Zur schweizerischen Neutralität

Die Neutralität von Tag zu Tag

Olivier Delacrétaz (Bild zvg)

von Olivier Delacrétaz,* Lausanne

(7. März 2023) Am 19. März 2021 veröffentlicht der Bund den Bericht «China-Strategie 2021–2024». Dieser Bericht kritisiert Chinas demokratische Unzulänglichkeiten, insbesondere die Verfolgung seiner ethnischen Minderheiten. Bundesrat Ignazio Cassis droht damit, eine «robustere» Haltung einzunehmen, wenn sich China nicht besser verhält. Diese etwas lächerliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas entspricht gewiss nicht dem Handeln eines neutralen Staates.

Der Bericht offenbart auch unsere Unfähigkeit, uns vorzustellen, dass es in der Welt «Werte» gibt, die sich von denen des modernen Westens unterscheiden – Unterschiede, die uns eigentlich nur bestärken können, neutral zu sein.

Am 28. Februar 2022 schliesst sich die Schweiz den von der Europäischen Union verabschiedeten Sanktionen gegen Russland an. Nun kann die Schweiz als souveräner Staat zwar legitimerweise gegenüber einem fremden Staat jede Massnahme ergreifen, die ihrem wohlverstandenen Interesse entspricht, doch wenn sie sich ausdrücklich einem Massnahmenpaket anschliesst, das von einer Allianz von Drittstaaten beschlossen wurde, überschreitet sie die Grenzen der Neutralität. Die Bundesjuristen mögen wohl das Gegenteil beweisen, aber es geht hier nicht in erster Linie um Recht. Die Schweizer Neutralität ist nichts wert, wenn sie nicht auch in den Köpfen der anderen Regierungen existiert.

Der Bundesrat hat jedoch nicht in allem nachgegeben. So dürfen wir nach Schweizer Recht weder direkt noch über einen Drittstaat Militärmaterial an Staaten verkaufen, die sich im Krieg befinden. Wir haben es bisher abgelehnt, dass Deutschland, Dänemark und Spanien Schweizer Munition an die Ukraine liefern, trotz des moralischen Drucks, der von den betroffenen Staaten, der Ukraine, der Nato, den Mitgliedern der Europäischen Union und der internationalen Presse ausgeübt wurde. Umgekehrt hat Deutschland seinen Widerstand aufgegeben und verbietet Polen nicht mehr, Leopard-Panzer an Herrn Zelensky zu liefern.

Am 28. Januar 2022 fordert der Leitartikler der Waadtländer Zeitung La Nation vom Bundesrat, auf seine Kandidatur für den UN-Sicherheitsrat zu verzichten. Er tut dies zugunsten der langfristigen Anforderungen an die Neutralität, aber auch im Namen der Freiheit, die uns eine strikte Neutralität in unseren besonderen Beziehungen zu den Staaten der Welt ermöglicht. Der Bundesrat, der sich seit Jahren bemüht, einen Fuss in die Tür des Allerheiligsten zu setzen, bleibt stur. Und am 9. Juni 2022 wählt die UNO-Generalversammlung die Schweiz für zwei Jahre in den UNO-Sicherheitsrat.

Am 15. Mai 2022 beantragen zwei neutrale Staaten, Schweden und Finnland, die Aufnahme in die Nordatlantikvertragsorganisation (Nato). Einige sehen darin eine Ankündigung des baldigen Verschwindens der traditionellen Neutralität. Die schweizerische Neutralität unterscheidet sich jedoch von derjenigen dieser beiden Staaten. Sie hat eine innenpolitische Funktion, die darin besteht, die Kantone daran zu hindern, sich in aussenpolitischen Fragen zu entzweien. Die Neutralität ist für die Schweiz überlebenswichtiger als für Schweden oder Finnland.

Ein weiterer Druck auf die Neutralität besteht darin, dass einige vorschlagen, russische Gelder, die in der Schweiz eingefroren sind, zu verwenden, um beim Wiederaufbau der Ukraine zu helfen. Am 4. Juli 2022 erklärt Herr Cassis auf dem Gipfeltreffen in Lugano zu diesem Wiederaufbau, dass dies nicht in Frage komme, da «das Recht auf Privateigentum ein Grundrecht ist». Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar ist er weniger kategorisch: «Derzeit fehlt in der Schweiz zwar der rechtliche Rahmen, um eingefrorene Gelder zu konfiszieren. Aber dieser Rahmen kann geändert werden.» Das Gesetz zu ändern, um dem Druck von aussen nachzugeben und ein «Grundrecht» zu umgehen, ist ein Schritt in die falsche Richtung.

Am 12. Januar 2023 hält Bundespräsident Cassis in New York seine Rede als neues Mitglied des Sicherheitsrats. Er ruft die ganze Welt zu Frieden, Sicherheit, Zusammenarbeit und zur Achtung der Grundrechte und Verfahrensweisen auf. Er verurteilt die schweren Verstösse gegen das Völkerrecht, das stärker durchgesetzt werden müsse, und erinnert daran, dass die Grundsätze der Charta «im Fall der russischen militärischen Aggression gegen die Ukraine in eklatanter Weise verletzt worden sind». Noch mehr Angepasstheit ist kaum denkbar! Am Abend ist Herr Cassis im Westschweizer Fernsehen zu sehen. Philippe Revaz fragt ihn: «Der russische Botschafter sass direkt neben Ihnen. Wie hat er auf Ihre Rede reagiert?» Herr Cassis antwortet, dieser sei «daran gewöhnt», was bedeutet, dass seine Rede kein anderes Motiv verfolgte, als unsere nahtlose Einbindung in die UNO zu bekräftigen.

Wir können Herrn Cassis die Plattitüden seiner Rede nicht verübeln. Auch wenn er zehnmal intelligenter und energischer gewesen wäre, hätte er nichts anderes sagen können: Der UNO-Rahmen erzwingt fast eine angepasste Sprache.

Der globale Blickwinkel der UNO lässt kaum Raum für eine Politik, die als langfristige Führung einer historischen und territorialen Gemeinschaft verstanden wird. Der Geist der UNO sterilisiert den Kleinstaat politisch, indem er ihn zwingt, eine Perspektive einzunehmen, die er nicht verstehen kann. Der einzige originale politische Diskurs der Schweiz wäre derjenige der eigenen Neutralität. Sie kann ihn in den Vereinten Nationen nicht vorbringen, da sie sonst der Nabelschau bezichtigt würde. Was die Mächtigen betrifft, so sprechen sie wohl von den von Herrn Cassis geschätzten «Werten», gleichzeitig betreiben sie jedoch ihre eigene Politik gemäss ihren eigenen Interessen.

Am 23. Januar titelt die Westschweizer Zeitung 24 heures: « Die Schweizer Neutralität wird an drei Fronten angegriffen». Es handelt sich um die drei heiklen Fronten, an denen der Bundesrat noch Widerstand leistet: die Lieferung von Munition an die Ukraine, die Freigabe russischer Guthaben und die Beteiligung an den Sanktionen, die die EU gegen China wegen seines Verhaltens gegenüber den Uiguren verhängt hat und die die Schweiz trotz ihrer «China-Strategie» nur ungern umsetzt. Aus Gründen der Neutralität und der guten Dienste zögert sie übrigens ebenso, die EU-Sanktionen gegen den Iran umzusetzen.

In einem moralischen Krieg wird die Neutralität von den beteiligten Staaten, aber auch von einem Teil unserer Mitbürger als skandalös angesehen. Der Bundesrat muss sich dessen bewusst sein, tun, was er tun muss, und unermüdlich seine Politik einfordern und erklären. Auf Dauer ist es besser, Störenfried zu sein, als verachtet zu werden.

Ausserdem ist uns niemand dankbar, wenn wir bei der Neutralität nachgeben – weder die EU, noch die Nato, noch die Ukraine, noch die Presse: Diese Leute interessieren sich nur für das, was wir noch weiter abbauen könnten.

* Olivier Delacrétaz ist Grafiker, ehemaliger Präsident der «Ligue vaudoise» und regelmässiger Mitarbeiter der vierzehntäglich erscheinenden Waadtländer Zeitung «La Nation».

Quelle: La Nation Nr. 2219, 27. Januar 2023

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

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