Die Ziele der nachhaltigen Entwicklung neu überdenken
von Alfred de Zayas,* Genf
(16. Dezember 2022) Am 8. September 2000 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen voller Optimismus und Entschlossenheit die Millenniumserklärung (Resolution 55/2),1 in der bekräftigt wurde, dass Entwicklung zusammen mit Frieden und Menschenrechten die Prioritäten der Organisation für das 21. Jahrhunderts.
Als die Generalversammlung am 14. Dezember 2000 die acht Millenniums-Entwicklungsziele2 (2000 bis 2015) verkündete, bestand die Hoffnung, dass diese Ziele erreicht werden würden. Die Zeit war reif und der politische Wille schien vorhanden zu sein. Ein grosser Verdienst gebührt dem UNO-Generalsekretär Kofi Annan und später dem Vize-Generalsekretär Wu Hongbo.3
Leider wirkten sich die Terroranschläge auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 und eine Reihe von Kriegen in Afghanistan, im Irak und im gesamten Nahen Osten negativ auf die Prioritäten der Welt aus und liessen die Entwicklung in den Hintergrund rücken. Der Fahrplan für die Entwicklung ging verloren, da der so genannte «Krieg gegen den Terror» die Erwartungen, die wir bis dahin so gerne gehegt hatten, zunichte machte.
Millenniums-Entwicklungsziele
Der springende Punkt ist, dass die Verwirklichung der Millenniums-Entwicklungsziele Finanzmittel in Höhe von Billionen von Dollar erforderte. Ungeachtet der wortreichen Lippenbekenntnisse der meisten Politiker lagen die Prioritäten auf der Förderung von «Farbrevolutionen» und der Durchsetzung einer neoliberalen Wirtschaftsagenda, die Naomi Klein in ihrem Buch «Die Schock-Strategie»4 brillant beschrieben hat.
Für die Entwicklung hätten angemessene Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden können, doch dies hätte vorausgesetzt, dass die Länder mit den stärksten Volkswirtschaften wie die USA und Deutschland einen Paradigmenwechsel vollzogen hätten, weg von einer Wirtschaft, bei der das Militär im Vordergrund steht, hin zu einer Wirtschaft, bei der die menschliche Sicherheit im Vordergrund steht. Leider hatten sie und andere Grossmächte andere Haushaltsprioritäten, und anstatt die notwendigen Mittel für die Erreichung von Entwicklungszielen bereitzustellen, erhöhten die meisten Länder ihre Militärbudgets, sehr zur Freude der Investoren in der Kriegsindustrie, der Spekulanten und Kriegsgewinnler. Die Menschheit blieb auf der Strecke, wie Ban Ki-moon im August 2012 beklagte: «Die Welt ist überbewaffnet, und der Frieden ist unterfinanziert.»5
Wahre Demokratien hätten ihren Wählern die Frage gestellt, ob sie mehr Entwicklung oder ständig wachsende Militärbudgets wollen. Da die Antwort zu offensichtlich wäre, wurde nie ein Referendum über diese entscheidende Frage der Entwicklung abgehalten. In den USA sind sowohl die Demokraten als auch die Republikaner dem militärischen Establishment verpflichtet.
Trotz der vielen Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Millenniums-Entwicklungsziele verkündeten einige optimistische UN-Bürokraten eine Reihe von Erfolgen, nämlich
• die Zahl der Todesfälle bei Kindern unter 5 Jahren weltweit von 12,7 Millionen im Jahr 1990 auf 6,3 Millionen im Jahr 2013 gesunken ist;
• der Anteil der untergewichtigen Kinder unter 5 Jahren in den Entwicklungsländern von 28% im Jahr 1990 auf 17% im Jahr 2013 gesunken ist;
• die HIV-Neuinfektionen sind zwischen 2001 und 2013 um 38% zurückgegangen;
• die Tuberkulosefälle sind zurückgegangen;
• 2010 hatte die Welt das Ziel der Millenniums-Entwicklungsziele für den Zugang zu sauberem Trinkwasser erreicht.6
17 Ziele für nachhaltige Entwicklung
Da die Versprechen der Millenniumserklärung nicht erfüllt wurden, wurde 2017 eine «neue» Reihe von 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung [Sustainable Development Goals, SDGs] verkündet, die bis zum Jahr 2030 erreicht werden sollen.7 Das neue Konzept für Frieden und Wohlstand trägt den Namen Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung und stützt sich auf globale Partnerschaften und internationale Solidarität.8 Die SDGs bauen auf der Arbeit vieler UN-Organisationen auf, darunter die Weltgesundheitsorganisation,9 die Internationale Arbeitsorganisation,10 die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung,11 das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte12 und die UN-Abteilung für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten.13
Kurz gesagt zielen die 17 SDGs auf Folgendes ab:
1) Beseitigung der Armut
2) Ernährungssicherheit
3) Gute Gesundheit und Bereitschaft für Notfälle
4) Hochwertige Bildung
5) Gleichstellung der Geschlechter
6) Sauberes Wasser und sanitäre Einrichtungen
7) Erschwingliche saubere Energie
8) Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum
9) Industrie, Innovation und Infrastruktur
10) Ungleichheiten abbauen, Diskriminierung verbieten
11) Aufbau nachhaltiger Städte und Gemeinden
12) Verantwortungsvoller Konsum und Produktion
13) Klimamassnahmen zur Bekämpfung von globaler Erwärmung, Wüstenbildung und Naturkatastrophen
14) Schutz der Ozeane und des Lebens unter Wasser
15) Nachhaltige Nutzung der terrestrischen Ökosysteme
16) Förderung von Frieden, Gerechtigkeit und starken Institutionen
17) Aufbau wirksamer Partnerschaften zur Erreichung der Ziele
Viele dieser Ziele sind mehr als blosse Versprechen und bestehen bereits als vertragliche Verpflichtungen seitens 173 Vertragsstaaten des UN-Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR),14 171 Vertragsstaaten des UN-Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR),15 182 Vertragsstaaten des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung16 und 189 Vertragsstaaten des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau.17
Das Recht auf Leben, das notwendigerweise das Recht auf Frieden und das Recht auf Gesundheit einschliesst, ist beispielsweise in Artikel 6 ICCPR verankert. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und das Verbot der Plünderung der natürlichen Ressourcen indigener Völker18 sind in Artikel 1 des ICCPR und des ICESCR gemeinsam festgelegt. Das Recht auf Gesundheit, Bildung, Wasser, sanitäre Einrichtungen, Beschäftigung usw. ist im ICESCR geschützt.
Investitionsschutz – ein Verstoss gegen die guten Sitten
Darüber hinaus dürfen transnationale Unternehmen, Privatpersonen oder Staaten den politischen Spielraum ausländischer Regierungen nicht einschränken, insbesondere nicht durch die «Investitionsschutz»-Kapitel bilateraler Investitionsabkommen und sogenannter Freihandelsabkommen. Schiedsverfahren im Rahmen des Investor-Staat-Streitbeilegungsmechanismus (ISDS) umgehen das System der öffentlichen Gerichte, die transparent und rechenschaftspflichtig sind und deren Urteile angefochten werden können.
In einem sehr realen Sinne ist ISDS ein Verstoss gegen die guten Sitten, da es mit dem Wesen eines Staates unvereinbar ist, der das Wohlergehen der seiner Rechtsprechung unterliegenden Menschen fördern soll, was die Verabschiedung von Sozialgesetzen erfordert, die mit den Profitinteressen von Investoren in Konflikt geraten können. Es ist unvertretbar, Gewinne zu privatisieren, während das Verlustrisiko vom Staat getragen wird.
Der Fall Philip Morris gegen Uruguay wurde emblematisch, als Philip Morris19 Uruguay wegen der Umsetzung des WTO-Rahmenübereinkommens zur Eindämmung des Tabakkonsums durch Uruguay verklagte.20 ISDS kann nicht reformiert werden und muss abgeschafft werden, da es gegen das Jus cogens, Artikel 53 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge, verstösst.21 Leider sabotiert ISDS weiterhin den Regulierungsraum von Staaten, insbesondere von Entwicklungsländern.
Seit der «Zeit der Unruhen» in der Ukraine ist das Problem der Finanzierung der SDGs immer prekärer geworden. Der Sturz der demokratisch gewählten Regierung von Präsident Wiktor Janukowytsch im Februar 2014 hat einen neuen heissen Krieg ausgelöst und weltweit zu einer erheblichen Erhöhung der Militärbudgets geführt, wodurch die SDGs weiter ins Abseits geraten.
Auswirkungen der Covid-19-Pandemie
Die Covid-19-Pandemie, für deren Bekämpfung Milliarden von Dollar ausgegeben wurden, beeinträchtigte die SDGs insgesamt weiter. Sie zeigte auch, wie schlecht die Staaten auf medizinische Notfälle vorbereitet waren. Die Privatisierung der Medizin und die Schliessung von Krankenhäusern, wenn sie nicht genug Gewinn abwarfen, führten zu Tausenden von vermeidbaren Todesfällen. Dennoch wurde niemand in der Regierung dafür zur Rechenschaft gezogen, dass sie die neoliberalen Dogmen gegen ihre vertraglichen Verpflichtungen aus dem ICESCR und anderen Menschenrechtsverträgen, die sie ratifiziert haben, vorantreibt – und munter ignoriert.
Weltbank und IWF behindern Umsetzung der SDGs
Man sollte meinen, dass die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) eine wichtige Rolle beim Vorantreiben der SDGs spielen könnten. Doch obwohl die Weltbank und der IWF Assoziierungsabkommen mit der UNO haben, unterliegen sie nicht der Autorität der Generalversammlung oder des Generalsekretärs. Im Wesentlichen stehen die Weltbank und der IWF im Dienst des überholten «Bretton-Woods»-Modells, das 1944 ins Leben gerufen wurde, um die wirtschaftliche Hegemonie der USA in der Welt aufrechtzuerhalten.
Ungeachtet meiner Berichte an die UNO-Generalversammlung und den Menschenrechtsrat aus dem Jahr 2017 oder der Berichte der Berichterstatter zur Auslandsverschuldung, des Berichterstatters zum Recht auf Nahrung und des Berichterstatters zum Recht auf Gesundheit ist es offensichtlich, dass die Politik von Weltbank und IWF die Umsetzung der SDGs tatsächlich behindert. The Lancet hat auch dokumentiert, wie sich die Privatisierung des Gesundheitssektors als verheerend für die Prävention von Krankheiten oder deren Bewältigung erwiesen hat, sobald eine Cholera-, Ebola- oder andere Pandemie ausgerufen wurde.22
Soziale Gerechtigkeit kultivieren, um zum Weltfrieden zu gelangen
In Anbetracht der obigen Ausführungen ist es offensichtlich, dass die Millenniums-Entwicklungsziele und die SDGs mehr denn je gebraucht werden. Natürlich sind sie nicht aufgrund einer «unbefleckten Empfängnis» entstanden, sondern bauen auf der Arbeit von UN-Organisationen und der Zivilgesellschaft auf, z. B. der UNO-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro (Brasilien) im Juni 1992, der Agenda 21, der Erklärung von Johannesburg über nachhaltige Entwicklung, die auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung 2002 in Südafrika verabschiedet wurde, der UN-Konferenz für nachhaltige Entwicklung (Rio+20), dem Abschlussdokument «The Future We Want», der Einrichtung des Hochrangigen Politischen Forums für nachhaltige Entwicklung, der Aktionsagenda zur Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba, dem Pariser Abkommen über den Klimawandel, der Einrichtung der UN-Abteilung für nachhaltige Entwicklungsziele,23 usw.
Obwohl die UNO die Fortschritte bei der Umsetzung der SDGs überwacht, scheinen die Aussichten düster zu sein,24 vor allem wegen des Krieges in der Ukraine25 und der Ausweitung der Wirtschaftssanktionen, die die Globalisierung ins Wanken gebracht und die Lieferketten gestört haben.26
Sehr erfreulich ist hingegen die hervorragende Arbeit des Columbia Center on Sustainable Investment (CCSI) an der Columbia Universität in New York unter der Leitung von Professor Jeffrey Sachs, dem Sonderberater des Generalsekretärs für nachhaltige Entwicklung.27
Der neue Bericht des CCSI mit dem Titel «Roadmap to Zero-Carbon Electrification of Africa» [Plan zur kohlenstofffreien Elektrifizierung Afrikas] zeigt beispielsweise, wie die afrikanischen Länder den Zugang zu erschwinglicher Elektrizität erheblich ausweiten, Millionen von Arbeitsplätzen schaffen und ihre Volkswirtschaften zukunftssicher machen können, indem sie ihre Investitionen in erneuerbare Energien erhöhen. In diesem Zusammenhang ist auch Afrikas eigene Entwicklungsagenda 2063 zu erwähnen, die von der Sonderberaterin des Generalsekretärs für Afrika, Cristina Duarte, gefördert wird.28
Es gibt keinen Mangel an guten Ideen, keinen Mangel an guten Köpfen wie Jeffrey Sachs, Joseph Stiglitz, Naomi Klein, Arundhati Roy, den WHO-Botschaftern des guten Willens wie Ellen Johnson Sirleaf und vielen anderen. Was wir am meisten brauchen, ist intellektuelle Ehrlichkeit in den Regierungen der reichen Länder und der politische Wille, eine bessere Welt auf der Grundlage von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit aufzubauen.
Ich habe immer das Motto der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) bewundert: si vis pacem, cole justitiam. Wenn wir Frieden wollen, müssen wir für Gerechtigkeit sorgen. Dies gilt systemweit für alle UN-Organisationen und für alle Frauen und Männer guten Willens. Es ist an der Zeit, eine «Konversionstherapie» durchzuführen, weg vom militärisch-industriellen, digital-finanziellen Komplex hin zur realen Welt der Menschen, die ein Recht auf ein Leben in Frieden und Würde haben.
* Alfred de Zayas ist Professor für Völkerrecht an der Genfer Hochschule für Diplomatie und war von 2012–2018 unabhängiger Experte der Vereinten Nationen für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung. |
Quelle: https://www.counterpunch.org/2022/11/25/revisiting-the-goals-of-sustainable-development, 25. November 2022
(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)
1 https://www.ohchr.org/en/instruments-mechanisms/instruments/united-nations-millennium-declaration
https://www.un.org/development/desa/en/millennium-development-goals.html
2 https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/millennium-development-goals-(mdgs)
3 https://www.un.org/development/desa/statements/previous-usg.html
4 https://naomiklein.org/the-shock-doctrine/
5 https://www.un.org/disarmament/update/20120830/
6 https://www.un.org/millenniumgoals
https://www.un.org/millenniumgoals/2015_MDG_Report/pdf/MDG%202015%20rev%20(Juli%201).pdf
https://research.un.org/en/docs/dev/2000-2015
7 https://www.un.org/en/exhibits/page/sdgs-17-goals-transform-world
8 Siehe die Berichte des unabhängigen UN-Experten für Menschenrechte und internationale Solidarität.
https://www.ohchr.org/en/special-procedures/ie-international-solidarity
9 https://www.who.int/
https://www.who.int/data/gho/publications/world-health-statistics
10 https://www.ilo.org/global/topics/sdg-2030/lang-en/index.htm
11 https://unctad.org/topic/trade-analysis/trade-and-SDGs
12 https://www.ohchr.org/en/sdgs
18 https://www.un.org/sustainabledevelopment/blog/2016/05/indigenous-peoples-share-hopes-for-the-sdgs/
https://indigenouspeoples-sdg.org/index.php/english/all-global-news/702-indigenous-peoples-engagement-in-the-sdgs
19 https://www.theguardian.com/business/2015/nov/24/philip-morris-should-not-be-interfering-with-uruguays-public-health-legislation
https://www.theguardian.com/commentisfree/2015/nov/16/philip-morris-uruguay-tobacco-isds-human-rights
20 https://fctc.who.int/who-fctc/overview
21 Siehe meine Berichte 2015 und 2016 an den Menscherechtsrat und die Generalversammlung. https://www.ohchr.org/en/special-procedures/ie-international-order
22 https://www.thelancet.com/journals/langlo/article/PIIS2214-109X%2814%2970377-8/fulltext
https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(22)01585-9/fulltext
25 https://www.undp.org/africa/publications/impact-war-ukraine-sustainable-development-africa
26 https://press.un.org/en/2017/gaef3474.doc.htm
27 https://csd.columbia.edu/sachs
https://www.un.org/en/chronicle/article/secretary-generals-agenda-indispensable-sustainable-development