Wirtschaftssanktionen töten

Alfred de Zayas (Bild zvg)

von Alfred de Zayas,* Genf

(28. März 2022) AdZ. Dieser Artikel stützt sich auf die Forschungen anderer Wissenschaftler, darunter Jeffrey Sachs und Mark Weisbrot, und ermutigt zu weiteren Untersuchungen durch UN-Organisationen wie UNICEF, WHO und FAO, um den konkreten Schaden von Wirtschaftssanktionen zu quantifizieren.

Er schlägt insbesondere vor, den Zusammenhang zwischen Sanktionen und Hungersnöten, Sanktionen und Medikamentenknappheit (die ECWAS-Studie zu Syrien ist sehr aufschlussreich) zu untersuchen, sowie dass Sanktionen aufgrund der Zehntausenden von Todesfällen, die sie weltweit verursachen, gemäss Artikel 7 des Römischen Statuts als Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachtet werden sollten.

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Die internationale Gemeinschaft hat sich verpflichtet, die Wahrnehmung aller Menschenrechte durch alle Menschen in allen Ländern voranzutreiben. Dieses hehre Ziel, das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den zehn wichtigsten Menschenrechtsverträgen verankert ist, kann nur durch internationale Solidarität und Zusammenarbeit erreicht werden.

Die internationale Gemeinschaft ist auch verpflichtet, die grundlegenden Ziele der Vereinten Nationen voranzutreiben, nämlich die Förderung des lokalen, regionalen und internationalen Friedens und der Entwicklung. Um diese Ziele zu erreichen, sollten Strategien für die Bildung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung entwickelt werden. Diese sollen Wohlstand und Stabilität fördern, die Souveränität der Staaten, ihre sozioökonomischen Systeme und Modalitäten selber zu wählen garantieren und das Selbstbestimmungsrecht der Völker respektieren.

Das Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte hat gezeigt, dass seine Beratungsdienste und seine technische Hilfe bei der Stärkung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und staatlichen Institutionen wirksam sind. Ein Beispiel: Die Eröffnung eines OHCHR-Büros in Caracas, Venezuela, im Jahr 2019, für die ich mich nachdrücklich eingesetzt habe, als ich als erster UN-Berichterstatter seit 21 Jahren Venezuela besuchte, war ein wichtiger Schritt zur Koordinierung der Hilfe von UN-Organisationen wie UNDP, UNHCR, UNICEF, WHO, ILO und FAO.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Charta der Vereinten Nationen einer Weltverfassung gleichkommt, sollten wir uns darum bemühen, dass internationales Handeln auf Multilateralismus beruht und dass innerstaatliches Recht und Praxis mit dieser Verfassung in Einklang gebracht werden. Die Geschichte zeigt, dass der internationale Frieden und das Wohlergehen der Nationen durch Unilateralismus bedroht sind, auch durch die Verhängung einseitiger Zwangsmassnahmen gegen andere Länder, am häufigsten gegen geopolitische oder geoökonomische Rivalen. Nur UN-Sanktionen, die gemäss Kapitel VII der UN-Charta verhängt werden, sind rechtmässig. Einseitige Sanktionen verstossen gegen den Buchstaben und den Geist der UN-Charta.

Während Waffenembargos notwendig und legitim sind, weil sie darauf abzielen, Konflikte zu deeskalieren und Friedensverhandlungen eine Chance zu geben, stellen Wirtschaftssanktionen, die auf einen «Regimewechsel» abzielen, eine Bedrohung für den Frieden und die Stabilität in der Welt dar und sollten vom Sicherheitsrat gemäss Artikel 39 der Charta verurteilt werden. Jedes Land oder jede Gruppe von Ländern kann Embargos gegen die Ein- und Ausfuhr von Waffen durch Länder verhängen, die sich bereits im Krieg befinden oder bei denen die Gefahr besteht, dass sie in innere oder äussere Unruhen geraten, aber sie sollten sich nicht gegen einen geopolitischen Rivalen verbünden, indem sie lähmende Wirtschaftssanktionen und Finanzblockaden verhängen, die immer die Schwächsten treffen.

Die Erfahrung zeigt, dass sich Wirtschaftssanktionen negativ auf die Wahrnehmung grundlegender Menschenrechte durch die betroffene Bevölkerung auswirken. Viele Sanktionen, selbst «legale» Sanktionen, die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verhängt wurden (z. B. gegen den Irak 1991–2003), können zum Tod führen, sogar zu einem Massensterben, wie von UNICEF und anderen internationalen Organisationen dokumentiert. (Schätzungen zufolge starben mindestens 500 000 Kinder aufgrund der Sanktionen,1 in Venezuela starben allein im Jahr 2018 etwa 40 000 Menschen aufgrund von Sanktionen.2) Wenn Sanktionen solches Unheil anrichten, müssen sie aufgehoben und andere Methoden ausprobiert werden, die mit den Grundsätzen und Zielen der UNO vereinbar sind. Solche Sanktionen verstossen auch gegen das humanitäre Völkerrecht, das «kollektive Bestrafung» ausdrücklich verurteilt.

Darüber hinaus führen Sanktionsregime, die die Wirtschaft der betroffenen Länder schwächen oder sogar ersticken, zu Arbeitslosigkeit, Hunger, Krankheit, Verzweiflung, Auswanderung und Selbstmord. In dem Masse, in dem solche Sanktionen «wahllos» sind, kommen sie einer Form von staatlichem «Terrorismus» gleich, der per definitionem wahlloses Töten nach sich zieht, ebenso wie Landminen, Streubomben und der Einsatz von Waffen mit krebserregendem abgereichertem Uran. Es ist eine Schande für die internationale Gemeinschaft, dass die USA 29 Resolutionen der Generalversammlung missachtet haben, in denen die USA aufgefordert wurden, ihr Embargo gegen Kuba zu beenden.

Es ist eine Schande, dass die Vereinigten Staaten, Kanada, das Vereinigte Königreich und die Europäische Union ungeachtet der Resolution 76/161 der Generalversammlung vom Dezember 2021 und der Resolution 46/5 des Menschenrechtsrates vom März 2021, in denen einseitige Zwangsmassnahmen unmissverständlich verurteilt und ihre Abschaffung gefordert wird, ihre Wirtschaftssanktionen verschärft haben, die die Rechte von Hunderten Millionen Menschen auf der ganzen Welt beeinträchtigen. Die Behauptung, dass diese Sanktionen irgendetwas mit der Förderung der Menschenrechte zu tun haben, ist eine «contradictio in adjecto», eine kognitive Dissonanz im Orwellschen Sinne.

Die Geschichte der einseitigen Zwangsmassnahmen ist eine Geschichte des Leids und der Verwüstung. Die Theorie besagt, dass solche Sanktionen die betroffenen Länder zu einer Änderung ihrer Politik «bewegen» sollen. Wie die Experten gerne vorhersagen, sollen die Sanktionen zu einer so grossen öffentlichen Unzufriedenheit führen, dass sich die Bevölkerung in Wut gegen ihre Regierung erhebt oder einen Staatsstreich auslöst.

Obwohl der Zweck der Sanktionen gerade darin besteht, Chaos, einen nationalen Notstand, eine instabile Situation mit unvorhersehbaren Folgen herbeizuführen, beruft sich das politische Narrativ, mit dem die Sanktionen zu rechtfertigen versucht werden, auf Menschenrechte und humanitäre Grundsätze als ihren wahren Zweck.

Dies ist die klassische Instrumentalisierung von Menschenrechten zum Zweck der Herbeiführung eines «Regimewechsels». Aber dienen die Sanktionen den Menschenrechten? Gibt es empirische Belege dafür, dass Länder, gegen die Sanktionen verhängt wurden, ihre Menschenrechtsbilanz verbessert haben?

Die Erfahrung zeigt, dass ein Land, das sich im Krieg befindet – gleich welcher Art –, in der Regel von den bürgerlichen und politischen Rechten abweicht. Wenn ein Land einen nichtkonventionellen, hybriden Krieg führt und mit Wirtschaftssanktionen und Finanzblockaden belegt wird, führt dies nicht zu einer Verbesserung der Menschenrechtslage, sondern genau zum Gegenteil.

Wenn Sanktionen wirtschaftliche und soziale Krisen auslösen, verhängen Regierungen routinemässig ausserordentliche Massnahmen und rechtfertigen diese mit dem «nationalen Notstand». Wie in klassischen Kriegssituationen versucht ein belagertes Land, durch die vorübergehende Einschränkung bestimmter bürgerlicher und politischer Rechte die Stabilität wiederherzustellen.

Artikel 4 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sieht zwar die Möglichkeit vor, dass Regierungen bestimmte vorübergehende Einschränkungen vornehmen können, z. B. die Abweichung von Art. 9 (Inhaftierung), Art. 14 (faire Gerichtsverfahren), Art. 19 (Recht auf freie Meinungsäusserung), Art. 21 (Freiheit der friedlichen Versammlung), Art. 25 (periodische Wahlen). NIEMAND will solche Ausnahmen, aber die Priorität eines jeden Staates ist das Überleben, die Verteidigung seiner Souveränität und Identität. Das Völkerrecht erkennt an, dass Regierungen einen gewissen Ermessensspielraum haben, wenn es darum geht, den Grad der Bedrohung für das Überleben des Staates durch Sanktionen, paramilitärische Aktivitäten oder Sabotage zu bestimmen.

Anstatt die Verbesserung der Menschenrechtslage zu fördern, führen Wirtschaftssanktionen daher häufig zu innerstaatlichen Notstandsgesetzen, die auf die Wahrung lebenswichtiger Interessen abzielen. In solchen Fällen erweisen sich Sanktionen als kontraproduktiv, als eine «lose-lose proposition». In ähnlicher Weise hat sich die überstrapazierte Praxis des «naming and shaming» als unwirksam erwiesen. Was sich in der Vergangenheit bewährt hat, sind stille Diplomatie, Dialog und Kompromisse.

Wenn die internationale Gemeinschaft einem Land helfen will, seine Menschenrechtssituation zu verbessern, sollte sie sich bemühen, die Drohungen zu beseitigen, die Regierungen dazu bringen, sich zurückzuziehen, anstatt sich zu öffnen. Inzwischen sollte klar sein, dass Säbelrasseln, Sanktionen und Blockaden nicht zu einem positiven Wandel beitragen.

Gerade weil sie die Situation verschärfen und das ordnungsgemässe Funktionieren der staatlichen Institutionen stören, schwächen Sanktionen die Rechtsstaatlichkeit und führen zu Rückschritten bei den Menschenrechten.

Angesichts der anhaltenden Drohungen einiger Politiker gegen Länder, gegen die Sanktionen verhängt wurden, scheint ein altes französisches Sprichwort zu gelten:

La bête est très méchante, lorsqu'on l'attaque, elle se défend. (Das Biest ist sehr böse – wenn man es angreift, verteidigt es sich.)

Schlussbetrachtung

Wir sollten erkennen, dass «Demokratie» nicht exportiert und mit Gewalt durchgesetzt werden kann, dass die Menschenrechte nicht das Ergebnis einer vertikalen Durchsetzung von oben nach unten sind, sondern eine horizontale Anerkennung der Würde jedes Menschen erfordern und dass die Ausübung der Menschenrechte von Bildung, gegenseitigem Respekt und Solidarität abhängt.

Es ist zwingend erforderlich, die Gründe zu bekräftigen, warum einseitige Zwangsmassnahmen mit Ziel und Zweck der Charta der Vereinten Nationen unvereinbar sind und gegen die Grundprinzipien der Charta verstossen, einschliesslich gegen die souveräne Gleichheit der Staaten, die Selbstbestimmung der Völker, die Handelsfreiheit, die Freiheit der Schifffahrt, die Nichtdiskriminierung, die Verpflichtung, Streitigkeiten auf dem Verhandlungswege zu lösen, und das Verbot der Gewaltanwendung.

Man kann mit Nachdruck behaupten, dass die Formulierung in Artikel 2 Absatz 4 der Charta, die «die Androhung oder Anwendung von Gewalt» verbietet, logischerweise alle Formen von Zwang gegen andere Staaten umfasst – Zwang, der diesen Ländern das Recht verweigert, ihre Regierungsform und ihr sozioökonomisches System selber zu bestimmen.

Zwang kann nicht angewandt werden, um anderen Staaten ein neoliberales Wirtschaftssystem aufzuerlegen. Siehe die Resolutionen der Generalversammlung 2131, 2625, 60/1 (Absatz 135), 76/161, Artikel 19 und 20 der OAS-Charta usw. Siehe insbesondere die Berichte der Sonderberichterstatter des Menschenrechtsrates über die negativen Auswirkungen einseitiger Zwangsmassnahmen, des verstorbenen Dr. Idriss Jazairy und der Professorin Dr. Alena Douhan.3 Siehe auch den Wortlaut der 29 Resolutionen der Generalversammlung, in denen das US-Embargo gegen Kuba verurteilt wird.

Die Behauptung, Sanktionen hätten etwas mit der Förderung der Menschenrechte zu tun, muss unbedingt zurückgewiesen werden. Das Gegenteil ist der Fall: SANKTIONEN TÖTEN.

Die Erfahrung zeigt, dass Sanktionen dazu da sind, geopolitische und geoökonomische Ziele zu erreichen. Die Konzernmedien verbreiten jedoch das propagandistische und zutiefst falsche Argument, dass Sanktionen mit dem wohlwollenden Ziel verhängt werden, Länder dazu zu bewegen, nicht mehr gegen das Völkerrecht oder die Menschenrechte zu verstossen. Das ist reiner Zynismus und Heuchelei.

In Anbetracht der Tatsache, dass Wirtschaftssanktionen und Finanzblockaden weltweit Hunderttausende unschuldiger Menschen töten, sollte der Internationale Gerichtshof ein Gutachten erstellen, in dem Punkt für Punkt dargelegt wird, warum solche Sanktionen gegen das Völkerrecht verstossen, und in dem die rechtlichen Konsequenzen für die Schurkenstaaten, die sie verhängen, festgelegt werden. Schliesslich muss der Internationale Strafgerichtshof solche Sanktionen zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne von Artikel 7 des Römischen Statuts erklären.

* Alfred de Zayas ist Professor für Völkerrecht an der Genfer Hochschule für Diplomatie und war von 2012–2018 unabhängiger Experte der Vereinten Nationen für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung.

Quelle: https://www.counterpunch.org/2022/03/18/economic-sanctions-kill/, 18. März 2022

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://www.independent.ie/world-news/sanctions-have-killed-500000-iraqi-children-26114461.html
https://www.gicj.org/positions-opinons/gicj-positions-and-opinions/1188-razing-the-truth-about-sanctions-against-iraq

2 https://cepr.net/report/economic-sanctions-as-collective-punishment-the-case-of-venezuela/

3 https://www.ohchr.org/EN/Issues/UCM/Pages/SRCoerciveMeasures.aspx

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