Das Schweizer Sprachenphänomen
von Suzette Sandoz,* Pully VD
(CH-S) Der kürzliche Entscheid der drei Kantone Appenzell Ausserrhoden, Zürich und St. Gallen, den Beginn des Französisch-Unterrichts von der Mittelstufe (4.–6. Klasse) auf die Oberstufe (7.–9. Klasse) zu verschieben, hat in der Romandie und in Bundesbern vielseitige Reaktionen ausgelöst. Missachtung einer sprachlichen Minderheit? Gescheitertes Experiment mit früher Mehrsprachendidaktik? Gefährdung des nationalen Zusammenhalts?
Der «Schweizer Standpunkt» wird in nächster Zeit verschiedene Stimmen zu Wort kommen lassen. Aktuell beginnen wir mit einer Stellungnahme aus der Westschweiz.
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Grosse Aufregung in der Schweizer Öffentlichkeit: Der Kanton Zürich wird Französisch erst ab der Sekundarstufe unterrichten. Man spricht von einem Verrat am «eidgenössischen Einvernehmen». Aber worum geht es dabei eigentlich?
Gemäss Art. 4 der Bundesverfassung sind «Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch die Landessprachen». In welchen Kantonen wird aus «eidgenössischem» Geist Rätoromanisch obligatorisch unterrichtet? In welchen Kantonen ist Italienisch aus «eidgenössischem» Geist obligatorisch?
Sicher! Französisch ist die zweitwichtigste Landessprache. Es ist zwar die von den Einheimischen gesprochene «Sprache», ihre Herzenssprache, aber Deutsch ist nicht die von den Einheimischen in der Deutschschweiz gesprochene Sprache, es ist nicht ihre Herzenssprache; wenn die kleinen Deutschschweizer in die Schule kommen, entdecken sie erst das Hochdeutsch. Es ist fast eine Fremdsprache, die sie lernen müssen, obwohl sie Schweizerdeutsch sprechen. Sicherlich haben die beiden germanischen Sprachen Ähnlichkeiten, aber Hochdeutsch ist eine geschriebene, konstruierte Sprache, wie Französisch und Italienisch. Zusätzlich zu der Sprache, die sie sprechen, müssen die kleinen Deutschschweizer Schüler also lernen, eine andere Sprache, nämlich Hochdeutsch, zu «konstruieren». Die kleinen Romands hingegen sprechen ganz selbstverständlich die Sprache, deren Satzbau sie lernen können, sobald sie in die Schule kommen.
Französisch, Deutsch und Italienisch sind internationale Sprachen, die Zugang zu einer Kultur bieten, die über die Schweizer Kultur hinausgeht. Sie erfordern einen anderen Ansatz als rein lokale Sprachen wie Schweizerdeutsch – und übrigens auch Rätoromanisch. Das Gehör allein reicht nicht aus, und ich würde sagen, dass das Lernen nur mit dem Gehör die Gefahr birgt, die Kultur zu verraten. Es ist gut, wenn die Schüler bereits eine gewisse Reife haben, um in eine Sprache der internationalen Kultur «einzutreten» und nicht nur die Technik, sondern auch den Geist dieser Sprache zu erlernen. Das beste Zusammenleben innerhalb der Eidgenossenschaft wird durch das Verständnis sowohl der Sprache als auch des Geistes der anderen Ethnie gewährleistet. Das Problem ist, dass das Schweizerdeutsch keine internationale Sprache ist und Zugang zu sehr lokal begrenzten Kulturen verschafft, die zwar wichtig, aber sehr unterschiedlich sind. Nur ein Aufenthalt in einem Kanton jenseits der Saane ermöglicht es, den Reichtum einer lokalen Kultur wahrzunehmen.
Weder Französisch noch Deutsch oder Italienisch als solche vermitteln jedoch die Seele des Kantons, dessen Amtssprache sie sind. Man muss auch vor Ort gelebt haben. Lassen wir also jedem Kanton die Freiheit zu entscheiden, in welchem Alter seine Kinder am besten in der Lage sind, die Kenntnisse zu erwerben, die ihnen ermöglichen, sich eine oder zwei der «Amtssprachen» des Landes anzueignen, und sehen wir in dieser Entscheidung nichts anderes als ein pädagogisches und legitim föderalistisches Bestreben.
Der Sonderfall Englisch
Englisch war einst eine Kultursprache. Es ist zu einem Handelsinstrument und einem Mittel zur Vereinheitlichung des Denkens geworden. Aus rein «praktischen» und «wirtschaftlichen» Gründen wird der Englischunterricht gegenüber dem Unterricht in den Landessprachen bevorzugt. Man muss es schon in jungen Jahren brabbeln können. Es weist Analogien zum Deutschen und zum Französischen auf und scheint sowohl für Deutschsprachige als auch für Französischsprachige recht leicht erlernbar zu sein. Die natürliche Trägheit veranlasst dazu, das unmittelbar Nützliche dem eher «uneigennützigen» Kulturellen vorzuziehen. Dies ist ein zivilisatorisches Problem, das weit über den Rahmen der interkantonalen Beziehungen hinausgeht. Es stellt sich die Frage: Soll die Schule die Unterwerfung unter einem Konsumtrend oder die Offenheit gegenüber Kultur fördern?
Die Debatte über die Harmonisierung des Schulwesens scheint sich selten mit dieser Frage zu befassen.
* Suzette Sandoz ist 1942 geboren. Sie ist Honorarprofessorin für Familien- und Erbrecht, ehemaliges Mitglied des Grossen Rates des Kantons Waadt und ehemalige Nationalrätin. |
Quelle: https://suzettesandoz.ch/le-phenomene-suisse-des-langues/, 3. September 2025
(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)