UNO und unilaterale Zwangsmassnahmen
Anhaltende Verletzung der Menschenrechte von Bevölkerungsgruppen durch mächtige Staaten und wie man Rechenschaft fordern kann
von Alfred de Zayas,* Genf
(7. Februar 2023) Mündliche Erklärung vom 28. Januar 2023 anlässlich der Eröffnungssitzung des «Internationalen Volkstribunals über US-Imperialismus».
Die negativen Auswirkungen einseitiger Zwangsmassnahmen [Unilateral coercive measures=UCM] auf die Ausübung der Menschenrechte von Milliarden von Menschen weltweit werden seit Jahrzehnten von zahlreichen Gremien der Vereinten Nationen untersucht und verurteilt. Dies sind insbesondere die Generalversammlung, die Menschenrechtskommission, die Unterkommission für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte, den Menschenrechtsrat und seinen Beratenden Ausschuss, den UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und die Arbeitsgruppe für das Recht auf Entwicklung.
Das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte1 hat wiederholt Podiumsdiskussionen organisiert, um die nachteiligen Auswirkungen einseitiger Zwangsmassnahmen auf das Recht auf Leben, das Recht auf Gesundheit, das Recht auf Nahrung, das Recht auf sauberes Wasser und sanitäre Einrichtungen, das Recht auf Wohnung, das Recht auf Arbeit, das Recht auf Bildung usw. zu dokumentieren. In meiner Eigenschaft als unabhängiger UN-Experte für internationale Ordnung habe ich an diesen Gremien teilgenommen.
Die UCM wurden wiederholt als Verstoss gegen die UN-Charta und das Völkergewohnheitsrecht verurteilt,2 insbesondere wegen der rechtswidrigen extraterritorialen Anwendung innerstaatlicher Rechtsvorschriften, ihres Angriffs auf die Souveränität der Staaten, der Verletzung der Norm der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten, der Freiheit des Handels und der Schifffahrt – Grundsätze, die in mehreren internationalen Rechtsinstrumenten verankert sind. Darüber hinaus ist bereits festgestellt worden, dass die destabilisierenden Auswirkungen der UCM auf die internationale Ordnung eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit im Sinne von Artikel 39 der UN-Charta darstellen können.
Schaffung der Funktion des Sonderberichterstatters für einseitige Zwangsmassnahmen
Im Jahr 2014 wurde die Funktion des Sonderberichterstatters für einseitige Zwangsmassnahmen geschaffen, und die ersten beiden Berichterstatter, der verstorbene Dr. Idriss Jazairy3 und Professor Alena Douhan,4 haben dem Menschenrechtsrat und der Generalversammlung detaillierte thematische und länderspezifische Berichte vorgelegt, in denen sie die Aufhebung der Sanktionen angesichts ihrer nachteiligen Auswirkungen auf nahezu alle Menschenrechte fordern.
In seinem Bericht 2018 an den Menschenrechtsrat5 analysierte der Unabhängige Experte für die internationale Ordnung die negativen Auswirkungen der Sanktionen und Finanzblockaden auf die venezolanische Bevölkerung, die nachweislich zu vielen Todesfällen aufgrund der Knappheit von Lebensmitteln, Medikamenten, medizinischer Ausrüstung und Teilen geführt haben und weiterhin führen. Der Bericht stellt kurz und bündig fest: «Sanktionen töten».6 Die UCM haben auch zu Konkursen und Arbeitslosigkeit geführt, was wiederum eine Massenauswanderung zur Folge hatte. Obwohl es sich bei diesen Wirtschaftsmigranten nicht um Flüchtlinge strictu sensu handelt, wurde ihre Notlage vom Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge untersucht.
Internationales Volkstribunal gegen den US-Imperialismus: Sanktionen, Blockaden und wirtschaftliche Zwangsmassnahmen
Samstag, 28. Januar 2023, 11–18 Uhr, New York, NY
An der Eröffnungssitzung hat eine hochkarätige Gruppe von Juristen, Wissenschaftlern und Aktivisten teilgenommen, darunter auch Alfred de Zayas, Autor des hier dokumentierten Beitrags.
Stellungnahme der Organisatoren: «Wir betrachten Sanktionen als eines der wichtigsten Instrumente des US-Imperialismus. Um die Tiefe und Breite dieses Imperialismus’ aufzudecken, werden wir die Auswirkungen von Sanktionen auf verschiedene Lebensbereiche untersuchen, wobei der Schwerpunkt auf sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Fragen liegt. […] Die im Tribunal vertretenen Länder sind Kuba, Äthiopien, Eritrea, Haiti, Iran, Irak, Libanon, Libyen, Palästina, Nicaragua, Nordkorea, Sudan, Syrien, Venezuela, Jemen und Simbabwe.
Gezielte Sanktionen und Blockaden wirken sich auf jeden Aspekt des Lebens aus. Wir haben daher 15 Themen ausgewählt, die im Tribunal behandelt werden sollen, auch wenn nicht alle Nationen alle Themen behandeln werden. Dies bleibt dem Ermessen der Experten und Zeugen überlassen, die die einzelnen Länder vertreten.
Die Themen sind öffentliche Gesundheit, Finanzsysteme, Flüchtlinge und Migration, Exporte und Tourismus, Bildung, technologische Entwicklung, Infrastruktur, Landwirtschaft, Zivilgesellschaft, Entwicklung, Frauenförderung, Makroökonomie, verarbeitendes Gewerbe und Industrie, Umweltauswirkungen sowie Wohlfahrt und Beschäftigung. Während der Länderanhörungen werden Sachverständige, Opfer und Rechtsexperten Beweise gegen die USA vorlegen.
Das Tribunal wird etwa sechs Monate dauern und im Juli 2023 mit einer Schlusssitzung im Simón-Bolívar-Institut in Caracas, Venezuela, enden.»
Quelle: https://sanctionstribunal.org/about
Zahlreiche UNO-Generalversammlung Resolutionen verurteilen die UCM
Zuletzt hat die UN-Generalversammlung am 15. Dezember 2022 die Resolution 77/214 verabschiedet, in der die UCM verurteilt und frühere Resolutionen bekräftigt werden, darunter 76/161, 75/181 und 74/154.
Die Resolution 77/214 erinnert unter anderem daran, dass gemäss der Erklärung über die Grundsätze des Völkerrechts betreffend die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen, der Resolution 2625 (XXV) vom 24. Oktober 1970,7 und den einschlägigen Grundsätzen und Bestimmungen der Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten, die von der Versammlung in ihrer Resolution 3281 (XXIX), insbesondere in Artikel 32, verkündet wurden, darf kein Staat wirtschaftliche, politische oder sonstige Massnahmen zur Nötigung eines anderen Staates anwenden oder dazu ermutigen, um von ihm die Unterordnung der Ausübung seiner Hoheitsrechte zu erwirken und ihm Vorteile irgendwelcher Art zu verschaffen.
In der Resolution 77/214 wird ferner anerkannt, dass die UCM eines der grössten Hindernisse für die Umsetzung der Erklärung über das Recht auf Entwicklung8 und der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung9 darstellen.
Im konkreten Fall der US-Sanktionen gegen Kuba sei daran erinnert, dass die Generalversammlung 30 Resolutionen verabschiedet hat, in denen das US-Embargo gegen Kuba verurteilt wurde. Die letzte, die Resolution 77/7 vom 3. November 2022, fand nahezu allgemeine Zustimmung. Nur die USA und Israel haben dagegen gestimmt.
Die letzte einschlägige Resolution des Menschenrechtsrates war die Resolution 49/6 vom 31. März 2022, in der alle früheren Resolutionen, einschliesslich der Resolution 46/1, bekräftigt werden und daran erinnert wird, dass der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vorsehen, dass ein Volk in keinem Fall seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden darf, was häufig genau der Zweck der UCM ist.
Sanktionen versus einseitige Zwangsmassnahmen (UCM)Im Frage-und-Antwort-Teil der Veranstaltung hat Alfred de Zayas betont, dass der Begriff «Sanktion» irreführend ist, denn in diesem Volkstribunal geht es um «illegale einseitige Zwangsmassnahmen». Die USA, Kanada, Grossbritannien haben absolut kein Recht, andere Staaten zu bestrafen. Der Begriff «Sanktion» impliziert nämlich, dass der Staat, der «Sanktionen» auferlegt, eine moralische Rechtfertigung besitzt, bzw. dass der «sanktionierte» Staat irgendeines Fehlverhaltens schuldig ist. Dies ist dreiste Propaganda, denn es suggeriert, dass «Sanktionen» berechtigt sind. Die einzigen gemäss Völkerrecht legalen «Sanktionen», sind diejenigen, die der UNO-Sicherheitsrat gutgeheissen hat – und sogar jene waren, zum Beispiel im Fall des Iraks von 1991–2003, nicht zu rechtfertigen. Darum soll man nur von «einseitigen Zwangsmassnahmen» sprechen, die wirklich gegen Artikel 2 Abs. 4 der UNO-Charta verstossen. |
Aufruf zu konkreten Massnahmen, um die negativen Auswirkungen der UCM abzumildern
Die Resolution 49/6 fordert alle Staaten nachdrücklich auf, keine einseitigen Zwangsmassnahmen mehr zu beschliessen, beizubehalten oder durchzuführen, da sie gegen das Völkerrecht, das humanitäre Völkerrecht,10 die Charta der Vereinten Nationen und die Normen und Grundsätze für friedliche Beziehungen zwischen den Staaten verstossen, insbesondere Zwangsmassnahmen mit extraterritorialer Wirkung, die Hindernisse für die Handelsbeziehungen zwischen den Staaten schaffen und somit die volle Verwirklichung der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und anderen internationalen Menschenrechtsinstrumenten verankerten Rechte, insbesondere das Recht der Menschen und Völker auf Entwicklung, behindern.
In der Resolution werden die Staaten und die zuständigen Organisationen der Vereinten Nationen aufgefordert, konkrete Massnahmen zu ergreifen, um die negativen Auswirkungen einseitiger Zwangsmassnahmen auf die humanitäre Hilfe abzumildern, die im Einklang mit der Resolution 46/182 der Generalversammlung vom 19. Dezember 1991 geleistet werden sollte.
Im Gegensatz zur nahezu einstimmigen Verurteilung des US-Embargos gegen Kuba durch die UNO-Generalversammlung stimmten 14 Staaten, die dem Menschenrechtsrat angehören, gegen die Resolution des Menschenrechtsrates – unter ihnen die USA und die Staaten der Europäischen Union. Dies ist ein Skandal, eine Schande für alle diese Staaten, die Lippenbekenntnisse zu den Menschenrechten abgeben, aber die Verantwortung für den Tod der Schwächsten in Kuba, Nicaragua, Syrien, Venezuela, Simbabwe und anderen Ländern tragen, die von den USA angegriffen werden.
« Ex injuria non oritur jus» – Aus Unrecht erwächst kein Recht
Wir müssen feststellen, dass trotz der offensichtlichen Rechtswidrigkeit von UCM und ihrer erwiesenen Unvereinbarkeit mit dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, mächtige Staaten UCM nach wie vor völlig ungestraft verhängen.
Dies ist eine Angelegenheit, mit der sich die Generalversammlung gemäss Artikel 96 der UN-Charta befassen sollte, indem sie den Internationalen Gerichtshof (IGH) um ein Gutachten zu diesem Thema bittet, insbesondere zu den rechtlichen Folgen der fortgesetzten Verletzung des Völkerrechts durch die Staaten, die UCMs verhängen oder einhalten, sowie zu ihrer Verpflichtung, den Opfern Wiedergutmachung zu leisten.
Der IGH sollte sich auch mit der Frage befassen, ob die UCM eine «Anwendung von Gewalt» im Sinne von Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta darstellen. Moderne Kriege sind in der Tat hybride Kriege und umfassen viele Formen von Gewalt und Zwang, die sicherlich gegen den Buchstaben und den Geist der UN-Charta verstossen.
Die Staaten, die UCMs verhängen, könnten versuchen, sich mit dem Argument aus der Verantwortung zu stehlen, dass sich das Völkerrecht geändert hat, weil so viele Staaten, darunter die USA, Kanada, das Vereinigte Königreich und die EU, bisher UCM verhängt haben und damit durchgekommen sind, wodurch diese Praxis «legitimiert» wurde. Dieses Argument enthält jedoch einen schwerwiegenden logischen Irrtum.
Die ungestraft gebliebene Verletzung des Völkerrechts ändert das Völkerrecht nicht und kann es auch nicht ändern. Es verdeutlicht lediglich die Tatsache, dass es derzeit keinen wirksamen internationalen Mechanismus zur Durchsetzung des Völkerrechts gibt. Der allgemeine Rechtsgrundsatz (Artikel 38 der IGH-Satzung) ex injuria non oritur jus macht deutlich, dass aus einem Unrecht kein Recht erwächst. Ausserdem muss man bedenken, dass nur eine Minderheit von Staaten solche UCM verhängen. Die globale Mehrheit lehnt sie jedoch ab.
Darüber hinaus sollte der Internationale Strafgerichtshof (ICC) nicht nur die Verantwortung der Staaten für internationales Unrecht, sondern auch den völkerstrafrechtlichen Aspekt der UCMs untersuchen. In dem Masse, in dem Zehntausende von Menschen nachweislich ihr Leben als direkte oder indirekte Folge von Sanktionsregimen verloren haben, ist es nachweisbar, dass bestimmte UCMs Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne von Artikel 7 des Römischen Statuts darstellen.
Es ist die Pflicht der internationalen Gemeinschaft, von den Staaten, die UCM verhängen, Rechenschaft zu verlangen und dafür zu sorgen, dass die Opfer des US-Imperialismus und Neokolonialismus entschädigt werden.11
* Alfred de Zayas ist Professor für Völkerrecht an der Genfer Hochschule für Diplomatie und war von 2012–2018 unabhängiger Experte der Vereinten Nationen für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung. |
(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)
1 https://www.ohchr.org/en/unilateral-coercive-measures
2 General Comment Nr. 8 des Komitees für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, bereits im Jahr 1997, der Bericht der Unterkommission für Menschenrechte im Jahr 2000, der Bericht der Hochkommissarin für Menschenrechte Navi Pillay im Jahr 2012 Dok. A/19/33
5 https://www.ohchr.org/en/special-procedures/ie-international-order/country-visits
6 Ibid., para 39
7 http://un-documents.net/a25r2625.htm
8 https://www.ohchr.org/en/instruments-mechanisms/instruments/declaration-right-development
10 Kollektivstrafen gegen die Zivilbevölkerung verstossen gegen die Haager und die Genfer Konvention. Siehe auch Jeffrey Sachs und Marc Weisbrot – https://cepr.net/report/economic-sanctions-as-collective-punishment-the-case-of-venezuela
11 Siehe Resolution 48/7 des Menschenrechtsrates über die Folgen von Kolonialismus und Neokolonialismus https://www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/regular-sessions/session48/res-dec-stat