In gefährlichem Fahrwasser

Bundesbern versenkt die Schweizer Neutralität. Das Land muss wieder auf Kurs kommen

von Thomas Scherr*

Kaum bemerkt von der Öffentlichkeit hat Bundesbern das Land in eine gefährliche Nähe zu EU und Nato geführt. Seit einigen Monaten spitzt sich die aussenpolitische Lage um die Schweiz zu. Wie von Geisterhand wird das Land direkt in einen geopolitischen Konflikt grösster Ordnung hineingezogen, doch kaum jemand spricht darüber. Die Schweiz Seite an Seite mit Nato und EU in den nächsten Weltkrieg? – Wie kann das Land seine Eigenständigkeit zurückgewinnen?

Aus Bern hört man, dass unser Land seine Neutralität bewahre und sich gleichzeitig an den Massnahmen gegen Russland (Zwangsmassnahmen, Enteignung russischen Vermögens usw.) beteiligen könne. Das Neutralitätsrecht erlaube dies. Doch die Realität sieht anders aus. In Bundesbern wird leichtfertig unsere Neutralität versenkt, und es wird enorme Anstrengungen kosten, um den angerichteten Schaden auch nur einigermassen zu richten.

Vorauseilender Gehorsam

Ohne Probleme hätte der Bundesrat sich Ende Februar 2022 auf die historische Neutralität des Landes berufen können, und das ohne das Gesicht zu verlieren. Stattdessen übernahmen die Räte in Bern fraglos alle Sanktionen der EU – nicht der UNO(!).1 Schlimmer noch – devot werden Massnahmen, die noch nicht einmal in der EU selbst gelten, in vorauseilendem Gehorsam zur Anwendung gebracht.2

Dieses Abrücken von einer neutralen Position wird weltweit mit Kopfschütteln zur Kenntnis genommen. Im eigenen Land wird es verkauft als notwendige Anpassung an die politischen Verhältnisse. Die Realität ist eine andere. Die Schweiz gilt nicht mehr als neutral. Als neutraler Verhandlungsort kommt das Land inzwischen nicht mehr in Frage. So verhandelten die Ukraine und Russland im April 2022 in Istanbul – nicht aber in Genf.

Bern verspielt die Neutralität

Bundesrat Ignazio Cassis’ gemeinsam mit dem ukrainischen Präsidenten Zelensky geplanten Friedensverhandlungen in der Schweiz, zeugen von einer neutralitätspolitischen Verwirrung im EDA. Man kann über das Ausmass nur staunen. Auch für andere Staaten kommt die Schweiz nicht mehr als Verhandlungsort in Frage. Es wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte brauchen, um diesen Schaden durch eine besonnene neutrale Realpolitik wieder auszugleichen – nicht nur durch Worte!

EDA gefährdet Wirtschafts- und Finanzplatz

Mit einem vorauseilenden Vollzug von EU-Sanktionen und einer offiziellen Debatte über eine mögliche Beschlagnahmung russischer Vermögenswerte verspielt Bern ausserdem die Rolle der Schweiz als weltweit stabilen, vertrauenswürdigen Bankenplatz. Wer möchte sein Vermögen noch in Zürich oder Genf anlegen, wenn der Bundesrat jedem politischen Druck von aussen nachgibt?

Das Land wird so in der internationalen Politik zu einem Spielball. Anstatt international eigenständig Ausgleich zu suchen und die Mächte auf seine Neutralität zu verweisen, macht Bern den Eindruck, sich nur einer Macht anzudienen. Damit liefert sich das Land aus und kann nicht mehr neutral agieren. Dass eine Neutralitätspolitik nicht umsonst zu haben ist, zeigt ein Blick in die jüngste Geschichte.

Ein Blick zurück

Die Neutralität beschützte das Land durch zwei Weltkriege hindurch. Als neutraler Ort mit seinen «Guten Diensten» und dem Sitz des Internationalen Roten Kreuzes konnte unser Land selbst in schwierigsten Zeiten international helfend agieren.

Doch die Neutralität war nicht geschenkt. Die Diplomaten des Landes mussten in zum Teil haarsträubenden Verhandlungen mit Vertretern von Diktatoren, gierigen Bankiers und erpresserischen Regierungen um das nackte Überleben des Landes kämpfen. Sobald die eine Seite etwas forderte, wollte die andere es ebenso … Umzingelt vom Deutschen Reich und von Mussolinis Italien, versuchten die Unterhändler trotzdem mit den Alliierten einen Ausgleich für das Land zu finden. In diesen schwierigen Zeiten fand der Bundesrat Rückhalt in der Bevölkerung, und diese konnte sich darauf verlassen, dass die Regierung alles in ihren Kräften Stehende unternehmen würde, um die Schweiz aus den Konflikten herauszuhalten und die Versorgung des Landes zu sichern.

Mit der Wahl des Waadtländers Henri Guisan zum General am 30. August 1939 fand sich eine reife unabhängige Persönlichkeit. Er brachte es mit Weitblick und Geschick zustande, das Land über sechs Jahre aus den kriegerischen Aggressionen von Hitlers Tausendjährigem Reich herauszuhalten.

«Arglist der Zeit»

Die Erfahrungen aus den zwei Weltkriegen galten über Jahrzehnte als Richtschnur für eine eigenständige, stabile, aber kooperative Aussenpolitik. Doch die Arglist der Zeit liegt im Vergessen der eigenen Stärken. Vier Fehlentwicklungen deuten auf die gravierende und folgenschwere Weichenstellung hin, mit der die classe politique das Land in den vergangenen drei Jahrzehnten ins falsche Fahrwasser führte:

  • Die schleichende Annäherung an die EU und damit die langsame Aufgabe direkt-demokratischer Rechte.
  • Die Teilnahme an der Nato-Unterorganisation «Partnership for Peace» (PfP).
  • Das Streben nach einem Sitz im UN-Sicherheitsrat.
  • Und schliesslich die faktische Aufgabe der realen Neutralitätspolitik.

Die Folgen von Berns «Alleingang»

Ohne Korrektur werden die Folgen gravierend sein:

  • Durch die Anbindung an den EU/Nato-Block wird das Land Partei im sich abzeichnenden militärischen Konflikt zwischen der Nato und Russland mit allen möglichen kriegerischen Folgen.
  • Durch die schleichende Anbindung an die EU werden die Selbstbestimmungsrechte erheblich eingeschränkt. Nicht mehr das Volk selbst oder Bund und Kantone, sondern eine undemokratische EU-Zentrale in Brüssel wird das tägliche Leben in der Schweiz über ihre Verordnungen bestimmen.
  • Der Einsitz im UN-Sicherheitsrat war nicht umsonst zu haben. Die classe politique hat und wird sich bei ihren «Gönnern» erkenntlich zeigen müssen.

Noch gelten die Volksrechte und noch ist das Land unabhängig. Mit mehreren Volksinitiativen haben die Stimmbürger die Möglichkeit, Einfluss auf eine bessere Entwicklung auszuüben (Neutralitätsinitiative,3 Souveränitätsinitiative4 usw.).

Der unabhängige und neutrale Kleinstaat Schweiz kann noch immer ein Schlüssel zu einer friedlicheren Entwicklung für Europa werden, wenn er zu sich selbst zurückfindet.

* Thomas Scherr arbeitet als unabhängiger Autor für den «Schweizer Standpunkt».

1 Alfred de Zayas, «Die einzigen legalen Sanktionen sind diejenigen, die vom Sicherheitsrat verhängt werden»

2 Carl Baudenbacher, «Schweiz und EU haben sich mit ihrer Sanktionspolitik gegen Russland verrannt.»

3 Neutralitätsinitiative, https://neutralitaet-ja.ch/

4 Souveränitätsinitiative, https://grundrechte-ja.ch/

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