Die Untergrabung des Rechts wird zum Problem
von Guy Mettan,* Genf
(16. Mai 2023/ Was tun, wenn das Recht gebeugt wird und nicht mehr «Recht» ist? Seit etwa 15 Jahren besteht eine starke Tendenz, das Recht – Völkerrecht, Wirtschaftsrecht und höheres Recht der Nationalstaaten – zugunsten von Interessen zu beugen, die nichts mehr mit Gerechtigkeit und Fairness zu tun haben.
Wie ein Fisch verfault das Recht vom Kopf her, von oben. Dafür gibt es unzählige Beispiele.
Nehmen wir den Fall des Internationalen Strafgerichtshofs. In nur wenigen Monaten Ermittlungszeit hat er Wladimir Putin wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Nun gut. Aber wie glaubwürdig ist dieser Gerichtshof, wenn man bedenkt, dass sein Vorsitzender ein Pole und sein Ankläger ein Brite ist und beide ausgesprochen russophobe sind? Dass die ehemalige Staatsanwältin Fathi Bensouda von Washington bestraft wurde, weil sie amerikanische Kriegsverbrechen in Afghanistan untersuchen wollte? Dass die derzeitige Staatsanwältin dokumentierte Anklagen gegen kolumbianische Paramilitärs und rechtsextreme Regierungen zu den Akten gelegt hat? Schliesslich forderte der ANC – die Mehrheitspartei im südafrikanischen Parlament – dass Südafrika sich aus diesem so wenig unparteiischen Gericht zurückzieht, bevor er wieder einen Rückzieher machte. Sind dies die Vorboten eines juristischen Debakels?
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist von ähnlichen Fehlentwicklungen betroffen. Der einst respektierte Gerichtshof ist unter den Einfluss der Soros-Netzwerke geraten, denen es gelungen ist, etwa 20 Richter zu ernennen, die den NGOs des ungarisch-amerikanischen Milliardärs nahestehen, wie die tiefschürfenden Recherchen der französischen Wochenzeitschrift «Valeurs actuelles» aufgedeckt haben; sie wurden nie dementiert. Inzwischen ist er den «wokistischen» und neoliberalen Werten verfallen. Seit drei Jahren werden Petitionen, parlamentarische Resolutionen und die Einsetzung einer Expertengruppe zur «Wahrung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter» verabschiedet – ohne Ergebnis. So effektiv war die Lobbyarbeit.
Der Oberste Gerichtshof der USA, der mittlerweile völlig politisiert ist. Das französische Verfassungsgericht, das sich aus Mitgliedern der herrschenden Kräfte zusammensetzt, die sich ganz ihrer jeweiligen Interessen verschrieben haben, sind nur noch eine Registrierungskammer für Regierungsentscheidungen, wie ihre jüngste Entscheidung über das Rentengesetz gezeigt hat. Sie hat sich sogar erlaubt, die Durchführung einer Volksbefragung zu verbieten!
Die Unabhängigkeit der Richter und die Unparteilichkeit der Gerichte sind jedoch nicht das einzige Problem. Die Extraterritorialität bestimmter Rechte, insbesondere des amerikanischen Rechts, und das Privileg der universellen Zuständigkeit, das sich einige Gerichte angeeignet haben, sind ebenfalls problematisch. Sie umgehen die Rechte und damit die nationalen Freiheiten insofern, als sie ihre Regeln ohne jede demokratische Entscheidung durchsetzen.
Wo bleibt das Recht, wenn ein obskurer Richter aus North Carolina Julian Assange verklagt und ihn unter Missachtung des englischen Rechts in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis inhaftiert? Wenn amerikanische Gerichte es sich erlauben, europäische Unternehmen zu Milliardenstrafen zu verurteilen, weil sie den Dollar «missbräuchlich» verwendet haben, wenn der Kongress willkürliche Sanktionen verhängt und das Eigentum von Unternehmen oder Einzelpersonen beschlagnahmt, die nicht von den Vereinten Nationen, der einzigen Instanz für internationales Recht, gebilligt wurden – wo ist da das Recht? Wo bleibt der Respekt vor dem Privateigentum, das in den Verfassungen der demokratischen Länder, einschliesslich der Schweiz, garantiert ist?
Und wenn jedes westliche Gericht für die Verurteilung eines Kriegsverbrechers zuständig ist, bedeutet das, dass jedes afrikanische, chinesische oder russische Gericht für die Kriegsverbrechen zuständig ist, die der Westen im Irak, in Serbien und anderswo auf der Welt begangen hat, da diese Verbrechen unverjährbar sind. Wenn das Recht eines bestimmten Staates dem gesamten Völkerrecht übergeordnet ist, wozu dient dann das Völkerrecht?
Um die Überlegenheit des westlichen Rechts über das UNO-Völkerrecht und die nationalen Rechte zu rechtfertigen, berufen sich der Westen und die USA stets auf die «rules-based order» die «regelbasierte Ordnung». Aber welche Regeln sind das? Worauf beziehen sie sich? Wer hat sie aufgestellt, nach welchen demokratischen Verfahren? All das wird nie näher erläutert. Es ähnelt sehr den Gesetzen des «Ancien Régime»,1 die man zu kennen hatte, die aber geheim gehalten wurden, weil sie in keinem Amtsblatt veröffentlicht wurden...Unsere Länder, die sich doch rühmen, Rechtsstaaten und Demokratien zu sein, die die Freiheiten der Bürger respektieren, erweisen sich also bei genauerem Hinsehen als sehr anfällig dafür, ihre eigenen Gesetze zu missachten, sobald eine Krise eintritt: Die Anschläge vom 11. September 2001 und der darauf folgende Krieg gegen den Terrorismus, die Wirtschaftskrisen von 2008 und 2023 und die Rettung der Banken, die Covid-Pandemie und die Ausserkraftsetzung der Freiheiten durch die Einführung eines Passes, der Krieg in der Ukraine... Dabei sollten sie eigentlich als erste mit gutem Beispiel vorangehen und verhindern, dass das Recht des Stärkeren das letzte Wort hat.
(Übersetzung Schweizer Standpunkt»)
1 Das «Ancien Régime» in Frankreich zeichnet sich durch eine absolute Monarchie mit göttlichem Recht und soziale Ungleichheit aus, die auf Geburtsprivilegien für den Adel und der wichtigen Rolle des Klerus beruht. Es gibt keine schriftliche Verfassung und der König ist die Verkörperung des Staates.