Eine Provokation ist keine harmlose Tat

Alfred de Zayas (Bild zvg)

von Alfred de Zayas,* Genf

(23. Mai 2023) Eine Provokation ist keine harmlose Tat. Unter bestimmten Umständen stellt eine Provokation eine unerlaubte Handlung oder sogar eine Straftat dar, insbesondere wenn sie absichtlich eine gewalttätige Reaktion hervorruft. Es gibt keine verbindliche Definition des Begriffs «Provokation», der im Allgemeinen als vorsätzliches oder rücksichtsloses Verhalten verstanden wird, das eine andere Person zu einer gewalttätigen Reaktion – aus Angst, Wut oder Empörung – veranlassen kann.

Im Vereinigten Königreich verbietet das Gesetz über die öffentliche Ordnung (Public Order Act) «missbräuchliche oder bedrohliche Worte oder Verhaltensweisen», insbesondere «um die unmittelbare Anwendung rechtswidriger Gewalt durch diese Person oder eine andere Person zu provozieren». Im innerstaatlichen Recht der Vereinigten Staaten wird die Provokation als weniger verwerflich angesehen. Der Schwerpunkt liegt nicht auf dem Verbot oder der Kriminalisierung der Provokation, sondern auf dem Recht auf Widerstand.

Es gibt zahlreiche Gesetze, die als «stand your ground»-Gesetze bezeichnet werden und oft durch die so genannte «Castle Doctrine» gestützt werden. Sie legitimieren die Gegenwehr und sehen im Wesentlichen einen Freispruch oder zumindest eine Milderung der Schuld der Partei vor, die sich provoziert fühlte und mit Gewalt, manchmal mit tödlicher Gewalt, reagierte. In vielen Staaten sind diese Gesetze missbraucht worden und haben dazu geführt, dass die Person, die auf eine Provokation reagiert, straffrei bleibt, selbst wenn es sich um eine grobe Überreaktion handelt.

Auf die internationalen Beziehungen angewandt, scheint der Ansatz «my home is my castle» die Anwendung von Gewalt als eine Form der Selbstverteidigung zu rechtfertigen. Dies muss jedoch eingeschränkt werden, denn es ist nur allzu leicht, den Begriff der Provokation zu manipulieren und Operationen unter falscher Flagge auszuhecken, um eine militärische Reaktion zu rechtfertigen. Dies bringt ein subjektives Element mit sich, das insbesondere bei Konfrontationen zwischen Atommächten äusserst gefährlich sein kann.

Seit der Verabschiedung der UN-Charta am 24. Oktober 1945 besteht ein absolutes Gewaltverbot, ausser mit Zustimmung des UN-Sicherheitsrats und unter den sehr engen Umständen, die in Artikel 51 der UN-Charta festgelegt sind, der die Selbstverteidigung gegen eine bereits bestehende militärische Aggression erlaubt, dann aber nur verhältnismässig und vorübergehend, bis der Sicherheitsrat mit der Angelegenheit befasst wird.

Das Verbot der Gewaltanwendung ist in Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta verankert und wird in zahlreichen Resolutionen des Sicherheitsrats und der Generalversammlung bekräftigt. Leider versuchen einige mächtige Länder, Ausnahmen zu erfinden, indem sie z.B. das nicht existierende Recht auf «präemptive» Selbstverteidigung postulieren. Die jüngsten bewaffneten Konflikte in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und der Ukraine dokumentieren eine Tendenz zur Aufweichung des Gewaltverbots, obwohl die Behauptung einer «präemptiven» Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta nicht haltbar ist.

Die Mainstream-Medien steuern das Narrativ häufig in dem Versuch, die Anwendung von Gewalt zu «legitimieren», z. B. durch die USA und die Nato-Staaten in Jugoslawien (1999), Afghanistan (seit 2001) und im Irak (seit 2003), oder den Provokateur zu entlasten, zum Beispiel die anhaltenden Provokationen der Nato gegenüber Russland herunterzuspielen oder ganz zu ignorieren.

Es ist surrealistisch zu behaupten, die Anwendung von Gewalt im Irak sei legitim gewesen: Es war eine nackte Aggression und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ohne Wenn und Aber. Ebenso surrealistisch ist es, so zu tun, als sei die Invasion in der Ukraine «unprovoziert» und aus heiterem Himmel erfolgt. Zugegeben, der Einmarsch Russlands in die Ukraine war illegal und sollte verurteilt werden, aber das gilt auch für die Provokationen, die einen klaren Verstoss gegen Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta darstellen, der ausdrücklich die Androhung von Gewaltanwendung verbietet.

Wie die Professoren George F. Kennan,1 John Mearsheimer,2 Richard Falk,3 Jeffrey Sachs,4 Noam Chomsky,5 Vijay Prashad,6 Stephen Kinzer,7 Dan Kovalik8 und andere dargelegt haben, wurde die Nato-Erweiterung von Russland als feindlicher Einkreisungsversuch und somit als existenzielle Bedrohung wahrgenommen. Dies ist ein messbares, objektives Kriterium. Jeder Versuch Russlands, die drohende Bedrohung durch die Nato durch Verhandlungen gemäss Artikel 2 Absatz 3 der UN-Charta zu entschärfen, erwies sich als vergeblich – die Minsker-Vereinbarungen, die OSZE-Verhandlungen, das Normandie-Format, die beiden von Sergej Lawrow im Dezember 2021 vorgelegten Friedensvorschläge für eine europäische Sicherheitsarchitektur.

Die fortgesetzte Expansion und Militarisierung der Nato an den Grenzen Russlands kann als geopolitische Schikane bezeichnet werden, als Verletzung der in der UN-Charta verankerten Verpflichtung zur Zusammenarbeit auf der Grundlage gegenseitiger Achtung, der souveränen Gleichheit der Staaten und des Selbstbestimmungsrechts aller Völker, einschliesslich der russischsprachigen Mehrheitsbevölkerung auf der Krim und im Donbass.

Man kann argumentieren, dass die Provokation eines geopolitischen Rivalen beleidigender ist als eine aggressive Reaktion auf die Provokation, denn die Provokation ist beabsichtigt und häufig ein gut kalkulierter geopolitischer Schachzug, der dem Spielplan von Zbigniew Brzezinskis «Grand Chessboard»9 und dem neokonservativen «Project for a New American Century»10 folgt.

Im Gegensatz dazu ist die Reaktion auf eine Provokation in den meisten Fällen spontan und ohne böse Absicht. Provozieren bedeutet, jemanden absichtlich zu verärgern oder wütend zu machen, es ist eine Aufforderung zum Kampf, ein Fehdehandschuh. Im Idealfall sollte die Vergeltung die Provokation nicht übertreffen und den Grundsatz der Verhältnismässigkeit wahren. Wir Menschen haben jedoch die Tendenz, überzureagieren.

Während sowohl die Provokation als auch die Reaktion als kriminell angesehen werden sollten, trägt derjenige, der provoziert, die grössere moralische Verantwortung. Die moralische Schuld wird noch verstärkt, wenn derjenige, der provoziert, vorgibt, unschuldig zu sein. Die Täuschung ist ein erschwerender Umstand des Verbrechens der Provokation, die sprichwörtliche Schlange im Gras (latet anguis in herba, Vergilius11), entsprechend dem alten spanischen Sprichwort tira la piedra y esconde la mano (wirf den Stein und verstecke deine Hand), begehe das Verbrechen und leugne es. Si fecisti nega!

Das gilt für die Sabotage der Nord-Stream-Pipelines, die Bombardierung der Krim-Brücke, die Drohnen über dem Kreml, die gezielte Tötung von Journalisten und Schriftstellern. Diese Art der intellektuellen Unehrlichkeit der USA und ihrer Nato-Verbündeten, sich nicht zu ihrer Verantwortung zu bekennen, hat viele in der nicht-westlichen Welt dazu veranlasst, den USA und Europa den Rücken zu zukehren12 und woanders nach Führung zu suchen, auf Frieden durch Vermittlung und Verhandlungen zu hoffen13 und jede weitere Eskalation abzulehnen.

Fazit: Provokation kann unter den Begriff der Aggression subsumiert werden und sollte als ein Merkmal des Verbrechens der Aggression im Sinne des Römischen Statuts betrachtet werden. Und wenn es sich um eine anonyme, vorsätzliche «Hit-and-Run»-Aktion handelt, sollte das Strafmass erhöht werden.

Es ist Aufgabe der internationalen Gemeinschaft, die in der Generalversammlung der Vereinten Nationen vertreten ist, ein Ende der Provokationen und der Eskalation zu fordern. Darüber hinaus müssen die terroristischen Angriffe auf zivile Infrastrukturen, einschliesslich der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines, untersucht und vollständig offengelegt werden. Es wäre dann Sache des Internationalen Strafgerichtshofs, die Konsequenzen zu ziehen.

* Alfred de Zayas ist Professor für Völkerrecht an der Genfer Hochschule für Diplomatie und war von 2012–2018 unabhängiger Experte der Vereinten Nationen für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung.

Quelle: https://www.counterpunch.org/2023/05/10/provocation-is-not-an-innocent-act, 10. Mai 2023

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://www.nytimes.com/1997/02/05/opinion/a-fateful-error.html

2 John Mearsheimer, The Great Delusion, Yale University Press, 2018. https://www.economist.com/by-invitation/2022/03/11/john-mearsheimer-on-why-the-west-is-principally-responsible-for-the-ukrainian-crisis

3 https://richardfalk.org/2022/09/14/ukraine-war-statecraft-and-geopolitical-conflict-the-nuclear-danger/

4 https://www.newyorker.com/news/q-and-a/jeffrey-sachss-great-power-politics

5 https://theintercept.com/2022/04/14/russia-ukraine-noam-chomsky-jeremy-scahill/
https://www.democracynow.org/2022/10/3/noam_chomsky_us_isolated_ukraine_war

6 https://www.counterpunch.org/2022/03/11/236617

7 http://stephenkinzer.com/2023/02/putin-zelensky-sinners-and-saints-who-fit-our-historic-narrative

8 https://www.youtube.com/watch?v=MEzsMk-NH0A

9 The Grand Chessboard: American Primacy and its Geostrategic imperatives, Basic Books, New York 1997

10 https://archive.org/details/ProjectForANewAmericanCenturyRebuildingAmericasDefenses/page/n47/mode/2up

11 Ekloge III, V. 93

12 https://frontline.thehindu.com/world-affairs/ukraine-conflict-western-provocation-nato-united-states-against-russia-vladimir-putin/article38455554.ece
https://www.globalresearch.ca/provoked-nato-expansion-unprovoked-ukraine-war-dire-china-threat/5812148

13 https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2023/05/ukraine-war-pope-francis-position-vatican-geopolitics/673955/
https://www.msn.com/en-us/news/world/brazil-s-lula-pitches-peace-coalition-for-ukraine-but-he-treads-a-thin-line/ar-AA1afo2n
https://jacobin.com/2022/09/amlo-mexico-ukraine-peace-military-internal-security

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