Erst Handarbeit, dann «Hundarbeit»

Die Werkstätte ist im ehemaligen Schulhaus von San Carlo untergebracht.
(Bilder Yannick Andrea)

von Max Hugelshofer, Schweizer Berghilfe

(20. Juni 2022) Was haben Blindenhunde in der Schweiz, in den USA, in Australien oder in Frankreich gemeinsam? Sie tragen höchstwahrscheinlich ein Geschirr, das in Handarbeit in der Schweiz hergestellt wurde. Bis vor kurzem im Jura, jetzt in einem Bergdorf im Tessin.

Ein kleines Dorf im Valle di Peccia, zuhinterst im Maggiatal. Zehn Einwohner. Wer vormittags durch die Gassen geht, wird wahrscheinlich keinem Menschen begegnen. Die Jungen ziehen weg. Im alten Schulhaus rennen schon lange keine Kinder mehr durch die Gänge und das Gebäude stand über Jahre leer.

Doch seit ein paar Monaten scheint hier wieder Licht. Durch die erleuchteten Fenster sieht man eine helle, aufgeräumte Werkstatt, einen Holzofen, hohe Tische, viele Regale, einige Maschinen. An einer davon sitzt Alessandro Kaufmann. Sorgfältig legt er Lederstücke in eine Art Schablone aus Karton, streicht sie glatt. Er zieht einen grossen Hebel herunter, erst langsam, dann für den letzten Zentimeter rasch und mit Druck. Schnell nimmt er das Lederstück wieder heraus. Es ist nun mit einer Prägung versehen: Seriennummer, Grössenangabe. Und der Name «Swissharness».

Alessandro und Sandra Kaufmann bauen sich mit ihrer
neuen Firma eine Existenz auf

Unter dieser Marke produziert die Firma, die im Sommer hier ins ehemalige Schulhaus von San Carlo eingezogen ist und das Leben von Alessandro und seiner Frau Sandra komplett umgekrempelt hat. Wie der englische Name schon sagt, stellt sie «Harnesses» her, also Geschirre. Solche für Blindenhunde, um genau zu sein. In dieser kleinen Nische hat sie sich einen Namen gemacht und produziert für Kunden in der ganzen Welt.

Endlich nicht mehr pendeln

Alessandro stammt aus der Nähe von Lugano, ist gelernter Automechaniker und hat danach Automobiltechnik und Mechatronik studiert. Die Arbeit führte ihn ins St. Galler Rheintal, die Liebe zuhinterst ins Maggiatal. Von hier stammt Sandra. Lange Jahre verzichtete sie die Woche über auf ihren Alessandro. Als dann vor zwei Jahren das erste Kind kam, war den beiden klar, dass sich etwas ändern muss.

Wenn immer irgendwo im Tessin eine Stelle in seinem Fachbereich frei wurde, bewarb sich Alessandro darauf, aber irgendwie passte nichts. Eine eigene Firma müsste man haben, dachten sich die beiden immer wieder. Dann müsste Alessandro nicht pendeln und könnte in der Nähe von zu Hause sein Geld verdienen.

170 Arbeitsschritte stecken in einem einzigen Geschirr.
Die meisten davon erfordern viel Präzision.

Und plötzlich kam die Gelegenheit: Alessandros Vater hatte immer wieder mal beruflich mit einem Erfinder aus dem Jura zu tun, der, um seine Tüfteleien finanzieren zu können, über Jahrzehnte hinweg eine Firma für Blindenhundegeschirre mit internationaler Kundschaft aufgebaut hatte. Jetzt kam der Tüftler ins Pensionsalter und suchte eine Nachfolge für seine Firma.

Alessandro und Sandra waren sofort interessiert. Ein paar Besuche später hatten sie die Firma gekauft. «Obschon wir noch nie im Leben etwas mit einem Blindenhund zu tun gehabt oder mit Leder gearbeitet hatten», lacht Alessandro. Doch die Arbeit gefiel ihm. «Weil viele verschiedene Materialien mit unterschiedlichsten Maschinen verarbeitet werden, muss man technisch etwas draufhaben.»

Er verbrachte drei Monate im Jura – als Lehrling in der Werkstatt seines Vorgängers. Danach baute er gemeinsam mit Sandra fast ausschliesslich in Eigenleistung das alte Schulhaus zur Werkstatt um. Und dann kam die Stunde der Wahrheit.

Die Maschinen wurden teils aus dem Jura hertransportiert, teils gebraucht gekauft. Seither arbeitet Alessandro Vollzeit, Sandra zu 60 Prozent. Ganz ohne Anlaufschwierigkeiten ging es aber nicht. Die Kunden warteten auf ihre Bestellungen, aber Alessandro und Sandra waren anfangs noch ziemlich langsam.

«Meine grösste Angst war, die hohe Qualität nicht halten zu können und die langjährigen Kunden zu vergraulen.» Weil sie einander und alle Prozesse wieder und wieder kontrollierten, gerieten Alessandro und Sandra auch ab und zu aneinander. Inzwischen hat sich die Lage aber wieder entspannt und die beiden arbeiten sehr gut zusammen. Sandra: «Wir haben jetzt ja genau das, was wir wollten: mehr gemeinsame Zeit für uns und unsere Kinder.»

Die Unterstützung der Schweizer Berghilfe

Alessandro und Sandra Kaufmann haben ihr ganzes Erspartes in die Übernahme der Blindenhundegeschirr-Produktion gesteckt. Die «Schweizer Berghilfe» unterstützte sie beim Kauf von Maschinen und der Einrichtung ihrer Werkstatt.
Seit 1943 setzt sich die Stiftung «Schweizer Berghilfe» für die Menschen in den Schweizer Bergen ein. Wir unterstützen Projekte, die Arbeitsplätze und Wertschöpfung im Berggebiet schaffen. Damit wirken wir der Abwanderung entgegen und sorgen dafür, dass die Bergregionen auch in Zukunft lebendig bleiben. Die «Schweizer Berghilfe» finanziert sich ausschliesslich durch Spenden. (info@berghilfe.ch, www.berghilfe.ch)

Sandra Kaufmann arbeitet an einem für
die USA bestimmten Blindenhundegeschirr.

Energetisch ausgeklügelt

Während sie an einer speziellen Schleifmaschine die Kanten von zuvor gestanzten Lederteilen abschrägt, arbeitet Alessandro an einer Drehbank an Plastikröhrchen, die für den Griff des Gestells gebraucht werden. Auch das ist Millimeterarbeit. Und wie bei den Geschirren selbst gibt es unzählige Varianten.

Jeder Kunde – alles Blindenhundeschulen – hat seine eigene Philosophie. Die einen wollen zum Beispiel, dass beim Gehen zwischen Hund und Herrchen ein kleiner Abstand besteht, anderen ist es wiederum wichtig, dass ständig Kontakt zwischen dem Tier und dem Bein der blinden Person vorhanden ist. Also wollen alle ein etwas anderes Geschirr. Diese Flexibilität in seiner Produktion will Alessandro später zur Erweiterung seiner Produktpalette nutzen.

«Wir können alles herstellen, was Leder mit Kunststoff und Metall verbindet. Ideen habe ich schon einige.» Dass diese zusätzliche Arbeit dann nicht mehr alleine bewältigt werden kann, ist klar. Und auch gewollt: «Irgendwann möchten wir auch noch für weitere Talbewohner Stellen schaffen.»

Quelle: Berghilfe Magazin 115 «Frische Ideen» (Frühling 2022)

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