IGH-Gutachten vom 19. Juli 2024 zu Israel

Israel ist aufgefordert, sich an das Völkerrecht zu halten

von Pascal Lottaz,* Neutrality Studies, Kyoto, Japan

(24. August 2024) (CH-S) Der Schweizer Historiker und Professor für Internationale Beziehungen, Pascal Lottaz, analysiert die grundlegende Dimensionen des Gutachtens des «Internationalen Gerichtshofes» (IGH) vom 19. Juli 2024 in Bezug auf die Besetzung palästinensischer Gebiete durch Israel. Nach einer schriftlichen Einführung durch den Autor geben wir den Inhalt seines englischsprachigen Videobeitrags1 wieder.

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Pascal Lottaz.
(Bild zvg)

Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat kürzlich ein weiteres wegweisendes Gutachten zur illegalen israelischen Besetzung Palästinas veröffentlicht, das Netanjahu, nach seiner wütenden Reaktion zu urteilen, sehr weh tun muss. Werfen wir also einen Blick auf dieses Dokument. Doch bevor wir darauf eingehen, sollten wir uns klar machen, womit wir es hier zu tun haben.

Nur eine Meinung?

Es handelt sich zwar um eine höchst bedeutsame Entscheidung, über die alle 15 Richter des Gerichtshofs ordnungsgemäss abstimmen mussten, aber es ist kein vollstreckbares Urteil über einen konkreten Fall, der von einem UN-Mitglied vor den IGH gebracht wurde, wie etwa der Fall «Südafrika gegen Israel». In diesem Fall gibt es keinen «Schuldspruch» oder eine «Strafe». Das Gericht hat ein so genanntes «beratendes Gutachten», original Advisory Opinion, zu einer Rechtsfrage erstellt, um die es von der UN-Generalversammlung gebeten wurde.

Das Richtergremium verkündet das Gutachten. (Bild zvg)

Warum hat die Versammlung dies getan? Nun, Gutachten des IGH sind die verbindlichsten Auslegungen des Völkerrechts, die man bekommen kann. Das bedeutet, dass die 15 Juristen des Gerichtshofs und ihre Teams eine bestimmte Rechtsfrage über Monate und Jahre hinweg untersucht haben und dann eine Stellungnahme im Sinne eines «Superexpertengutachtens» zu dieser Angelegenheit abgeben.

In der Praxis des Völkerrechts werden diese Gutachten dann zu «Rechtsquellen», die wiederum mehreren Zwecken dienen können:

  1. Sie können die Grundlage für künftige Beurteilungen konkreter Fragen sein, wenn die Mitglieder beschliessen, sich gegenseitig vor Gericht zu zerren.
  2. Sie können die UN-Mitglieder in der Generalversammlung und im Sicherheitsrat darüber informieren, was das Gesetz tatsächlich besagt, was es einfacher macht, für oder gegen Resolutionen zu argumentieren, die möglicherweise vorgeschlagen werden. Und das ist etwas, was wir in diesem Fall erwarten können. Die Generalversammlung wird in Zukunft sicherlich Resolutionen ausarbeiten, die sich auf dieses Gutachten stützen.

Das Wesen des Völkerrechts

Zweitens ist festzustellen, dass Israel das Gutachten zwar energisch zurückweist und sein Verhalten sicherlich nicht anpassen wird. Dies ist jedoch ein Rückschlag für das zionistische Projekt.**

Völkerrecht ist nämlich nicht wie innerstaatliches Recht. Es ist nicht so einklagbar wie das nationale Recht. Es kommt auch nicht auf die gleiche Weise zustande wie innerstaatliches Recht. Innerstaatliches Recht wird (in der Regel) von gesetzgebenden Körperschaften gemacht, die (in der Regel) Parlamente heissen. Es handelt sich dabei um mehr oder weniger konkrete Regeln, die dann vom Staatsapparat verwendet werden, um das gesellschaftliche Leben in einem Land zu strukturieren.

Völkerrecht funktioniert nicht so, weil es kein Weltparlament gibt, das für alle die gleiche Macht hat. Die UN-Vollversammlung sieht vielleicht ein bisschen wie ein Parlament aus, aber sie ist in Wirklichkeit nicht diese Art von Institution:

Das Völkerrecht stellt in erster Linie den «allgemeinen kollektiven Willen» der internationalen Gemeinschaft dar, der in Verträgen, Erklärungen, Gewohnheitsrecht und Expertenmeinungen zum Ausdruck kommt.

Dieses Gutachten bedeutet also, dass «die Welt» die Ansprüche Israels auf das palästinensische Land ein weiteres Mal nicht anerkennt. Natürlich ist Israel jetzt wütend und Herr Netanjahu sagte wörtlich: «Das Volk Israel ist kein Besatzer in seinem eigenen Land und in seiner ewigen Hauptstadt Jerusalem» Das ist eigentlich eine recht nützliche Aussage, denn genau das ist der Kern des Problems. Das Gutachten bedeutet, dass die Welt genau diese Behauptung nicht anerkennt, nämlich dass Israel aufgrund der Tatsache, dass Juden vor 2000 Jahren in diesem Land gelebt haben, irgendwelche magischen historischen Rechte über das Land ableitet. Das ist kein Konzept des Völkerrechts. Und Israel ist erzürnt darüber, dass es seinen Willen hier nicht durchsetzen kann.

Ein Problem für den Zionismus

Dies ist ein sehr grosses Problem für den Zionismus, da Israels gesamte politische Strategie darin besteht, einfach Fakten zu schaffen. Seit seiner Gründung im Jahr 1948 besteht Israels Idee darin, das Völkerrecht einfach zu ignorieren, Dinge zu tun, die nach diesem Recht eindeutig als Verbrechen gelten, einfach das Land zu nehmen, die Menschen, die dort leben, zu ersetzen und dies mit der Zeit zu einer Tatsache des internationalen Lebens werden zu lassen.

Das ist nicht einmal eine neue Strategie, denn genau auf diese Weise wurden alle erfolgreichen Siedlerkolonialstaaten geschaffen. Neue Menschen aus Europa rotteten die einheimische Bevölkerung aus, gründeten ihre eigenen Staaten und diese wurden Mitglieder der internationalen Gemeinschaft, weil alle anderen Staaten sie anerkannten. Und schlussendlich ist die Anerkennung durch andere Staaten der Kern der Funktionsweise des Völkerrechts.

Das Völkerrecht ist der Wille der Welt. Wenn also die Welt den Willen verliert, sich Israel zu widersetzen, und seine Ansprüche tatsächlich anerkennt, dann werden diese Ansprüche «legal» im Sinne einer Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft. Vergangene Handlungen werden immer illegal bleiben unter dem vergangenen Völkerrecht. Aber wenn sie in der Zukunft anerkannt werden, beendet das ihre Illegalität.

Und da dies die Strategie ist, «gewinnt» Israel jedes Mal, wenn Staaten sich auf die Anerkennung seiner Ansprüche zubewegen – wie bei der Entscheidung von Donald Trump, die Golanhöhen, die rechtlich zu Syrien gehören, als Teil Israels anzuerkennen – und Israel «verliert» jedes Mal, wenn jemand das Gegenteil tut.

Dieses Gutachten hier ist genau der umgekehrte Fall. Es verankert einmal mehr in den Büchern des geltenden Völkerrechts, dass das, was Israel tut, in der Tat immer noch illegal ist und es auf absehbare Zeit bleiben wird. Die grosse Mehrheit der Welt teilt die Interpretation der Rechte Israels nicht.

Hier spielt auch das «Gewicht» des Gutachtens eine Rolle, da es von 15 Richtern verabschiedet wurde und alle Fragen, über die das Gericht entschieden hat, einzeln abgestimmt und von mindestens 11 der Richter anerkannt wurden, einige Fragen sogar von mehr. Das bedeutet natürlich, dass es sich bei den meisten Fragen nicht um eine unsichere Rechtslage oder handelt. Es ist ein sehr klare Stellungnahme.

Schauen wir uns nun an, was das Gericht im geltenden Völkerrecht verankert hat.

[Im Folgenden gibt der «Schweizer Standpunkt» die mündlich vorgetragene Analyse des IGH-Gutachtens von Pascal Lottaz aus seinem Videobeitrag wieder. (Red.)]

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Das Original-Dokument2 wurde am 19. Juli 2024 in Englisch und Französisch verabschiedet und trägt den Titel: «Rechtliche Konsequenzen aus der Politik und den Praktiken Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten, einschliesslich Ost Jerusalem». Es umfasst 80 Seiten und enthält 285 Paragraphen. Das Gericht wurde damit beauftragt zu untersuchen, was die rechtlichen Konsequenzen gemäss Völkerrecht sind.

In Artikel V., Paragraphen 103–243 überprüft der IGH die Politik Israels. Es erstellt ein offizielles Protokoll der Rechtswidrigkeiten und erklärt, warum diese illegal sind, was für jeden, der den Israel-Palästina-Konflikt verstehen will, für sein juristisches Verständnis grundlegend wichtig ist. Hier legt das Gericht mit Autorität fest, wie diese Fragen betrachtet werden müssen – zum Beispiel die Gewalt gegen Palästinenser, die Ausweitung des israelischen Rechts oder der Transfer der Zivilbevölkerung (total 8 Punkte).

In Artikel VII. werden die rechtlichen Konsequenzen festgehalten, die sich aus der Politik und den Praktiken Israels und aus der Rechtswidrigkeit der fortdauernden Präsenz Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten ergeben. Es ist wichtig zu wissen, dass der IGH zuerst die Konsequenzen für Israel selbst untersucht hat:

A. Rechtliche Konsequenzen für Israel

B. Rechtliche Konsequenzen für andere Staaten (Diese sind von grosser Bedeutung.)

C. Rechtliche Konsequenzen für die Vereinten Nationen

Das Gericht hat also eine ganzheitliche Betrachtung dessen vorgenommen, was diese Situation nicht nur für Israel und Palästina, sondern auch für alle anderen UN-Mitgliedsstaaten bedeutet, und das wird Israel auf lange Sicht schaden.

Tatsache ist, dass auch die US-Richterin und die Richter aus den westlichen Ländern mit Ja gestimmt haben, was diesem Gutachten ein grosses juristisches Gewicht gibt.

Zunächst zu den eigentlichen Stellungnahmen: Alle Entscheidungen sind in Paragraph 285 auf zwei Seiten zusammengefasst (S. 78/79):

«Aus diesen Gründen

(1) Stellt das Gericht einstimmig fest, dass es für die Abgabe dieses Gutachtens zuständig ist;

(2) Beschliesst das Gericht mit 14:1 Stimmen dem Ersuchen um Abgabe eines Gutachtens stattzugeben;

(3) Ist das Gericht mit 11:4 Stimmen der Auffassung, dass die fortgesetzte Präsenz des Staates Israel in den besetzten Gebieten palästinensischen Gebieten rechtswidrig ist;

(4) Ist das Gericht mit 11:4 Stimmen der Auffassung, dass der Staat Israel verpflichtet ist, seine unrechtmässige Präsenz in den besetzten palästinensischen Gebieten so schnell als möglich zu beenden;

(5) Ist das Gericht mit 14:1 Stimmen der Auffassung, dass der Staat Israel verpflichtet ist, alle neuen Siedlungsaktivitäten unverzüglich einzustellen und alle Siedler aus den besetzten palästinensischen Gebieten zu evakuieren;

(6) Ist das Gericht mit 14:1 Stimmen der Auffassung, dass der Staat Israel verpflichtet ist, allen betroffenen natürlichen oder juristischen Personen in den besetzten palästinensischen Gebieten den entstandenen Schaden zu ersetzen;

(7) Ist das Gericht mit 12:3 Stimmen der Auffassung, dass alle Staaten verpflichtet sind, die durch die unrechtmässige Anwesenheit des Staates Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten entstandene Situation nicht als rechtmässig anzuerkennen und keine Hilfe oder Unterstützung bei der Aufrechterhaltung der durch die fortgesetzte Anwesenheit des Staates Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten geschaffenen Situation zu leisten;

(8) Ist das Gericht mit 12:3 Stimmen der Auffassung, dass internationale Organisationen, einschliesslich der Vereinten Nationen, verpflichtet sind, die durch die unrechtmässige Präsenz des Staates Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten entstandene Situation nicht als rechtmässig anzuerkennen;

(9) Ist das Gericht mit 12:3 Stimmen der Auffassung, dass die Vereinten Nationen und insbesondere die Generalversammlung, die um diese Stellungnahme ersucht hat, sowie der Sicherheitsrat die genauen Modalitäten und weiteren Massnahmen prüfen sollten, die erforderlich sind, um die unrechtmässige Präsenz des Staates Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten so schnell wie möglich zu beenden.»

Punkt 6 ist ein gewichtiger Punkt. Es geht um Reparationen.

Dieses Gutachten gibt den Palästinensern das Recht, Israel auf Entschädigung für alles zu verklagen, was sie verloren haben. Dies kann eine Menge Auswirkungen auf künftige Fälle haben, sogar auf internationale oder nationale Rechtsfälle. Denn wenn die Palästinenser nachweisen können, dass sie weder von israelischen noch von internationalen Gerichten Gerechtigkeit bekommen können, dann ist es theoretisch möglich, dass einige Staaten das Recht der Palästinenser anerkennen, Israel nach lokalem Recht zu verklagen, unter sogenannter «universeller Gerichtsbarkeit» (je nachdem, wie das nationale Recht funktioniert).

Einige innerstaatliche Gesetze sehen vor, dass sie über Ansprüche ausserhalb ihrer Gerichtsbarkeit entscheiden können, wenn gute Gründe vorliegen. Und das könnte in der Zukunft tatsächlich einer sein.

Punkt 7 ist sehr wichtig! Dies schafft eine offizielle rechtliche Verpflichtung nicht nur für Israel, sondern auch für alle anderen Staaten. Alle anderen Staaten der Weltgemeinschaft wissen nun, dass sie verpflichtet sind, Israel nicht bei der Besetzung zu unterstützen.

Das ist eine sehr deutliche Stellungnahme, und soweit ich weiss, gab es das bisher nicht.

Zum Punkt 9: Es ist das Eingeständnis, dass die UN-Organisation selbst verpflichtet sein sollte, daran zu arbeiten und den Ball an die Generalversammlung und den Sicherheitsrat zurückzuspielen, um auf politischer Ebene weiter daran zu arbeiten, denn der Gerichtshof ist natürlich ein Rechtsorgan und kein politisches. Jetzt sollte der Ball zurück an die Politiker gehen.

Umsetzung des Gutachtens

Natürlich wird das zu einem guten Teil ignoriert werden; und im Sicherheitsrat werden die USA ihr Veto einlegen. Aber in der Generalversammlung stehen die Chancen gut, dass neue Resolutionen verabschiedet werden und dass die Staaten auf der Grundlage dieses Gutachtens Resolutionen verabschieden, die so weit gehen könnten, dass sie Sanktionen und weitere Massnahmen gegen Israel empfehlen, die auf diesem Gutachten basieren.

Regeln für Drittländer

Diese Rechtsfolgen für andere Staaten sind, wie oben erwähnt, sehr bedeutsam. Es ist wichtig, dass die Verpflichtungen des so genannten erga omnes [«Absolutes Recht»], umgesetzt werden, so dass der Konflikt nicht nur die beiden Parteien betrifft, sondern auch Drittstaaten. Das Gericht hat jetzt Regeln für Drittstaaten formuliert.

Einhaltung der UNO-Charta und der Vierten Genfer Konvention durch alle Vertragsstaaten

Zu den Verpflichtungen erga omnes, die Israel verletzt hat, gehört die Verpflichtung, das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung zu respektieren. Das Gutachten sagt sehr deutlich, dass andere Staaten verpflichtet sind, den Palästinensern zu helfen, ihr Recht auf Selbstbestimmung zu verwirklichen. Es handelt sich hier um einen recht langen Abschnitt, den Sie auf Seite 75 nachlesen können.

Wichtig ist auch der Paragraf 279, den ich hier vollständig zitiere:

«Alle Staaten sind verpflichtet, die Situation, die sich aus der rechtswidrigen Anwesenheit Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten ergibt, als nicht rechtmässig einzustufen. Sie sind auch verpflichtet, keine Hilfe oder Unterstützung bei der Aufrechterhaltung der Situation zu leisten, die durch die rechtswidrige Anwesenheit Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten geschaffenen Situation zu leisten.

Es ist Aufgabe aller Staaten, unter Beachtung der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts dafür zu sorgen, dass jede Behinderung der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes durch die rechtswidrige Anwesenheit Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten beendet wird. Darüber hinaus haben alle Vertragsstaaten der Vierten Genfer Konvention die Verpflichtung, unter Einhaltung der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts dafür zu sorgen, dass Israel das humanitäre Völkerrecht, wie es in der Genfer Konvention verankert ist, einhält.»

Gutachten wurde vor dem 7. Oktober 2023 angefordert

Hier muss ich darauf hinweisen, dass dieses Gutachten von der Generalversammlung vor dem 7. Oktober 2023 angefordert wurde. Es wurde im Jahr 2021 angefordert.

Das Gericht sagt am Anfang des Textes: Es geht nur um Dinge, die vor dem 7. Oktober passiert sind. Alles, was seitdem passiert ist, wird in diesem Gutachten nicht berücksichtigt, und der Völkermord in Gaza wird in diesem Gutachten nirgends erwähnt.

Was das Gericht also tut, ist: Es betrachtet die rechtlichen Auswirkungen der Besatzung und es bekräftigt, dass es sich um eine Besatzung handelt; dass Israel illegal und völkerrechtswidrig handelt und dass es sich an die Grenzen von 1967 zurückziehen muss. Es bekräftigt auch, dass Israels Durchsetzung seiner Macht gegenüber den Palästinensern nicht in Ordnung ist.

Diese Machtdurchsetzung ist also nicht völkerrechtskonform. Es ist eine Völkerrechtsverletzung. Ich hebe diese hier hervor, weil die Vierte Genfer Konvention sich mit den Regeln in bewaffneten Konflikten befasst und eindeutig sagt, dass das humanitäre Völkerrecht gegenüber Zivilisten unbedingt umgesetzt werden muss.

Dies hat einen direkten Bezug zu dem, was nach dem 7. Oktober passiert ist und zu all den Verstössen, die gegen das humanitäre Völkerrecht begangen werden. Das Gericht sagt erneut: Nein, man kann das humanitäre Völkerrecht nicht brechen, weil man einen guten Grund hat (den 7. Oktober), und die Behauptung Israels, die Palästinenser hätten kein Recht auf Selbstbestimmung, gibt Israel nicht das Recht auf Selbstverteidigung, wie Israel die ganze Zeit behauptet, um all die Verstösse gegen die Genfer Konvention und inzwischen auch gegen die Völkermordkonvention zu rechtfertigen.

Drittstaaten dürfen Israel nicht helfen

Der Grund, warum dies so wichtig ist, ist die Tatsache, dass wir jetzt ein sehr klare Stellungnahme des IGH haben, dass Drittstaaten Israel nicht helfen dürfen. Sie dürfen nichts tun, was Israel hilft, die Besatzung zu verlängern. Dies kann von Aktivistengruppen und mutigen Drittstaaten genutzt werden, um zu versuchen, andere zu verklagen oder staatliche Organe zu verklagen, die möglicherweise gegen diese Regelung verstossen.

Gutachten ist ein hilfreiches Instrument für Klagen von Drittstaaten

Denn es steht nicht nur in direktem Zusammenhang mit dem humanitären Völkerrecht, sondern auch mit den internationalen Menschenrechtsnormen. Dies wird also ein sehr hilfreiches Instrument für mutige Parteien sein, die versuchen wollen, den juristischen Weg über eine Institution zu gehen, die sie finden können, entweder im eigenen Land oder im internationalen Bereich, wie eines der Vertragsorgane der Vereinten Nationen oder den Internationalen Strafgerichtshof.

Das ist einfach sehr stark! Es ist also nicht nur Israel, das unter Beobachtung steht. Es sind auch die Drittstaaten, die es unterstützen, auch die Vereinigten Staaten, auch die Europäische Union, alle diese Staaten sind jetzt informiert, dass sie nichts tun dürfen, was Israel hilft, die Besatzung zu verlängern.

IGH anerkennt die Grenzen von 1967 und Zweistaatenlösung

Das Gericht anerkennt die Grenzen von 1967 an. Die Illustration (Gebietsveränderungen in Palästina) zeigt, was der Gerichtshof als die tatsächlichen Staatsgrenzen Palästinas oder als rechtmässiges palästinensisches Land anerkennt, das den Palästinensern gehört.

Der Gerichtshof delegitimiert Israel keineswegs. Es erkennt den Staat Israel an, es erkennt das Recht des Staates Israel auf Existenz an. Am Ende heisst es, Israel und Palästina sollten Seite an Seite leben.

Diese Zweistaatenlösung erkennt der Gerichtshof gemäss Völkerrecht an. Der Gerichtshof rechtfertigt also keineswegs die Auflösung Israels, wie sie von einigen wenigen arabischen Staaten gefordert wird. Aber der Gerichtshof erkennt an, dass alles, was Soldaten oder illegale Siedlungen Israels in diesen Gebieten in Palästina betrifft, gegen das Völkerrecht verstösst. Das müssen wir im Auge behalten.

Keine Änderungen auf politischer Ebene zu erwarten

Auf politischer Ebene können wir keine Änderungen erwarten. Die Vereinigten Staaten haben sich natürlich sofort zur Unterstützung Israels geäussert, und das Aussenministerium erklärt, dass es dieses Gutachten als unvereinbar mit dem etablierten Rahmen für die Lösung des Konflikts ansieht und dass Washington die Parteien nachdrücklich davon abhält, die Stellungnahme des Gerichts als Vorwand für weitere einseitige Aktionen zu nutzen.

Ein anderer Völkerrechtler wies mich darauf hin, dass es höchst heuchlerisch sei, wenn die USA hier von einseitigen Massnahmen, von unilateralen Massnahmen sprächen. Was sie meinen, sind natürlich weitere Anerkennungen Palästinas als Staat durch andere Länder. Wie Sie wissen, dass sich einige europäische Länder enthalten und andere haben dies bereits getan. Die USA nennen das «einseitige Massnahmen». Sie wissen, dass die Anerkennung Palästinas – jede Art der Anerkennung eines Staates durch einen Drittstaat – immer eine einseitige Handlung ist, so ist es per Definition.

Wenn ein Land oder eine Regierung beschliesst, einen anderen Staat anzuerkennen, dann ist das eine unilaterale Handlung. Was das US-Aussenministerium hier sagt, ist, dass jeder, der Palästina anerkennen will, zuerst Israel fragen muss, ob es damit einverstanden ist oder nicht.

Israel kann Brandmauer der internationalen Rechtsmeinung nicht durchbrechen

Ich glaube, das Wichtigste ist, sich vor Augen zu halten, dass es jetzt nicht mehr nur die Meinung eines Gerichts ist – sondern mehr oder weniger der Weltmeinung und des Völkerrechts –, dass die langfristige Strategie Israels, einfach Fakten zu schaffen und sie dann später durch andere anerkennen zu lassen, nicht mehr funktioniert.

Dies beendet nicht die illegale Besatzung, und es wird die Politik Israels nicht sofort ändern, aber es bedeutet, dass das Völkerrecht vorerst hält, dass der Damm hält, und dass Israel nicht in der Lage ist, diese Brandmauer der internationalen Rechtsmeinung zu durchbrechen.

Und wenn das so weitergeht, selbst wenn es noch Jahrzehnte oder ein Jahrhundert dauert, dann werden sich irgendwann die politischen Realitäten vor Ort ändern. Derzeit ist es natürlich die militärische Unterstützung der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union, die Israel sicher und an Ort und Stelle hält. Aber wenn sich das ändert, wird das gesamte politische Spiel in eine andere Richtung gehen.

An diesem Punkt, wenn diese militärische Unterstützung schwächer wird, wird Israel die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft brauchen, um weiter zu existieren, und das ist dann der Moment, in dem Israel bereit sein könnte, diese absolute Tragödie wirklich zu beenden und die Zweistaatenlösung zu akzeptieren und tatsächlich die Apartheid innerhalb des Staates und all die Ungerechtigkeiten, die begangen wurden, zu lösen.

Auch da kann das Völkerrecht die Situation nicht sofort ändern, aber es weist langfristig in die richtige Richtung. Die gute Nachricht ist, dass die langfristige Kursrichtung nicht diejenige ist, die die Zionisten gerne sehen würden, nämlich dass sie sich in Richtung Schweigen bewegen und die Tatsachen akzeptieren, die Israel schafft. Das ist nicht der Fall. Das ist die gute Nachricht des heutigen Tages, und wir werden sehen, ob dieses Gutachten in den kommenden Monaten und Jahren ernsthaftere rechtliche Folgen haben wird. Ich danke Ihnen.»

(Transkript und Übersetzung «Schweizer Standpunkt»/Ursula Cross)

*  Pascal Lottaz ist ein in Japan lebender Schweizer Akademiker. Er arbeitet in der Universität Kyoto als ausserordentlicher Professor an der Graduate School of Law und dem Hakubi Center zu Fragen der Neutralität
in den internationalen Beziehungen. Er betreibt auch eine YouTube-Seite mit dem Titel «Neutrality Studies».
Weitere Informationen: https://substack.com/@pascallottaz
** (Ergänzung Red. CH-S) «Zionismus» – von «Zion», dem Namen des Tempelberges in Jerusalem und Bezeichnung für den Wohnsitz JHWHs, des Gottes der Israeliten – bezeichnet sowohl eine Nationalbewegung als auch eine nationalistische Ideologie, die auf einen jüdischen Nationalstaat im geografischen Palästina zielt, diesen bewahren und rechtfertigen will. (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Zionismus)

1 https://www.youtube.com/watch?v=eJlnZj5j6nI, 3. August 2024

2 Advisory Opinion of 19 July 2024: «Legal Consequences arising from the Policies and Practices of Israel in the Occupied Palestinian Territory, including East Jerusalem». https://www.icj-cij.org/index.php/case/186

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