WHO-Reform

Warnung und Kritik von Rechtsexperten

Thomas Oysmüller (Bild zvg)

«Internationaler Pandemievertrag» und «Internationale Gesundheitsvorschriften»

von Thomas Oysmüller,* Österreich

(23. Mai 2023) (Red.) Vom 21.–30. Mai 2023 findet in Genf die 76. Jahrestagung der Weltgesundheits­versammlung – das oberste Entscheidungsorgan der WHO – statt. Geplante Reformen bieten viel Sprengstoff und gefährden die Souveränität der 194 Mitgliedsländer. Der folgende Artikel schildert die aktuelle Situation aufgrund der Resultate der vorhergehenden Genfer Verhandlungen von Februar 2023.

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«Internationaler Pandemievertrag» und «Internationale Gesundheitsvorschriften»: Aktuell arbeitet die WHO an zwei weitreichenden Reformen. Die beiden juristischen Fachexperten Silvia Behrendt und Amrei Müller haben eine genaue Analyse vorgelegt.

WHO-Hauptquartier in Genf. «Die WHO könnte legislative Befugnisse
erhalten, die mit Ausnahme des UN-Sicherheitsrats kein anderes
UN-Organ oder eine UN-Sonderorganisation hat». (Bild Wikimedia
Commons)

Im Februar 2023 wurde in Genfer Sitz der Weltgesundheitsorganisation (WHO) weiter an den Internationalen Gesundheitsvorschriften (IHR) verhandelt. Zuletzt zeigte sich aber auch innerhalb der WHO deutlicher Dissens: Das Prüfkomitee hatte erhebliche Einsprüche zu den geplanten Änderungen, die eine massive Machterweiterung für die WHO bedeuten würde, vorgelegt. Ausserdem wird ein neuer «Pandemievertrag» ausgehandelt, dafür trifft man sich wieder Ende Mai 2023.

Im Schatten der Öffentlichkeit

Die Salzburger Juristin Silvia Behrendt und frühere Rechtsberaterin des IHR-Sekretariats der WHO hat am Montag [27. Februar] gemeinsam mit der Juristin Amrei Müller eine Analyse zur WHO-Reform veröffentlicht.1 Behrendt ist eine Expertin auf diesem Gebiet, hat sie doch zu den IHR auch promoviert (Universität St. Gallen/Georgetown University Law Center, Washington). Die beiden Rechtsexperten kritisieren, dass es bisher

«kaum öffentliche oder rechtswissenschaftliche Diskussionen über diese umfangreichen Änderungen (und die parallelen Prozesse innerhalb der WHO zur Aushandlung eines neuen Vertrags über die Bereitschaft und Reaktion auf Pandemien)» geben würde.

Tatsächlich werden die Verhandlungen von den Leitmedien mehr oder weniger ignoriert, berichtet wird hauptsächlich von sogenannten «Alternativmedien» – TKP hat die WHO-Reform intensiv begleitet.2

Behrendt und Müller zeigen sich darüber überrascht, denn dem Urteil einiger weniger Kritiker stimmen sie durchaus zu. Die Verhandlungen erhalten kaum öffentliche Aufmerksamkeit,

«obwohl die Ergebnisse dieser Prozesse das Potenzial haben, die Lebensgrundlagen, das Leben, die Gesundheit und die Menschenrechte von Menschen auf der ganzen Welt zu beeinträchtigen, unter anderem, weil die vorgeschlagenen Änderungen, wenn sie angenommen werden, der WHO und insbesondere ihres Generaldirektors (DG) einzigartige ‹Notfall›-Befugnisse verleihen und damit die sicherheitsorientierten Ansätze zur Bewältigung des Ausbruchs von Infektionskrankheiten, die in der so genannten Global Health Security (GHS)-Doktrin verankert sind, die die von der WHO geführte globale Reaktion auf Covid-19 dominiert hat, im internationalen Gesundheitsrecht verankern.»

Im Blog für internationales Recht «OpinioJuris»3 verfassten die beiden deshalb einen «menschenrechtsbasierten Kommentar zu ausgewählten Änderungsvorschlägen, wobei der Schwerpunkt auf Änderungen liegt, die darauf abzielen, die Notfall- und Bioüberwachungsbefugnisse der WHO zu erweitern.» Und auch andere rechtliche Punkte werden in der Analyse intensiv diskutiert.

Beide Reformen – der Pandemievertrag und die Änderungen der IHR – wirken für die Juristen «übereilt». Im Mai 2024 sollen beide Reformen verabschiedet werden – das ist zumindest der Plan.

Es braucht eine einfache Mehrheit, um die IHR-Änderungen zu beschliessen. Dann «werden die Änderungen der IHR innerhalb von 12 Monaten für alle Staaten in Kraft treten, es sei denn, ein Staat legt innerhalb einer 10-monatigen Frist proaktiv Ablehnungen oder Vorbehalte.» Der Pandemievertrag braucht stattdessen eine 2/3-Mehrheit und die nationale Ratifizierung beruht auf nationalem Recht.

Die strategischen Diskussionsrunden («Roundtables») können vom 22.–27. Mai 2023 von 13.00–14.15 Uhr (MESZ) live mitverfolgt werden
https://www.who.int/news-room/events/detail/2023/05/22/default-calendar/strategic-roundtables-seventy-sixth-world-health-assembly

Links zum PDF-Dokument mit allen Änderungsvorschlägen zu den Internationalen Gesundheitsvorschriften (IHR)

EN:    https://apps.who.int/gb/wgihr/pdf_files/wgihr1/WGIHR_Compilation-en.pdf
FR:    https://apps.who.int/gb/wgihr/pdf_files/wgihr1/WGIHR_Compilation-fr.pdf

WHO als globaler Gesetzgeber

Das Tempo der Reform sehen die Juristen jedenfalls äusserst kritisch:

«Die Aushandlung eines neuen multilateralen Vertrags in weniger als drei Jahren ist höchst ungewöhnlich. Die Staaten hatten auch nur vier Monate Zeit, um Änderungsanträge zu den IHR einzureichen, und die Experten, die den Prüfbericht verfasst haben (S. 11, 15), kritisierten den kurzen Zeitrahmen, innerhalb dessen der Bericht erstellt werden musste, was ihr Mandat einschränkte.»

Doch das sei nicht alles:

«Gleichzeitig bleibt das angestrebte Verhältnis zwischen den beiden Instrumenten [Pandemievertrag und IHR] unklar. In ihrer derzeitigen Form gibt es in fast allen geregelten Bereichen inhaltliche Überschneidungen, und es ist unklar, warum die WHO und ihre Mitgliedstaaten Ressourcen für die Aushandlung von zwei internationalen Instrumenten mit überlappendem Geltungsbereich und Inhalt verwenden.»

Behrendt und Müller analysieren dann präzise und tiefgehend die Änderungen der IHR, die gerade am Tisch liegen. Einige wichtige Punkte aus ihrer Perspektive zusammengefasst:

– Die Vorschläge zielen darauf ab, die Situationen, in denen die Generaldirektion einen gesundheitlichen Notfall ausrufen kann, erheblich auszuweiten, was zahlreiche rechtliche und praktische Konsequenzen nach sich ziehen würde.

– Der Generaldirektion könnte Befugnis erhalten, einen «mittleren Gesundheitsalarm» auszurufen, wenn ein Ereignis im Bereich der öffentlichen Gesundheit nicht die Kriterien einer Gesundheitskrise (einem sogenannten «Public health emergencies of international concern», PHEIC) erfüllt, aber «eine verstärkte internationale Sensibilisierung und Bereitschaftsmassnahmen erfordert.»

Hier fehlt eine eindeutige Definition, was ein solcher Gesundheitsalarm wäre. Es fehlt ein eindeutiger Massstab: «Die Frage, ob solche Cluster ein erhebliches Risiko für eine internationale Ausbreitung und für internationale Reise- und Handelsbeschränkungen darstellen, muss nicht bewertet werden, und es bleibt unklar, wie der ‹Schweregrad› bewertet wird.»

– Die Zulassung, Herstellung und Anwendung von Arzneimitteln soll bereits im Vorfeld einer Gesundheitskrise gelockert werden.

– Aus den aktuellen «unverbindlichen Empfehlungen» der WHO könnten rechtsverbindliche Anweisungen werden und die WHO wird während eines Gesundheitsnotfalles zu einem «globalen Gesetzgeber». Die WHO könnte dann «legislative Befugnisse verfügen, die mit Ausnahme des UN-Sicherheitsrats kein anderes UN-Organ oder eine UN-Sonderorganisation hat.» Viele Änderungsvorschläge seien in diesem Kontext zu lesen.

In der Analyse kommen Behrendt und Müller zum Schluss:

«Diese erste Analyse der vorgeschlagenen Änderungen kann diejenigen, die an den Verhandlungsprozessen in der WHO beteiligt sind, dazu ermutigen, die Vorschläge auch auf ihre Vereinbarkeit mit den Pflichten der Staaten zur Achtung, zum Schutz und zur Verwirklichung der Menschenrechte zu prüfen, einschliesslich der Sicherstellung, dass ihre Mitgliedschaft in internationalen Organisationen wie der WHO sie nicht daran hindert, diesen Pflichten nachzukommen.»

* Thomas Oysmüller, Jahrgang 1990, studierte Philosophie und Sozialwissenschaften, ist freier Journalist und arbeitete früher beim deutschen Onlineradio detektor.fm, einige Jahre bei zackzack.at sowie für kleinere Zeitungen.

Quelle: https://tkp.at/2023/02/28/who-reform-warnung-und-kritik-von-rechtsexperten, 28. Februar 2023

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

1 https://opiniojuris.org/2023/02/27/the-proposed-amendments-to-the-international-health-regulations-an-analysis/

2 https://tkp.at/2023/02/13/diktatorische-who-reform-strauchelt-hauseigenes-pruefkomitee-lehnt-aenderungen-ab/

3 https://opiniojuris.org/2023/02/27/the-proposed-amendments-to-the-international-health-regulations-an-analysis/

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