Die Farce mit der EU geht weiter

Schweizer Chefunterhändler produziert Fake News – Bundesräte lassen sich bevormunden

von Carl Baudenbacher*

(2. Januar 2025) 2024 wird in der Schweiz in die Geschichtsbücher eingehen. Der Bundesrat, die aus sieben gleichberechtigten Mitgliedern bestehende Direktorialregierung des Landes, hat ein Rahmenabkommen mit der Europäischen Union genehmigt, ohne dessen genauen Inhalt zu kennen.

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Dass die Regierung den Vertrag noch nicht unterzeichnet hat, ist nicht relevant. Sie hat sich im Beisein von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verpflichtet, ihn zu unterzeichnen.

Natürlich denkt das erlauchte Gremium nicht im Traum daran, auf diese Aktion zurückzukommen oder sie gar anzufechten. Der peinliche Kniefall vom 20. Dezember ist vielmehr eine weitere Bestätigung, dass die Sache mit dem «Common Understanding» vom 15. Dezember 2023 gelaufen war. Die «Verhandlungen» waren primär darauf ausgerichtet, den eigenen Leuten Sand in die Augen zu streuen.

Juristen nehmen sich manchmal trotzdem die Freiheit zu fragen, wie es wäre, wenn der Bundesrat seine Zustimmung zum ungelesenen Vertrag anfechten möchte. Rein theoretisch beziehungsweise übungshalber. Man ist an den Fall erinnert, dass jemand ein ungelesenes Dokument unterschreibt. Hier gilt: Wer ein Dokument in Kenntnis seiner rechtlichen Relevanz unterschreibt, ohne es zu lesen, kann es in der Regel nicht anfechten (vgl. z.B. BGE 135 IV 12).

Angesichts des Kleingedruckten mit den vielen unklaren Klauseln könnte man sich aber eine Analogie zum Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen («AGB») vorstellen.

Nach Art. 8 UWG1 handelt unlauter, «wer allgemeine Geschäftsbedingungen verwendet, die in Treu und Glauben verletzender Weise zum Nachteil der Konsumentinnen und Konsumenten ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis zwischen den vertraglichen Rechten und den vertraglichen Pflichten vorsehen».Dass ein erhebliches und ungerechtfertigtes Ungleichgewicht zwischen den vertraglichen Rechten und Pflichten der Schweiz besteht, ist unbestreitbar. Die Schweizer Industrie erhält einen begrenzten Zugang zum Binnenmarkt; Banken und Versicherungen sind davon nicht erfasst.

Im Gegenzug verpflichtet sich die Schweiz, EU-Recht laufend dynamisch zu übernehmen und sich der Überwachung durch die EU-Kommission sowie dem Auslegungsmonopol des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu unterwerfen.

Beiden Institutionen fehlt es an Neutralität. Zwar gibt es ein «Schiedsgericht», das im Konfliktfall formell entscheidet, aber das ist nur ein Feigenblatt für dieses vertragliche Ungleichgewicht.

Im Gegensatz zu dem, was Bundesrat Ignazio Cassis, von seinem Chefunterhändler mit zustimmendem Nicken unterstützt, an der Medienkonferenz anlässlich der Billigung des ungelesenen Vertrags zweimal behauptete, muss, nicht kann das «Schiedsgericht» den EuGH um einen verbindlichen Entscheid ersuchen.

Die Aussage des Aussenministers erfüllt den Tatbestand der Fake News in optima forma. Nach dem Duden sind Fake News «in manipulativer Absicht verbreitete Falschmeldungen».

Die Unterwerfung unter ein extraterritoriales Gericht ist ein entscheidendes Merkmal von Halb-Kolonisierung. Aber damit nicht genug.

Die Schweiz soll auch noch 350 Millionen Franken pro Jahr an die EU zahlen. Der Vergleich, den der Bundesrat diesbezüglich mit den EWR/EFTA-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen zieht, ist nicht haltbar. Diese Staaten unterliegen nicht der Aufsicht durch die EU-Kommission und der Zuständigkeit des EuGHs.

Ob der Bundesrat von der EU-Kommission unter Verletzung von Treu und Glauben über den Tisch gezogen wurde, ist fraglich. Denkt man an das Jahr 2013 zurück, so muss die Antwort nein lauten.

Damals wünschte sich das illustre Gremium unter dem Einfluss von Aussenminister Didier Burkhalter ausdrücklich die Unterstellung unter die EU-Kommission und den EuGH. Der damalige EU-Botschafter in Bern, der Brite Richard Jones, zeigte sich darüber erstaunt. Schon in jenem Moment spielten Fake News eine entscheidende Rolle. Unter anderem behauptete der Bundesrat, der EuGH würde lediglich «Gutachten» abgeben. Burkhalter hielt an dieser Unwahrheit auch fest, als zwei Präsidenten des EuGH klarstellten, dass dieser ausschliesslich rechtsverbindliche Urteile erlasse.

Die Lügenkampagne geht seither weiter. Auch am 20. Dezember 2024 wurde der Bundesrat nicht von der EU übers Ohr gehauen. Sein eigener Chefunterhändler hat ihm den Vertragstext vorenthalten und ihm stattdessen von seinem Team verfasste sogenannte «Fact Sheets» übergeben.

Wie eine erste Durchsicht zeigt, enthalten diese die üblichen Fake News. Das ist im Blick auf das, was sich in Bundesbern seit 2013 abspielt, nicht weiter erstaunlich. Man glaubt es nicht, aber die Bundesräte haben diese Bevormundung durch einen Bürokraten akzeptiert.

Unklar ist auch, ob der Bundesrat mit den durch das UWG zu schützenden Konsumenten verglichen werden kann. Konsumenten gelten im Geschäftsverkehr als schutzbedürftig, weil sie die wirtschaftlich, intellektuell und strukturell unterlegene Partei sind.

Von wirtschaftlicher Unterlegenheit kann im Verhältnis Schweiz-EU jedoch keine Rede sein. Die Schweiz steht wirtschaftlich sehr viel besser da als die Union. Auch strukturell sollte Bern mithalten können, selbst wenn die systematische Beschäftigung von Kopfnickern im öffentlichen Dienst natürlich ein Problem ist.

Allenfalls könnte man versucht sein, das Element der intellektuellen Unterlegenheit genauer unter die Lupe zu nehmen. Aber das ist bei Bundesräten ein heikles Unterfangen.

Letzten Endes würde die Frage gemäss dem Rahmenabkommen vielleicht vor dem EuGH landen. Lassen wir es also bei den vorstehenden theoretischen Überlegungen bewenden. Aber der 20. Dezember 2024 wird in der Schweiz immer ein denkwürdiger Tag sein, im negativen Sinne.

Post Scriptum: Am gleichen Tag schrieb die «Financial Times», dass der gewählte US-Präsident Donald Trump seinen eigenen Deregulierungskurs versprochen und den Milliardär und Unternehmer Elon Musk zum Co-Leiter einer neuen Regierungsabteilung für Effizienz ernannt hat.

Brüsseler Eurokraten erwarten, dass Musk bei der Regulierung ein Race-to-the-Bottom auslösen wird. Die europäischen Unternehmen befürchten, dass sie sich so sehr in der Bürokratie verzetteln, dass sie noch weiter hinter ihre US-Konkurrenten zurückfallen.2

Genau einen Monat nach dem grotesken Tamtam in Bern, am 20. Januar 2025, wird Donald Trump in Washington, D.C. als Präsident der USA vereidigt werden. Die Frage stellt sich, ob der Bundesrat nach diesem Ereignis immer noch derart glücklich mit seinem ungelesenen Vertrag sein wird wie er, respektive seine Mehrheit, jetzt vorgibt.

Oder war das Ganze nur eine Farce, um bei der grossen Anführerin der EU-Kommission gut dazustehen?

* Carl Baudenbacher ist ein Schweizer Jurist. Seit Mai 2018 arbeitet er als unabhängiger Schiedsrichter und Berater von Unternehmen, Anwaltsfirmen, Regierungen und Parlamenten, u. a. bei Monckton Chambers in London. 2020 wurde er zum Visiting Professor an der London School of Economics (LSE) ernannt. Seit Mai 2021 ist er Senior Partner von Baudenbacher Law, Zürich.
Von 1995 bis April 2018 war Baudenbacher Richter am EFTA-Gerichtshof in Luxemburg, von 2003 bis 2017 dessen Präsident. Von 1987 bis 2013 war er ordentlicher Professor an der Hochschule St. Gallen (HSG) und zwischen 1993 und 2004 Permanent Visiting Professor an der University of Texas (UT) in Austin.

Quelle: https://insideparadeplatz.ch/2024/12/21/die-farce-mit-der-eu-geht-weiter/, 21. Dezember 2024

1 Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG)

2 https://www.ft.com/content/5d1e8180-c2dd-4f66-8884-4bbbeeccc157

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