«Die Neutralität bleibt unverzichtbar»

Peter Maurer, 2012, Syrien (Bild ICRC)

IKRK-Präsident Peter Maurer* über Krieg und Frieden

Interview geführt von Roger Köppel am 6. Oktober 2022

(7. November 2022) (Red.) Als Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz besuchte Peter Maurer die Konfliktherde dieser Welt. Im letzten Interview seiner Amtszeit zeigt er sich vorsichtig optimistisch. Im Ukraine-Konflikt werde das humanitäre Völkerrecht wieder stärker beachtet. Die Rolle des neutralen Vermittlers bleibe unverzichtbar im Ringen um den Frieden.

Weltwoche: Herr Maurer, wir erleben dramatische Tage. Die Erdgas-Pipelines Nord Stream 1 und 2 sind durch einen mutmasslich staatsterroristischen Akt beschädigt worden. Russlands Präsident Wladimir Putin rechnet in einer signifikanten Ansprache mit dem Westen ab. Wir reden wie selbstverständlich über die Möglichkeit eines Atomschlags. Sie sind ein kriegs- und krisenerprobter Mann, langjähriger Präsident des «Internationalen Komitees vom Roten Kreuz» (IKRK): Wie ordnen Sie diese Ereignisse ein? Wohin steuert die Welt?

Peter Maurer: Kriege und Konflikte gehören für das IKRK zum Alltag. Von daher bin ich nicht übermässig erschrocken, als ich von diesen Ereignissen hörte. Das heisst nicht, dass ich sie auf die leichte Schulter nehmen würde. Wohin sich die Welt bewegt, kann ich nicht sagen. Die tiefsten Absichten der politischen und militärischen Entscheidungsträger bleiben ein Geheimnis, auch für einen IKRK-Präsidenten. Was ich allerdings aus Erfahrung weiss: Je radikaler die Sprache des Krieges in der Öffentlichkeit gegenwärtig ist, desto schwieriger wird eine Kehrtwende hin zu Frieden und Versöhnung sein.

Verstehe ich Sie richtig: Als Diplomat, als Worteschmied der internationalen Beziehungen, der immer die Goldwaage im Gepäck hat, beobachten Sie eine gefährliche Entfesselung des Vokabulars, eine Entgrenzung der Sprache im Ukraine-Krieg?

Ja, das ist richtig. Der Krieg in der Ukraine wird rhetorisch seit 2014 ohne Rücksicht geführt. Wenn politische Führer der einen oder anderen Seite mit radikalen Konzepten eine indirekte Legitimität für eine verschärfte Kriegführung geben, ist das immer gefährlich. Es führt oft dazu, dass sich die Kommandanten im Feld berechtigt fühlen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten den Krieg zu eskalieren. Darum sind wir immer besorgt, wenn der Krieg nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Worten geführt wird.

Warum ist gerade der Ukraine-Krieg rhetorisch so aufgeladen?

Der Ukraine-Krieg ist seit Februar 2022 im globalen Kommunikationssystem angekommen. Das war bei den Kriegen der vergangenen zehn Jahre eigentlich nie der Fall. Die syrischen Kriegsparteien äusserten sich auch kontrovers, ohne dass die Weltöffentlichkeit so gebannt hinsah. In der Ukraine geht es, geopolitisch gesprochen, um viel mehr. Entsprechend ist die Aufmerksamkeit grösser.

Was können Sie als IKRK-Präsident gegen die aufgepeitschte Kriegsrhetorik tun? Können Sie überhaupt etwas tun?

Unser Instrumentarium ist das etwas technokratische Vokabular der Genfer Konventionen. Wir mahnen es gegenüber allen Beteiligten immer wieder an. Man kann das Gegenüber zum Beispiel als «Kriegspartei» bezeichnen oder als «folternden und schrecklichen Feind». Das macht einen Unterschied. Die Eskalationsrhetorik befriedigt gewisse Unterstützergruppen. Das mag vielleicht eine Weile ohne direkte Folgen bleiben. Doch plötzlich verlangen diese Gruppen dann die Realisierung der martialischen Worte. Darum ist die rhetorische Überhöhung eine stete Gefahr. Und wenn diese Rhetorik in einem globalen Kommunikationssystem weitergegeben wird, ist es umso schwieriger, die Diskussion wieder auf die Fakten herunterzubrechen.

Kommen wir zu den Fakten. Reden wir über den Krieg in der Ukraine. Wie ist er einzuordnen? Wie unterscheidet er sich von anderen Kriegen, die Sie erlebt haben, abgesehen vom globalen Interesse?

Es ist ein zwischenstaatlicher Konflikt mit regulären Armeen. In den letzten zehn Jahren hatten wir es oft mit Kriegsparteien zu tun, die von den Genfer Konventionen noch nie etwas gehört hatten. Das ist im Ukraine-Krieg anders. Die meisten Teilnehmer gehören einer regulären Armee an. Das heisst, sie sind in humanitärem Völkerrecht ausgebildet. Sie kennen die international anerkannten Normen der Kriegsführung. Wir stellen fest, dass es auf beiden Seiten echte Bemühungen gibt, diesen Konflikt nicht völlig eskalieren zu lassen. Auf Englisch sagt man precautions. Es gibt Vorsichtsmassnahmen gegenüber der Zivilbevölkerung. Wir beobachten eine Diskrepanz zwischen der Radikalität der Worte einerseits und der Taten im Feld andererseits.

Die «New York Times» berichtete kürzlich unter Berufung auf amerikanische Offizielle, im Ukraine-Krieg sei die Zahl der zivilen Opfer, verglichen mit der Zahl der militärischen Opfer, ungewöhnlich tief. Es kämen, relativ gesprochen, nur wenige Zivilisten in diesem Krieg ums Leben. Deckt sich das mit Ihren Erkenntnissen?

Ja, das deckt sich mit meinen Informationen. Seit dem Ersten Weltkrieg ist der Anteil der zivilen Opfer in Kriegen stetig gestiegen, erst recht in den destrukturierten, terroristisch geprägten Konflikten der letzten zehn, fünfzehn Jahre. Ich habe einmal mit Blick auf Syrien gesagt: «Wenn man in diesem Krieg überleben will, zieht man am besten eine Uniform an.» Tatsächlich kamen im Syrien-Krieg nur wenige Kombattanten ums Leben, dafür umso mehr Zivilisten. Der Ukraine-Krieg markiert eine Trendwende. Das ist eindeutig.

Interessant. Das wird in der Öffentlichkeit kaum gespiegelt.

Ja, diesen Eindruck habe ich auch.

Stattdessen ist viel von angeblichen Gräueltaten zu lesen. Können Sie dazu etwas sagen? Haben Sie Erkenntnisse, dass es in diesem Krieg zu mehr Verletzungen des humanitären Völkerrechts kommt als in vergleichbaren Konflikten?

Wenn wir uns rein mit dem humanitären Völkerrecht beschäftigen – also mit der Frage, wie der Krieg geführt wird und ob die Normen der Genfer Konventionen eingehalten werden –, dann stellen wir fest: Ja, es gibt Verstösse. Aber: Solche Verstösse gibt es in jedem Krieg. Wie schwer sie in der Ukraine sind und wer im jeweiligen Fall dafür verantwortlich ist, dazu will ich nichts sagen. Wenn wir einen Verstoss gegen das humanitäre Völkerrecht feststellen, unterrichten wir die verantwortliche Partei in einem vertraulichen Bericht darüber. Wir sind überzeugt, dass wir auf diesem Weg eher zur Verbesserung der Lage beitragen können als durch öffentliche Schuldzuweisungen.

Wie gehen Sie bei so heiklen Gesprächen vor?

Mein Standardsatz stammt von Gotthelf: «Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland.» Ich sage den Kriegskommandanten: «Ich möchte nicht mit euch diskutieren, ob die anderen etwas falsch gemacht haben. Ich möchte mit euch diskutieren, ob ihr etwas falsch gemacht habt. Unser aller Ziel muss sein, Verletzungen des humanitären Völkerrechts künftig zu verhindern. Und seid versichert, der Gegenseite sage ich dasselbe.»

Sie schildern das, als wäre es ein Gespräch mit einem renitenten Mitarbeiter, unangenehm, aber doch alltäglich. Dabei müssen Sie als IKRK-Präsident auch einem Schlächter die Hand schütteln, um einem Gefangenen zu helfen. Wie sind Sie damit zurechtgekommen?

Man muss pragmatisch bleiben, andere Ansichten akzeptieren, auch extreme.

In einer Welt des pandemischen Moralismus wird ein solches Vorgehen misstrauisch beäugt. Schnell heisst es: Das Rote Kreuz unterwandert die Bekämpfung und Ächtung jeder Art von Krieg, indem es die Kriegführung humanisiert. Was antworten Sie darauf?

Dieser Vorwurf ist so alt wie das Rote Kreuz selber. Alle Präsidenten des IKRK waren damit konfrontiert. Schon Florence Nightingale hat Henry Dunant vorgeworfen, er habe den Krieg mit der Gründung des IKRK humanisiert. Dunants Antwort lautete sinngemäss: «Nein, wenn wir versuchen, den Krieg ein paar einfachen Regeln zu unterwerfen und zu humanisieren, machen wir einen ersten Schritt hin zum Frieden. Versöhnung geschieht, wenn wir Kriegsparteien dazu bringen, ihre Konflikte im humanitären Sinne zu lösen.»

Wie nehmen Sie die Debatte heute wahr?

Ich beobachte rund um den Ukraine-Krieg eine notorische Vermischung von ius ad bellum- und ius in bello-Argumenten. Als humanitäre Akteure beschäftigen wir uns nicht mit den Gründen eines Krieges. Es ist nicht unser Auftrag, nach dessen Ursachen zu suchen, dessen Verantwortliche zu benennen. Das humanitäre Völkerrecht beschäftigt sich mit den Normen im Krieg. Und da gilt es festzuhalten: Nicht jeder Tote in der Ukraine ist das Ergebnis einer Verletzung des humanitären Völkerrechts. Als neutraler Intermediär müssen wir da genau sein, sonst gefährden wir unsere Glaubwürdigkeit.

Angesichts des Bösen könne man nicht neutral sein, entgegnen Neutralitätskritiker. Sie sind promovierter Historiker. Was halten Sie von diesem Argument?

Ich operiere ungern mit Gut-Böse-Gegensätzen. Je genauer man über eine Sache Bescheid weiss, desto schwieriger wird es, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Es gibt eine feine Linie zwischen Verstehen und Entschuldigen. Verstehen ist wichtig, da bewegen wir uns im Bereich der Hermeneutik. Auf diesem Feld kann man auch versuchen, Einfluss zu nehmen. Ich kann nicht zu einem kriegführenden Oberbefehlshaber oder Verteidigungsminister gehen, um ihn zu beschimpfen. Man muss Worte finden, die es ihm erlauben, etwas zu verstehen, etwas zu verändern. Wenn man hingegen in das manichäische Schwarz-Weiss-Denken einsteigt, findet man nur schwer wieder hinaus.

Heisst das, Sie haben in Ihrer Arbeit dem Bösen nie ins Gesicht geblickt?

Ich glaube nicht. Aber das liegt vielleicht auch an mir, am Betrachter. Wenn man sich stark an Personen orientiert – sie als entscheidende Treiber geschichtlicher Entwicklungen identifiziert –, neigt man wohl eher dazu, das Böse zu erkennen. Sobald man aber Strukturen in seine Betrachtung einbezieht, wird es schwieriger, in solchen Kategorien der Eindeutigkeit zu denken. Allenfalls entpersonalisiert man dafür zu sehr.

Die Kritiker der Neutralität halten Ihnen genau das vor: dass Sie die Wolfsnatur des Menschen unterschätzen. Es gebe einen Typus Politiker, dessen Landhunger unersättlich sei, den man nur bekämpfen könne.

Dieses Argument folgt einer Extremlogik der politischen Theorie, einer Logik der politischen Radikalität. Ich halte sie für unverantwortlich. Kriege sind eine Tatsache, sind es immer gewesen, schon lange vor der Gründung des IKRK. Unser Auftrag ist es, in Kriegen einen humanitären Schutzraum zu gewährleisten. Das können wir nur tun, wenn wir neutral sind und von allen Kriegsparteien anerkannt werden. Ich habe noch nie jemanden erlebt, der uns die Neutralität vorwarf, nachdem wir ihm das Leben gerettet hatten. Kriege werden nicht durch Zuschreibungen wie «gut» und «böse» beendet, sondern durch konkrete Versöhnungs- und Vermittlungsarbeit, etwa durch einen neutralen Intermediär. Ohne es überbewerten zu wollen: Das IKRK hat immerhin vier Mal den Friedensnobelpreis erhalten. Ganz falsch kann unser Ansatz nicht sein.

Hassaké, Al-Hol Flüchtlingslager, Syrien. Besuch des IKRK
Präsidenten Peter Maurer, 12. Mai 2022. (Bilder IKRK, S.N.)
Der Schweizer Diplomat Paul Widmer schrieb über das irritierende Moment der Neutralität: «In Kriegszeiten gemahnt sie durch das Abseitsstehen an den Frieden, und im Frieden erinnert sie leise an die Möglichkeit eines Kriegs.» Solche differenzierten Sichtweisen sind heute aus der Öffentlichkeit praktisch verschwunden. Wer neutral ist, macht sich verdächtig, den Aggressor zu unterstützen. Auch die Schweiz sieht sich mit diesem Vorwurf konfrontiert. Welche Bedeutung hat die Schweizer Neutralität für die Arbeit des IKRK?

Lange Zeit wurde das IKRK als Teil der offiziellen Schweiz wahrgenommen. Ob sich ein Bundesrat oder ein IKRK-Präsident über die Neutralität äusserte, lief für die Öffentlichkeit fast auf dasselbe hinaus. Meinen beiden Vorgängern Cornelio Sommaruga und Jakob Kellenberger ist es gelungen, eine eigenständige Neutralität des IKRK zu etablieren. Das ist ihr historisches Verdienst.

Warum ist das so wichtig?

Weil die Nähe des IKRK zur Schweiz oft zu Verwirrung geführt hat. Man berief sich auf das IKRK, wenn man die Schweizer Politik meinte und umgekehrt. Das ist heute kaum mehr der Fall. Das erleichtert uns die Arbeit. Allerdings hat das IKRK nach wie vor seinen Sitz in der Schweiz, die auch Depositarstaat der Genfer Konventionen bleibt. Es gibt historisch reiche Verbindungen. So gesehen nützt es dem IKRK, wenn die Schweiz ihre Neutralität einigermassen konsistent auslegt.

Russlands Aussenminister hat die Schweiz öffentlich aufgefordert, zur Neutralität zurückzukehren. Offensichtlich erkennt Russland die Schweiz nicht mehr als neutral an. Ist das ein Problem für das IKRK?

Das mag hier und dort ein Thema sein, beeinträchtigt unsere Arbeit aber nicht. Wir konnten bisher allen Kriegsparteien erklären, dass wir unabhängig sind und von einem allfälligen Bedeutungswandel der Schweizer Neutralität unberührt bleiben.

Bis 1993 waren nur Schweizer für das IKRK im Einsatz. Heute stammen 35 Prozent der Mitarbeiter aus anderen Ländern. Wie hat sich das IKRK dadurch verändert?

Wir haben 22 000 Personen aus über 130 Ländern in unserer Belegschaft. Alle oder sicher zumindest fast alle haben unsere Grundprinzipien Neutralität, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit verinnerlicht. Das IKRK hat eine starke Betriebskultur. Das erfüllt mich mit Freude, Stolz. In vielen Ländern haben wir lokale Mitarbeiter, die vom Krieg familiär betroffen sind, ihr Herz also berechtigterweise an die eine oder andere Kriegspartei vergeben könnten. Trotzdem leisten sie humanitäre Arbeit im Feld.

Früher galt der Schweizer Pass als Garantie für Neutralität. Heute ist es vielleicht eher der IKRK-Arbeitsvertrag. An der jüngsten Delegiertenversammlung wurde nochmals per Resolution festgehalten: Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit bleiben unverrückbare Prinzipien der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung. Auch die russischen und ukrainischen Ländergesellschaften unterstützten diese Resolution.

Das IKRK hat stets diskret gearbeitet und nicht einmal Nazideutschland mit seinen Vernichtungslagern öffentlich angeklagt. Erst Ihr Vorgänger Jakob Kellenberger ist von diesem Prinzip abgerückt. Er kritisierte die USA wegen Bombardierungen von Zivilisten und des mangelnden Zugangs zu Kriegsgefangenen im Irak oder in Guantánamo. Wie stehen Sie zu öffentlichen Aktionen?

Das Ziel des IKRK muss immer sein, einen Fortschritt für die Betroffenen im Krieg zu erzielen. Das ist im vertraulichen Gespräch mit den Kriegsparteien meist eher möglich als mit öffentlichen Anklagen. Es kann Ausnahmen geben. Nehmen wir die Vernichtungslager der Nazis. Wenn man privilegierte Informationen über so schreckliche Verbrechen hat, ist es besser, an die Öffentlichkeit zu treten. Das ist heute Konsens im IKRK. Das Schweigen damals war ein Fehler. Ob Öffentlichkeit zu mehr Schutz für Betroffene führt oder Betroffene im Gegenteil stärker gefährdet, wird von Fall zu Fall entschieden. Das gehört zu den schwierigsten Aufgaben eines Präsidenten.

Stimmt der Eindruck, dass Sie eher der zurückhaltende Typ sind?

Ja, das stimmt wohl. Wenn ich auch nur eine minimale Chance sehe, über Vertraulichkeit einen Schritt weiterzukommen, dann wähle ich diesen Weg.

Andere in Ihrer Position wären versucht, den Erzengel in sich zu entdecken und in den Kampf gegen den Teufel zu ziehen.

Der Weg, den ich wählte, entspricht meinem Rechtsverständnis. Ich glaube an Recht durch Einsicht, nicht an Recht durch Zwang. Und Einsicht ist im vertraulichen Gespräch einfacher zu erreichen als mit öffentlichen Ermahnungen. Ich stelle allerdings fest: Das IKRK ist praktisch die einzige Organisation, die diese Hypothese noch aufrechterhält. Recht wird meist nur noch in der Perspektive seiner möglichen Verletzung und seiner notwendigen Ahndung durch höhere Instanzen gesehen. Das halte ich für falsch.

Dann gibt es noch eine zweite Überlegung: Das IKRK wird oft aufgefordert, endlich etwas zu sagen. Ich bin erstaunt, wie viele Leute glauben, es sei etwas erreicht, wenn man etwas sagt. Was mich interessiert, sind konkrete Verbesserungen der Lebensbedingungen von Menschen in Kriegsgebieten.

Muss man als IKRK-Präsident ein unerschütterlicher Optimist sein? Jemand, der unter allen Umständen an das Gute im Menschen glaubt?

Ob man das sein muss, weiss ich nicht. Ich persönlich habe immer eher das Positive gesucht und versucht anzusprechen. Ich bin kein Mensch, der über das Schlimme jammert. Das ist nicht meine Art. Es ist letztlich unsere Aufgabe, immer neue Mittel und Wege aufzuspüren, die das Leben einfacher machen.

Haben Sie darum noch Völkerrecht studiert? Die Historiker betrachten die Welt. Die Juristen verändern sie.

Das ist schon so. Das Völkerrecht, vor allem das humanitäre Völkerrecht, ist der Versuch, dem Recht über Konsens zum Durchbruch zu verhelfen. Es geht um freiwillige Übereinstimmung aus Einsicht in die Vernünftigkeit.

Leider funktioniert das nicht so richtig, sonst gäbe es ja keine Kriege mehr. Oder sehen Sie einen allgemeinen Fortschritt zum Frieden?

Es gibt in weiten Teilen der Welt eine Verrechtlichung, mehr Berechenbarkeit. Auf der anderen Seite haben wir in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren viele unregulierte Konflikte erlebt. Ob es einen allgemeinen Fortschritt gibt? Positiv formuliert: Noch nie waren so vielen Menschen gesund und gut ausgebildet. Die Kehrseite ist: Für die Ärmsten der Welt geht die Gleichung nicht auf. Und wir reden hier von einer bis zwei Milliarden Menschen.

Herr Maurer, Sie treten per Ende September als Präsident des IKRK zurück. Damit endet Ihre lange, ausserordentlich erfolgreiche Karriere in der Welt der Diplomatie. Sie waren, bevor Sie Ihr heutiges Amt antraten, Staatssekretär im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten. Davor hatten Sie die Schweiz bei der Uno vertreten. Auf den Punkt gebracht: Was haben Sie als Diplomat fürs Leben gelernt?

Die Fähigkeit, in Verhandlungen einen gemeinsamen Landepunkt zu identifizieren. Es gibt unterschiedliche Stile und Erlebnisse. Alles ist Theater, aber manchmal spielt man Komödie, manchmal Melodrama. Erstens lernte ich, die eigenen Interessen zu erkennen. Zweitens lernte ich, die Interessen des anderen zu erkennen. Drittens ist Diplomatie ein Handwerk, aber auch eine Kunst, die Kunst des Möglichen. Dieser künstlerische, der kreative Aspekt fasziniert mich am meisten.

Was haben Sie durch Ihre Arbeit in den Kriegsgebieten dieser Welt gelernt?

Ich war immer beeindruckt von der Widerstandskraft, der Leidensfähigkeit und der Anpassungsgeschwindigkeit von Menschen und Gesellschaften unter schwierigsten, ja eigentlich unmenschlichen Bedingungen. Als man mir nach einer Rückkehr aus Syrien ein Mikrofon hinstreckte und mich fragte, wie es sich anfühle, hier am Flughafen Zürich anzukommen, sagte ich: «Das ist ein Skandal.» Damit meinte ich das Geschleckte, das Intakte, die Luxusprobleme, mit denen man sich hier herumschlägt, während Menschen in anderen Ländern um ihr nacktes Leben kämpfen.

Das klingt nun doch ziemlich emotional. Sie wirken sonst ausgesprochen nüchtern, wenn Sie über Ihre Arbeit sprechen. Dabei haben Sie in menschliche Abgründe gesehen, waren mit Gewalt, Folter und Tod konfrontiert. Wie gingen Sie damit um?

Diese Bilder des Schreckens, die Sie ansprechen, perlten an mir nicht ab wie ein Regentropfen an einem Ölanzug. Das wäre ein falscher Eindruck. Die Kunst ist es, sich davon nicht niederdrücken zu lassen, sondern daraus Motivation für die eigene Arbeit zu ziehen. Was ich an mir beobachtete: Die direkte Konfrontation mit dem Schrecken war für mich meist weniger schlimm als die mediale Konfrontation damit. Die mediale Vermittlung ist fast immer eindimensional auf das Elend gerichtet.

Wenn ich ein schreckliches Gefängnis oder ein schlechtausgerüstetes Spital besuchte, traf ich dort auch auf Leute, die lachten und miteinander assen. Untersuchungen zum Holocaust zeigen, dass die zweite Generation der Betroffenen oft schwerere Traumata hatte als die erste Generation. Die Erzählungen wirkten stärker als die Erlebnisse. Gerade Journalisten sollten sich dessen bewusst sein: Zuspitzungen können Traumata verstetigen und verschlimmern.

Oder auch eine falsche Politik verstetigen und verschlimmern. Wir haben das Gespräch mit den Hiobsbotschaften der Gegenwart begonnen. Ich möchte es gern mit einer Botschaft der Zuversicht beschliessen: Wie organisiert man in der Ukraine den Frieden?

Es gibt das bekannte amerikanische Sprichwort: «Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.» Auf die Gefahr hin, dass Sie mich als den Mann mit dem Hammer sehen, gebe ich Ihnen die klassische Antwort des Diplomaten: Es ist wichtig, miteinander im Gespräch zu bleiben. Wir wissen von Hunderten anderen Konflikten auf der Welt: Irgendwann kommt der Augenblick, in dem man wieder miteinander reden muss. Und dieser Augenblick ist schwierig zu gestalten, wenn er aus dem Nichts kommen soll. Deshalb braucht es, was man gemeinhin als «Track II» bezeichnet, inoffizielle Gesprächskanäle, die es den Kriegsparteien ermöglichen, die Gegenseite besser zu verstehen. Diplomatie muss am aktivsten sein, wenn die Lage am hoffnungslosesten scheint. Das IKRK leistet hier unverzichtbare Dienste.

*  Peter Maurer wurde 1956 in Thun, Schweiz, geboren. Er studierte Geschichte und internationales Recht in Bern, wo er auch einen Doktortitel erwarb. 1987 trat er in den Schweizer diplomatischen Dienst ein und hatte verschiedene Positionen in Bern und Pretoria inne, bevor er 1996 als stellvertretender ständiger Beobachter der Mission der Schweiz bei den Vereinten Nationen nach New York versetzt wurde. 2000 wurde er zum Botschafter und Leiter der Abteilung Menschliche Sicherheit in der Politischen Direktion des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten ernannt. Von 2004 bis 2010 war er Chef der Schweizer Ständigen Mission bei den Vereinten Nationen und anschliessend als Staatssekretär im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten. Er war ab dem 1. Juli 2012 bis zu seinem Rücktritt Ende September 2022 Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK).

Quelle: «Die Weltwoche» Nr. 40, 6. Oktober 2022
(Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags)

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