Lasst uns die vier Freiheiten von Franklin D. Roosevelt und die Atlantik-Charta wiederbeleben
von Alfred de Zayas,* Genf
(21. September 2022) Die derzeitige Politik der USA, Grossbritanniens, der EU und der Nato gegenüber Russland und China verstösst gegen Buchstaben und Geist der UNO-Charta sowie gegen viele frühere Erklärungen, Verpflichtungen und Verträge, die die Grundlage des modernen Völkerrechts bilden.
Zu viele Kriegsprofiteure um uns herum
Die westliche Politik des «Exzeptionalismus» und des «Unilateralismus» hat direkt zu einer Atmosphäre der Unnachgiebigkeit und Feindseligkeit beigetragen, die einen vernünftigen Diskurs über Dialog und Kompromiss als feiges «Appeasement» oder sogar als Verrat erscheinen lässt.
Zufällig ist «Appeasement» der einzige Weg, den die Menschheit im Atomzeitalter gehen kann. Es ist der Weg, den unsere Vorfahren in der UNO-Charta vorgezeichnet haben, als «wir, das Volk» Massnahmen forderten, um nachfolgende Generationen vor der Geissel des Krieges zu bewahren.
Unsere Staats- und Regierungschefs provozieren jedoch gleichzeitig zwei Atommächte, die über riesige Atomwaffenbestände und Mittel zu deren Einsatz verfügen. Das ist höchst undemokratisch, denn die Menschen wollen keinen Krieg und stimmen keiner unnötigen Provokation zu. Die Menschen wollen und haben ein Recht auf Frieden und Wohlstand. Es sind die korporativen «Eliten», der militärisch-industriell-finanzielle Komplex, die den Krieg wollen. In der Tat gibt es zu viele Kriegsprofiteure um uns herum.
Kampfhunde oder Wachhunde?
Besonders besorgniserregend ist, dass besonnene Stimmen wie die des emeritierten Princeton-Professors Richard Falk, des Professors Jeffrey Sachs von der Columbia University oder des Professors John Mearsheimer von der University of Chicago von den Fake News und der Propaganda der «Narrativ-Manager» in den Mainstream-Medien übertönt werden, die anscheinend die Rolle von Kampfhunden der von Wachhunden vorziehen.
Die absichtliche Eskalation der Spannungen gegen Russland und China führt zu zahlreichen Verstössen gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen, der ILO, der WHO und der UNESCO. Darüber hinaus hat eine solche Eskalation zu Verstössen gegen das Römische Statut geführt, nämlich zu Aggression, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Die derzeitigen Regierungen der USA und des Vereinigten Königreichs handeln in einer Weise, die mit Franklin Delano Roosevelts (FDR) «Vier Freiheiten» unvereinbar ist, die er in seiner Rede zur Lage der Nation am 6. Januar 1941 zum Ausdruck brachte und die er zusammen mit Winston Churchill in der Atlantik-Charta vom 14. August 1941 wieder aufnahm.
Redefreiheit
So verstösst zum Beispiel die massive Zensur russischer Informationsquellen, einschliesslich Sputnik und RT, gegen die erste Freiheit von FDR, nämlich die Redefreiheit, die notwendigerweise die Freiheit des Zugangs zu allen Informationen beinhaltet, die Freiheit zu wissen, was relevant ist, um sich eine Meinung, ein eigenes Urteil zu bilden und diese auch äussern zu können. Die Redefreiheit beschränkt sich nicht darauf, den Unsinn wiederzugeben, den wir am Vorabend auf CNN oder BBC gehört haben.
«Freiheit von Mangel»
Die drakonische Sanktionspolitik der USA ist unvereinbar mit der dritten Freiheit, die Roosevelt verkündet hat, die «Freiheit von Mangel», was, auf die heutige Zeit übertragen, bedeutet, dass jede Nation ihren Einwohnern ein gesundes Leben in Frieden sichern muss – überall auf der Welt.
Dies bedeutet unter anderem Nahrungsmittelsicherheit, Zugang zu Wasser und sanitären Einrichtungen, erschwingliche Energie, Freiheit im Handel und Freiheit der Meere. Zu den offensichtlichen negativen Auswirkungen der Sanktionen der USA, des Vereinigten Königreichs und der EU gehören Hunger, Verzweiflung und Tod.
Die gegen Dutzende von Ländern wie Belarus, Kuba, Nicaragua, Russland, Syrien und Venezuela verhängten Sanktionen haben bereits Zehntausende von Menschenleben gefordert und stellen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne von Artikel 7 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs dar.
«Freiheit von Furcht»
Die Politik der USA, Grossbritanniens und der EU ist auch unvereinbar mit FDRs vierter Freiheit, der «Freiheit von Furcht». Es ist bemerkenswert, dass Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch sich nicht auf den Frieden als Menschenrecht konzentriert haben.
Dafür hat sich die spanische Vereinigung für internationales Menschenrecht in ihrer «Declaración de Santiago»1 vom 10. Dezember 2010 eingesetzt, die auf der Resolution 39/11 der Generalversammlung vom 12. November 1984 aufbaute und schliesslich zum Entwurf einer Resolution über das Recht auf Frieden2 wurde, die vom Beratenden Ausschuss des UN-Menschenrechtsrats angenommen wurde, dann aber von den Delegationen der USA, des Vereinigten Königreichs und der EU torpediert wurde, die in der zwischenstaatlichen Arbeitsgruppe zum Recht auf Frieden argumentierten, dass es so etwas wie ein Recht auf Frieden nicht gebe und dass der Menschenrechtsrat sowieso der falsche Ort sei.
Die schliesslich von der Generalversammlung am 19. Dezember 20163 angenommene Resolution war deutlich weniger als das, was die Generalversammlung bereits 1984 anerkannt hatte. In ähnlicher Weise wurde jede Initiative der UN-Abrüstungskonferenz von den USA, dem Vereinigten Königreich, der EU und den Nato-Staaten ausgeweidet, als wollten sie der Welt sagen: «Wir bevorzugen eigentlich den Krieg».
In meiner Eigenschaft als Unabhängiger UN-Sachverständiger für die internationale Ordnung habe ich an allen Sitzungen der Arbeitsgruppe des Menschenrechtsrates teilgenommen und war entsetzt über die offenkundig falschen Argumente der Delegationen der USA, des Vereinigten Königreichs und der EU, Argumente, die schon ein Jurastudent im ersten Jahr als «falsches Recht» erkennen würde.
«Freiheit von Furcht» bedeutet notwendigerweise eine weltweite Reduzierung der Rüstung, und zwar so weit und so gründlich, dass keine Nation in der Lage sein sollte, einen physischen Angriff gegen einen Nachbarn zu begehen – egal wo auf der Welt.
Artikel 6 des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV) verpflichtet alle Staaten, die Atomwaffen besitzen, in gutem Glauben über eine nukleare Abrüstung zu verhandeln. Aber es scheint, dass die Atommächte, ob sie nun Mitglieder des NVV sind oder nicht – darunter China, Russland, die USA, Grossbritannien, Frankreich, Israel, Indien und Pakistan –, darauf aus sind, dem Rest der Menschheit Angst und Schrecken einzujagen.
In der Atlantik-Charta niedergelegte Grundsätze
Die Sanktionspolitik der USA, des Vereinigten Königreichs, der EU und der Nato gegen Russland und China ist ebenfalls unvereinbar mit den in der Atlantik-Charta niedergelegten Grundsätzen, nämlich:
1. Territoriale Anpassungen müssen mit den Wünschen der betroffenen Völker übereinstimmen (z.B. durch ein Referendum in Bergkarabach, auf der Krim und im Donbass). Wenn die ideologischen Führer der Westmächte sich weigern, die Tatsache anzuerkennen, dass die grosse Mehrheit der Krim-Bevölkerung nach dem verfassungswidrigen Putsch von 2014 nicht in der Ukraine leben will, sollten sie die UNO auffordern, ein neues Referendum zu organisieren und zu überwachen. Im März und Juni 1994 war ich der UN-Vertreter für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Ukraine. Es gibt keinen Zweifel, dass die Bevölkerung der Krim und des Donbass russisch spricht und auch so fühlt.
2. Alle Menschen haben ein Selbstbestimmungsrecht (z.B. in Estland, Lettland, Litauen, Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo – aber auch in Bergkarabach, Abchasien, Südossetien und Transnistrien). Dieses Selbstbestimmungsrecht wurde in die UN-Charta und zahlreiche Resolutionen des Sicherheitsrats und der Generalversammlung aufgenommen. Es ist auch gemeinsamer Artikel 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte und des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.
3. Die Handelsschranken müssen abgebaut werden. Die von den USA und ihren Verbündeten verhängten Sanktionen haben im Wesentlichen die Vorteile der Globalisierung für Millionen von Menschen zunichte gemacht und die Versorgungsketten und Energiequellen dauerhaft gestört, was zu einem Rückgang des internationalen Handels, des Bruttoinlandsprodukts, Konkursen und Arbeitslosigkeit geführt hat.
4. Globale wirtschaftliche Zusammenarbeit und Förderung des sozialen Wohlergehens müssen die Regel sein, nicht die Ausnahme.
5. Alle Länder, die der Atlantik-Charta zugestimmt haben, verpflichten sich, für eine Welt ohne Not und Angst zu arbeiten.
6. Alle Länder verpflichten sich, die Freiheit der Meere im Sinne von Hugo Grotius' «Mare liberum» zu fördern.
7. Alle Länder verpflichteten sich zur Abrüstung der Aggressor-Staaten und zu einer gemeinsamen Abrüstung nach dem Krieg.
Brücken bauen
Es ist die Tragödie der Generationen nach dem Ersten Weltkrieg, dass die edlen Grundsätze der 14 Punkte von Präsident Woodrow Wilson in den Verträgen von Versailles, St. Germain und Trianon mit Füssen getreten wurden, was direkt zum Zweiten Weltkrieg führte. Es ist die Tragödie der Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg, dass die in den Vier Freiheiten und in der Atlantik-Charta verkündeten Ziele aufgegeben wurden.
Es ist die Tragödie unserer Generation nach der Sowjetunion, dass unsere Staats- und Regierungschefs ihre Versprechen von 1989–1991 gegenüber Michail Gorbatschow nicht einhielten und bewusst den Weg der Provokation und des Expansionsdrangs der Nato wählten, was zu den Spannungen führte, die zu Russlands illegaler Aggression gegen die Ukraine und dem Stellvertreterkrieg führten, den die Nato gegen Russland führt – bis hin zum letzten Ukrainer.
Warum haben unsere Politiker nicht auf die Ratschläge von George F. Kennan, Jack Matlock, Richard Falk, Jeffrey Sachs, John Mearsheimer und Henry Kissinger gehört?
Um aus dem Schlamassel herauszukommen, in den uns unsere Staats-und Regierungschefs gebracht haben, müssen Brücken gebaut werden – nicht nur, damit die Kriegsparteien fliehen können, sondern auch, damit die Kriegsparteien miteinander reden können.
* Alfred de Zayas ist Professor für Völkerrecht an der Genfer Hochschule für Diplomatie und war von 2012–2018 unabhängiger Experte der Vereinten Nationen für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung. |
Quelle: https://www.counterpunch.org/2022/09/01/lets-revive-fdrs-four-freedoms-and-the-atlantic-charter/, 1. September 2022
(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)
1 http://www.aedidh.org/sites/default/files/Santiago-Declaration-en.pdf
2 https://www.ohchr.org/en/instruments-mechanisms/instruments/declaration-right-peoples-peace
3 https://www.hhrjournal.org/2017/01/the-right-to-peace-from-ratification-to-realization