Wer wird über die Wächter wachen?
von Alfred de Zayas*
(29. Januar 2022) Beim Surfen in den Mainstream-Medien, beim Hören der Tagesnachrichten und beim Surfen in den sozialen Medien können wir beobachten, wie aus «Fake News» eine gefälschte Geschichte wird und wie Politiker und Journalisten beides instrumentalisieren, um gefälschte Gesetze auszuhecken. Ich denke, wir können ohne Angst vor Widerspruch sagen, dass es einen regelrechten Krieg gegen die Wahrheit gibt. Sicherlich befinden wir uns auf einem schmalen Grat zur falschen Demokratie – oder sind wir schon dort?
«Quis custodiet ipsos custodes?» (Juvenalis, Satiren) – Wer wird über die Wächter wachen? – wenn die Mainstream-Medien nicht mehr die Funktion des Wachhundes ausüben, uns nicht mehr auf endemische – und punktuelle – Regierungsmissbräuche aufmerksam machen, sondern eher als Echokammern der Interessen bestimmter «Eliten» und transnationaler Unternehmen fungieren ... Wer wird den staatlichen und privatwirtschaftlichen Betrug auffliegen lassen?
Wie können wir unsere Rechte verteidigen, wenn unsere gewählten Beamten, die die Pflicht haben, das Gesetz aufrechtzuerhalten, in Wirklichkeit im Dienste anderer, mächtigerer und lukrativerer Interessen stehen? Was können wir tun, wenn die Exekutive, die Legislative und die Judikative zunehmend korrumpiert werden; wenn Institutionen wie der Internationale Strafgerichtshof (ICC) die Ermittlungen gegen grobe Verbrechen mächtiger Staaten einstellen, während sie die kleinen Fische verfolgen; wenn die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) die Beweise der Inspektoren verfälscht und entscheidende Fakten unterdrückt (Douma-«Bericht» über Syrien); wenn die Organisation der amerikanischen Staaten (OAS) an einem Staatsstreich gegen einen Mitgliedstaat (Bolivien) beteiligt ist; wenn andere angeblich objektive Organisationen die Öffentlichkeit systematisch desinformieren, Nachrichten ohne Beweise verbreiten und abweichende Meinungen unterdrücken?
Nur wir können die Wächter sein – indem wir die Demokratie und unser Recht auf wirksame Beteiligung an öffentlichen Angelegenheiten zurückfordern, wie es in Artikel 25 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte festgelegt ist. Wir müssen die Politisierung und Benutzung der Menschenrechte als Waffen verurteilen, insbesondere dann, wenn menschliche Ansprüche instrumentalisiert werden, um andere auszulöschen.
Wir sollten uns daran erinnern, dass die Menschenrechte nicht in Konkurrenz zueinanderstehen, sondern dass die Menschenrechte ein ganzheitliches System darstellen, das auf unserer gemeinsamen Menschenwürde beruht. Wir wissen, dass die Vereinten Nationen, der Sicherheitsrat, die Generalversammlung, der Wirtschafts- und Sozialrat der UNO (ECOSOC) und der Menschenrechtsrat alle politisch sind. Das ist nicht das Problem – es ist ein Faktum, dass alles in irgendeiner Weise als «politisch» angesehen werden kann. Entscheidend ist, dass sich alle an dieselben Regeln halten müssen und dass es eine Art Überwachung gibt, um sicherzustellen, dass die Regeln in gutem Glauben eingehalten werden.
Ein Problem besteht darin, dass viele Diplomaten und Politiker, die in öffentlichen Institutionen sitzen, sich nicht wirklich den Menschenrechten, dem Völkerrecht oder der internationalen Solidarität verpflichtet fühlen – oder diese Werte zumindest nicht als ihre Prioritäten betrachten, auch wenn sie die notwendigen Lippenbekenntnisse dazu abgeben. Ein weiteres Problem liegt in der fehlenden Ethik in den öffentlichen Institutionen, in der Doppelmoral von Politikern und Diplomaten. In der Tat, «quod licet Iovi non licet bovi» – was für den Jupiter (die USA, das Vereinigte Königreich, die EU) zulässig ist, ist für einen Stier (den Rest von uns) nicht zulässig.
Sicher, die Welt braucht eine auf Regeln basierende internationale Ordnung, die für alle gilt, nicht nur für die ärmeren Länder. Bemerkenswert ist, dass der US-Aussenminister Antony Blinken immer wieder auf diese «regelbasierte» Ordnung pocht. Aber wir haben sie bereits: die Charta der Vereinten Nationen, die einer Weltverfassung gleichkommt. Alles ist bereits in der Charta enthalten. Wir müssen sie nur noch in gutem Glauben anwenden.
Es ist bestürzend zu sehen, wie viele Länder, die angeblich dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verpflichtet sind, im Menschenrechtsrat systematisch für bestimmte Mandate stimmen, die Transparenz und Rechenschaftspflicht behindern, während sie gegen das Menschenrecht auf Frieden, das Recht auf internationale Solidarität und das Recht auf Entwicklung stimmen.
Wie können wir Länder anprangern, die die Bemühungen um die Verabschiedung eines rechtsverbindlichen Instruments zur sozialen Verantwortung von Unternehmen sabotieren, das Verbot einseitiger Zwangsmassnahmen missachten, Söldner einsetzen, um das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu untergraben, und sich über UN-Beschlüsse und -Resolutionen, einschliesslich der Gutachten des Internationalen Gerichtshofs, hinwegsetzen?
Mächtige Staaten, die ungestraft gegen das Völkerrecht verstossen, senden in der Tat ein gefährliches Signal und geben den Entwicklungsländern in Afrika, Asien und Lateinamerika ein zynisches Beispiel. Wenn wir im entwickelten «Westen» führend sein wollen – nicht nur in wirtschaftlichen Fragen, sondern auch bei den Menschenrechten – müssen wir mit gutem Beispiel vorangehen.
Und wenn wir böse Dinge tun, wie den barbarischen Angriff auf den Irak im Jahr 2003 oder die Verfolgung von «Whistleblowern» wie Julian Assange und Edward Snowden, schaffen wir «Vorzeichen der Zulässigkeit» – denen andere sicher folgen werden. Das eben ist «der Fluch der bösen Tat, dass sie fortwährend Böses muss gebären » (Friedrich von Schiller, Piccolomini).
Was die internationale Gemeinschaft im 21. Jahrhundert braucht, sind gegenseitiger Respekt und Pluralismus, internationale Solidarität und Multilateralismus. Und doch erleben wir von allen Seiten den Druck des Konformismus, des «Gruppendenkens» und der «politischen Korrektheit». Wir müssen sehr wachsam sein, wenn wir nicht in eine totalitäre Hexenjagd gegen «falsches Denken» verwickelt werden wollen.
Wir selbst müssen sowohl Wächter als auch Informanten sein. Wir können Institutionen nicht vertrauen, die von Unternehmen finanziert werden und/oder von Geheimdiensten unterwandert sind. Wir können uns nicht auf Medien verlassen, die nur als Echokammern der Mächtigen fungieren. Wir müssen pro-aktiv eine nachhaltige Welt aufbauen – Tag für Tag – auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen und multilateraler Massnahmen. Wir sind die Wächter.
* Alfred de Zayas ist Professor für Völkerrecht an der Genfer Hochschule für Diplomatie und war von 2012–2018 unabhängiger Experte der Vereinten Nationen für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung. |
Source: https://www.counterpunch.org/2021/12/31/who-will-guard-the-guardians/, 31. Dezember 2021
(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)