Julian Assange-Affäre

J'accuse!

Alfred de Zayas (Bild zvg)

von Alfred de Zayas*

(12. Mai 2021) Schlimmer noch als die Dreyfus-Affäre prangert UN-Berichterstatter Nils Melzer die Assange-Affäre als internationalen Skandal richterlichen Fehlverhaltens und Zusammenbruchs der Rechtsstaatlichkeit in den USA, Grossbritannien, Schweden und Ecuador an.

Es mag unnötig erscheinen, die Binsenwahrheit zu wiederholen, dass Demokratie von Transparenz und Rechenschaftspflicht abhängt, und doch: Wie oft wurde die demokratische Ordnung in der jüngsten Vergangenheit von unseren politischen Entscheidungsträgern verraten? Wie oft haben die Medien ihre Wächterfunktion aufgegeben, wie oft haben sie die Rolle als Echokammer für die Mächtigen einfach akzeptiert, seien dies die Regierung oder transnationale Konzerne? Hinter den vielen Skandalen und dem Verrat an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erkennen wir die Verfolgung unbequemer Journalisten durch Regierungen und ihre Helfer in den Medien. Das vielleicht skandalöseste und unmoralischste Beispiel für die multinationale Korruption der Rechtsstaatlichkeit ist die «lawfare», die gegen Julian Assange, den Gründer von Wikileaks, geführt wird, der im Jahr 2010 Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit aufdeckte, die von den USA und ihren NATO-Verbündeten in Afghanistan und im Irak begangen wurden.

In einer Welt, in der Rechtsstaatlichkeit eine Rolle spielen würde, wären die Kriegsverbrechen umgehend untersucht und Anklagen in den betreffenden Ländern erhoben worden. Aber nein, der Zorn der Regierungen und der Medien konzentrierte sich auf jenen Journalisten, der es gewagt hatte, diese Verbrechen aufzudecken. Die Verfolgung dieses Journalisten war ein koordinierter Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit durch die Vereinigten Staaten, Grossbritannien und Schweden, denen sich später auch Ecuador anschloss. Die Instrumentalisierung der Justiz – nicht um Gerechtigkeit zu üben, sondern um einen Menschen zu vernichten – zog immer mehr Menschen in eine gemeinschaftlich-kriminelle Verschwörung aus Verleumdung, erfundenen Anschuldigungen, Ermittlungen ohne Anklage, absichtlichen Verzögerungen und Vertuschung.

Im April 2021 veröffentlichte mein Kollege Professor Nils Melzer als «UN-Sonderberichterstatter über Folter» eine akribisch recherchierte und methodisch untadelige Dokumentation dieser schier unglaublichen Geschichte. Sein Buch kann durchaus als das «J'accuse» unserer Zeit bezeichnet werden, das uns daran erinnert, wie unsere Behörden uns verraten haben, wie vier Regierungen bei der Korrumpierung der Rechtsstaatlichkeit zusammengearbeitet haben. Ebenso wie Emile Zola, der 1898 in Frankreich das Lügengeflecht um die skandalöse gerichtliche Verurteilung des französischen Oberst Alfred Dreyfus aufdeckte, schockiert uns Nils Melzer 122 Jahre später mit dem Beweis, wie Länder, die sich angeblich der Rechtsstaatlichkeit und den Menschenrechten verpflichtet fühlen, mit der Komplizenschaft der Mainstream-Medien das demokratische Ethos verraten können. Melzer schreibt über «konkrete Hinweise von politischer Verfolgung, schwerer Justizwillkür, vorsätzlicher Folter und Misshandlung».1

Dies ist ein enorm wichtiges Buch, weil es von uns verlangt, unsere «Komfortzone» zu verlassen und von unseren Regierungen Transparenz und Verantwortlichkeit einzufordern. In der Tat ist es ein Skandal, dass keine der vier in das Komplott verwickelten Regierungen mit Professor Melzer kooperierte und nur mit «politischen Plattitüden» antwortete. Auch ich habe diese mangelnde Kooperation von mächtigen Ländern erlebt, an die ich Verbalnoten über Menschenrechtsverletzungen gerichtet hatte – und keines von ihnen hat zufriedenstellend geantwortet.

Melzer erinnert uns an Hans-Christian Andersens Fabel «Des Kaisers neue Kleider». In der Tat halten alle am Assange-Komplott Beteiligten konsequent die Illusion der Legalität aufrecht und wiederholen die gleichen Unwahrheiten, bis ein Beobachter sagt: «Aber der Kaiser hat ja gar keine Kleider!» Das ist der Punkt: Unsere Justizverwaltung hat keine Kleider, und statt die Gerechtigkeit voranzutreiben, beteiligt sie sich an der Verfolgung eines Journalisten – mit allen Konsequenzen, die dieses Verhalten für das Überleben der demokratischen Ordnung hat. Melzer überzeugt uns mit Fakten: Wir leben in einer Zeit der «Post-Wahrheit» – und es liegt in unserer Verantwortung, diese Situation jetzt zu korrigieren, damit wir nicht in der Tyrannei aufwachen.2

1 Nils Melzer, Der Fall Julian Assange, Piper Verlag, München 2021, S. 14.
Siehe auch https://www.dw.com/en/the-case-of-julian-assange-rule-of-law-undermined/a-57260909 und https://www.republik.ch/2020/01/31/nils-melzer-about-wikileaks-founder-julian-assange

2 Ebd. S. 326–331

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

* Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas ist Historiker, Jurist und Schriftsteller. Er ist schweizerisch-amerikanischer Doppelbürger und lehrt an der Genfer Schule für Diplomatie. Von 2012–2018 war er im Auftrag des UN-Menschrechtsrates «Unabhängiger Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten Weltordnung».

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