militärische, wirtschaftliche und technologische Übermacht, die internationalen Regeln bestimmen und auch durchsetzen solle. Die Idee einer «regelbasierten Weltordnung» war geboren.

Es sollte ein neues «amerikanisches Jahrhundert» werden, wobei durch die Nato die europäischen Staaten in dieses Projekt eingebunden werden würden. So wuchs die Nato von vormals 16 auf heute 32 Mitgliedsstaaten und das, obwohl seit der Auflösung des Warschauer Paktes die USA und ihre Verbündeten keiner militärischen Bedrohung ausgesetzt waren.

Ziel war es nun, die globale Vorherrschaft der USA aufrechtzuerhalten: «Unser erstes Ziel ist, das Wiederauftreten eines neuen Rivalen auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion oder woanders zu verhindern …», so in der Wolfowitz-Doktrin.

Damit war auch die Nato kein Verteidigungsbündnis mehr, sondern hatte sich in ein Machtinstrument der Staaten des «weissen Nordens» unter Führung der USA entwickelt, eines «weissen Nordens» der heute mit gerade mal 11% der Weltbevölkerung (und abnehmend) eine Minderheit ist, aber dennoch das Recht für sich beansprucht, die Welt durch ein weltweites Netz von 700 bis 800 amerikanischen Militärbasen und durch über 60% der weltweiten Militärausgaben zu dominieren – im Vergleich zu China mit 13%, Russland mit 4% und Indien mit 3,6% der Weltrüstungsausgaben.

War die Nato als Verteidigungsbündnis noch UN-Charta konform, ist sie das heute als das einzig bestehende Militärbündnis in der Welt zur Durchsetzung unilateraler Vormachtansprüche nicht mehr. Es sollte daher nicht wundern, dass sich gegen die Nato zunehmend Widerstand unter Nicht-Nato Staaten formiert.

So ist der Ukraine-Krieg, indem es darum geht, eine weitere Ausweitung der Nato in die Ukraine und Georgien zu verhindern, ein Ausdruck dieses Widerstands. Das betrifft in erster Linie Russland, erklärt aber auch, warum es in Asien, in Afrika, dem Mittleren Osten und in Latein Amerika trotz Russlands illegaler Intervention keine Unterstützung für die westliche Nato-Ausweitungs-Politik in der Ukraine gibt.

Die politisch-militärischen Spannungen zwischen den USA und Nato einerseits und Russland und China anderseits scheinen heute einen Tiefpunkt erreicht zu haben, den wir so nicht einmal aus den Zeiten des Kalten Krieges kannten. Es gibt eine sich immer schneller drehende Spirale neuer Sanktionen und Wirtschaftsblockaden. Gleichzeitig haben die globalen Militärausgaben ein noch nie dagewesenes Niveau erreicht – und steigen weiter. Nuklearwaffen werden «modernisiert», um «intelligenter» zu werden, und neue Hyperschall-Raketensysteme und Tarnkappenkampfjets sollen sie «sicher» ins Ziel bringen. Es gibt immer mehr autonome Waffensysteme, die ohne menschliches Zutun operieren und mit Stealth-Technologien und künstlicher Intelligenz ausgerüstet sind. Auch gibt es Vorbereitungen, zukünftig Cyber- und Weltraumkriege führen zu können. Wir kommen immer mehr zu einer Situation, in der der Mensch die Kontrolle über militärische Entscheidungen verlieren könnte. Wir scheinen gefangen im Wahnsinn des Krieges.

Dabei sind die drückenden Probleme der Menschheit ganz andere: die Erwärmung der Erdatmosphäre, der steigende Meeresspiegel, die Verwüstung riesiger Regionen, der Mangel an Wasser, und immer noch eine grassierende Armut und weit verbreitete Unterernährung. Hinzu kommen anschwellende Flüchtlings- und Migrantenströme, sich ausbreitende Slums, tödliche Epidemien, begrenzte Rohstoffe und innerstaatliche Konflikte und Gewalt. Keine dieser Probleme werden wir mit Panzern, Raketenwerfern oder gar Massenvernichtungswaffen lösen können.

Das Zerstörungspotential moderner Waffensysteme ist inzwischen für unsere immer enger zusammenrückende Welt viel zu gross geworden, als dass wir rational noch die Wahl zwischen einer Sicherheit durch Waffen oder einem Frieden durch Zusammenarbeit hätten. Vielleicht könnten das sinnlose Töten und Zerstören im Ukrainekrieges der Auslöser dafür sein, uns klar zu werden, dass wir zurück zu einer Friedensordnung kommen müssen, die nicht auf militärische Überlegenheit und mächtige Militärblöcke baut, sondern die auf den Prinzipien der UN-Charta beruht.

Die UN-Charta ist und bleibt Ausdruck der Hoffnung der Menschheit auf Frieden. Sie ist inzwischen von einer Vielzahl an internationalen Konventionen und Vereinbarungen zu fast allen Aspekten unseres menschlichen Zusammenlebens umgeben, angefangen von Menschenrechten bis zum Klimaschutz sowie zu faireren humanitären, sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen in der Welt. Ihnen ist gemein, dass sie auf die Gewaltlosigkeit zwischen Staaten, der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder und der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung aller Menschen setzen.

So ist das Problem auch nicht die UN-Charta, sondern der Umstand, dass vier der fünf Vetomächte im UN-Sicherheitsrat, und damit die eigentlichen Garanten der UN-Charta, die USA, Grossbritannien, Frankreich und nun auch Russland, diese wiederholt verletzten und illegale Kriege geführt haben. Diese vier Vetomächte sind alle Staaten des «weissen Nordens», drei von ihnen sind sogar führende Staaten der Nato. Um den zukünftigen Weltfrieden zu sichern, wird sich das ändern müssen. Den Ländern des «globalen Südens» muss ein grösseres Mitsprache- und Entscheidungsrecht im UN-Sicherheitsrat eingeräumt werden.

Eine Konsequenz des Ukrainekrieg ist bereits, dass sich die globale Position des «globalen Südens» verstärkt hat, während der westliche Drang nach einer von ihnen dominierten Weltordnung zu schwächen beginnt. Ein unvorhergesehenes positives Ergebnis des Ukraine-Krieges könnte es so sein, dass er zu einer gerechteren multi-polaren Weltordnung führen wird – einer Weltordnung, für die die UN-Charta ursprünglich konzipiert war.

Auch der Ukraine-Krieg wird eines Tages zu Ende gehen und wir werden uns wieder um eine neue Friedensordnung bemühen müssen, um «künftige Geschlechter vor der Geissel des Krieges zu bewahren». Eine friedliche und faire Welt für die bald 10 Milliarden Erdbewohner, von denen 9 Milliarden aus dem «globalen Süden» kommen werden, muss auf den Prinzipien der UN-Charta aufgebaut werden. Die UN-Charta muss daher im Zentrum jeder Friedensbewegung stehen.

* Michael von der Schulenburg, 1948, ehemaliger stellvertretender Generalsekretär der Vereinten Nationen, studierte in Berlin, London und Paris. Er arbeitete und lebte 34 Jahre in Friedens- und Entwicklungsmissionen der Vereinten Nationen und kurzzeitig der OSZE in vielen Ländern, die durch Kriege, durch Konflikte mit bewaffneten nichtstaatlichen Akteuren und/oder durch ausländische Militärinterventionen geschwächt und zerrissen waren.
Dazu gehörten Langzeiteinsätze in Haiti, Pakistan, Afghanistan, Iran, Irak und Sierra Leone sowie kürzere Einsätze in Syrien, Somalia, dem Balkan, der Sahelzone und Zentralasien. Im Jahr 2017 veröffentlichte er das Buch «On Building Peace – Rescuing the Nation-State and Saving the United Nations» und publizierte zahlreiche Artikel zu UNO-Reformen, innerstaatlichen bewaffneten Konflikten, Afghanistan, Irak und der Ukraine. (www.michael-von-der-schulenburg.com)

(Publikation mit freundlicher Genehmigung des Autors.)

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