Zur schweizerischen Neutralität

«Kooperation» vor «Neutralität» – Die neue Sicherheitsdoktrin der Schweiz

Pascal Lottaz. (Bild zvg)

von Dr. Pascal Lottaz,* Japan

(22. August 2023) Obwohl der Schweizer Bundesrat die Idee von Aussenminister Ignazio Cassis für eine «kooperative Neutralität» abgelehnt hat, kehrt die kürzlich verabschiedete neue Sicherheitsdoktrin der Schweiz Teile des traditionellen Neutralitätskonzepts des Landes um. Die Vorbereitungen für eine kollektive Verteidigung mit der Nato und der EU sind im Gange.

Ein lang erwarteter Bericht

Am 7. September 2022 lud der Bundesrat (die siebenköpfige Schweizer Landesregierung) die Presse ein, um der Öffentlichkeit den lang erwarteten «Zusatzberichts»1 zum «Sicherheitspolitischen Bericht 2021 über die Folgen des Krieges in der Ukraine» vorzustellen.

Es wurde allgemein angenommen, dass der Zusatzbericht die Schweizer Neutralität neu definieren und die bisherige Auslegung von 1993 ersetzen würde. Die Journalisten waren enttäuscht, als sich herausstellte, dass eine Neudefinition der Schweizer Neutralität nicht auf der Traktandenliste stand und der Bundesrat das Konzept der «kooperativen Neutralität», das Aussenminister Ignazio Cassis seit Anfang Jahr von den Dächern Berns aus propagiert hatte, nicht einmal aufgegriffen hatte. Die «Neue Zürcher Zeitung» und andere Medien interpretierten die Auslassung als schweren Rückschlag für Cassis.2

Es ist jedoch festzuhalten, dass der Zusatzbericht die Sicherheitsstrategie der Schweiz wesentlich erweitert, insbesondere in Verbindung mit zwei externen Berichten (einer Studie der ETH Zürich3 und einem Expertenbericht4 des ehemaligen Botschafters Jean-Jacques de Dardel). Die drei Dokumente bilden zusammen die Säulen einer neuen schweizerischen Sicherheitsdoktrin, die trotz eines Bekenntnisses zur Neutralität wesentlich von den früheren Grundsätzen abweicht.

«Kooperation» statt «Neutralität»

Trotz der Ablehnung der «kooperativen Neutralität» nennt der Zusatzbericht die «Kooperation» als neues Kernkonzept der schweizerischen Sicherheitsstrategie. Im 37seitigen Bericht wird das Wort 52 Mal verwendet («Neutralität» kommt dagegen nur 29 Mal vor). Inhaltlich wird klar gesagt, mit wem die Schweiz zusammenarbeiten soll und wie sie Sicherheit definiert: Die Nato und die EU sind die einzigen Partner, die genannt werden, und die Sicherheit wird nur als militärische Frage unter dem Blickwinkel des Zivilschutzes dargestellt.

Weder wird die diplomatische Zusammenarbeit in multilateralen Foren erörtert (die OSZE und die UNO werden erwähnt, aber nur, weil sie nicht in der Lage waren, eine Lösung für den Ukraine-Krieg zu finden), noch gibt es Hinweise auf eine einseitige Verbesserung der Beziehungen der Schweiz zu Russland, China oder anderen nicht-westlichen Drittstaaten, um externe Bedrohungen zu reduzieren.

Im Gegenteil, der Bundesrat erklärt unmissverständlich, dass sich die Schweiz zur «westlichen Wertegemeinschaft»5 zählt und nur die Institutionen des Westens als sicherheitspolitische Partner in Frage kommen. In diesem Zusammenhang kommt der Nato eine besondere Rolle zu, da sie laut Bundesrat auf absehbare Zeit «das Rückgrat der gemeinsamen Verteidigung»6 in Europa bilden wird und deshalb als wichtigster Sicherheitspartner zu betrachten ist.

Der ETH-Bericht empfiehlt insbesondere, «die Gefässe der internationalen Zusammenarbeit (Nato, EU, Bilaterale) nicht gegeneinander auszuspielen, sondern komplementär zu nutzen».7 Dementsprechend reduzieren sich die Handlungsempfehlungen des Bundesrates auf eine einfache Formel: mehr sicherheitspolitische Zusammenarbeit auf ministerieller und technischer Ebene mit der EU und der Nato, vor allem aber die Förderung der «Interoperabilität», d. h. die Erhöhung der Fähigkeit der Schweiz, ihre militärischen Mittel in die Strukturen von EU und Nato zu integrieren. Wörtlich heisst es im Zusatzbericht:

«Wenn die Schweiz eine neue Stufe der Kooperation mit der Nato anstrebt, könnte das Ambitionslevel erhöht werden, indem sich die Schweizer Armee an Übungen der Nato im gesamten Spektrum beteiligen würde, […]».8 Die mögliche Kritik, dass so viele «Ambitionen» die Schweizer Neutralität gefährden könnten, entschärft der Bericht vorsorglich mit dem Hinweis, dass «Kooperationsmöglichkeiten» «unter Einhaltung der Neutralität»9 genutzt werden sollten.

Kooperation ohne verbindliche Verpflichtungen

Der Bericht lehnt einen Nato-Beitritt ab, sieht aber eine Aufrüstung von bis zu 1% des BIP bis 2030 vor. Weiter heisst es, dass «die militärische Zusammenarbeit im Ernstfall […] so weit wie möglich vorbereitet und mit den Partnern geübt werden, ohne dabei Verpflichtungen einzugehen oder Sachzwänge zu schaffen»,10 wobei der Bericht unter «Sachzwängen» eine automatische Verpflichtung zur Verteidigung anderer Staaten versteht (wie es der Nato-Vertrag in Artikel 5 verlangt).

Der Gedanke, der hinter dieser Logik steht, ist, dass bei einem hypothetischen Angriff auf die Schweiz die Neutralitätsverpflichtung wegfallen würde und die Schweiz sich sofort im Bündnis mit anderen Staaten verteidigen dürfe. Dies ist der Kern der neuen Schweizer Sicherheitsdoktrin, oder wie es im Zusatzbericht heisst:

«Die verteidigungspolitische Strategie der Schweiz zielt darauf ab, die Fähigkeit zu haben, sich soweit wie möglich selbständig zu schützen und zu verteidigen, gleichzeitig aber die Möglichkeit zu haben, sich bei Bedarf im Verbund mit anderen Staaten zu verteidigen.»11

Mit anderen Worten: Der Bericht empfiehlt der Schweiz, bereits jetzt kollektive Verteidigung zu praktizieren, auch wenn sie noch nicht bereit ist, Sicherheit auf Gegenseitigkeit zu gewähren. Das neue schweizerische Konzept der Zusammenarbeit ist nicht nur einseitig (pro-westlich), sondern auch kleinlich. Man könnte es als «Nato-Beitritt light» bezeichnen. Es bleibt abzuwarten, wie die Nato-Partner die Idee der Schweiz wahrnehmen werden.

Abkehr von bisherigen Grundsätzen

Das neue Sicherheitskonzept des Bundesrates ist eine teilweise Abkehr von früheren Strategien. Was General Guisan vor dem Zweiten Weltkrieg heimlich und ohne Wissen des Gesamtbundesrates praktizierte – die Zusammenarbeit mit Frankreich und die kollektive Verteidigung im Falle eines deutschen Angriffs auf Schweizer Boden –, ist heute Staatsdoktrin. Selbst im Kalten Krieg wäre eine offizielle Anbindung an die Verteidigungsstrukturen eines Militärbündnisses nicht denkbar gewesen. So stellte der «Vater» der Schweizer Neutralität im Kalten Krieg, Rudolf Bindschedler, Rechtsberater für Völkerrecht im Politischen Departement (1961–1980), 1954 in einem viel beachteten Bericht fest, dass

«bei der Teilnahme an internationalen Konferenzen und internationalen Organisationen ist zu unterscheiden, ob diese einen vorwiegend politischen oder vorwiegend wirtschaftlichen, kulturellen oder technischen Aspekt aufweisen. Handelt es sich um Konferenzen oder Organisationen politischen Charakters, so kommt eine Beteiligung höchstens in Frage, wenn sie eine gewisse Universalität aufweisen. Es müssen die hauptsächlichen Vertreter der in Frage kommenden politischen Gruppierungen daran teilnehmen, insbesondere beide Parteien eines allfälligen Konflikts. Es gilt auch hier für die Schweiz, eine Parteinahme zu vermeiden.»

Der Bericht wurde vom Bundesrat nie offiziell zur staatlichen Sicherheitsstrategie erhoben, aber inoffiziell als «Bindschedler-Doktrin»12 bekannt und prägte eine ganze Generation von Schweizer Aussenpolitikern. Sie steht in krassem Gegensatz zur ETH-Analyse, die nun im Jahr 2022 empfiehlt: «Will die Schweiz im räumlich erweiterten Verteidigungsfall über die Option einer ‹Abschreckung und Abwehr im Verbund› verfügen, dann sollte die Befähigung der Armee zur Zusammenarbeit über das gesamte Fähigkeitsspektrum hinweg angestrebt werden.»13

Grenzen der glaubwürdigen Neutralität

Die «immerwährende Neutralität» der Schweiz ist ein staatstheoretisches Prinzip, das in Kriegs- und Friedenszeiten aussenpolitisch wirksam ist, aber als Sicherheitsstrategie ist die Neutralität immer und überall eine Reaktion auf einen Konflikt zwischen Drittparteien. Die Art eines Konflikts bestimmt die Art der zu praktizierenden Neutralität.

Die Sicherheitslogik der Neutralität zielt immer darauf ab, einen neutralen Akteur nicht zu einer Bedrohung für eine der beiden Seiten werden zu lassen, um sich nicht unweigerlich selbst zum Ziel eines Angriffs zu machen. Wer Partei ergreift und seine Sicherheitsmittel einer Seite zur Verfügung stellt, darf sich nicht wundern, wenn die andere Seite dies als Bedrohung wahrnimmt, die es im Ernstfall zu beseitigen gilt. Dies ist Teil des so genannten Sicherheitsdilemmas (das Abschreckungspotenzial der einen Seite wird zur Bedrohung für die andere Seite).

Darüber hinaus sind in der gegenwärtigen prekären Konfliktsituation in Europa zwei Dimensionen des Konflikts zu unterscheiden. Auf der einen Seite tobt ein «heisser» Krieg zwischen Russland und der Ukraine, mit vielen toten Soldaten, Zivilisten und Millionen von Flüchtlingen. Zum anderen findet ein neuer «kalter» Krieg statt, in dem sich Russland (und zunehmend auch China) auf der einen Seite und der kollektive Westen in Form der Nato und einiger anderer Länder auf der anderen Seite gegenüberstehen.

Der kollektive Westen verhängt Sanktionen gegen Russland und leistet der Ukraine massive militärische Unterstützung in noch nie dagewesenem Ausmass, einschliesslich Waffen und Ausbildung für ukrainisches Militärpersonal. Russland verhängt Gegensanktionen und verhindert, dass lebenswichtige Güter wie sein Öl nach Westeuropa gelangen.

In dieser Konstellation reduziert der Zusatzbericht die Schweizer Neutralität auf ihren völkerrechtlichen Kern, der nur den «heissen» Krieg betrifft. In diesem Bereich verkündet der Bundesrat, die Schweiz wolle sich an das Neutralitätsrecht (geregelt z. B. durch die Haager Konventionen und andere völkerrechtliche Quellen) halten und könne keinen Export von Rüstungsgütern an Kriegsparteien zulassen, auch nicht nach dem eigenen Kriegsmaterialgesetz.14

Im «neuen kalten Krieg» mit Russland hat sich die Schweiz aber nicht nur verbal, sondern auch materiell klar auf die Seite der Nato gestellt, durch die Verhängung von Sanktionen und nun auch durch die erweiterte Sicherheitsdoktrin, welche die Schweiz militärisch auf die kollektive Verteidigung vorbereitet.

Es liegt auf der Hand, dass sich Russland auf das semantische Spiel der Schweiz nicht einlassen wird. Einerseits behauptet Bern, sich an das Neutralitätsrecht zu halten, anderseits sollen aber dennoch verschiedenste Möglichkeiten der «der Ausweitung und Vertiefung der sicherheits- und verteidigungspolitischen Kooperation»15 mit der Nato und der EU vorangetrieben werden.

Darauf kann sich Russland nicht einlassen. Im August 2022 wurde dies deutlich, als Moskau das Ersuchen Berns ablehnte, als Schutzmacht für die Ukraine in Russland dienen zu dürfen. Der Kreml verkündete, dass Russland die Schweiz wegen ihrer Sanktionspolitik nicht mehr als neutral betrachte, und schloss damit das diplomatische Fenster der Schweiz als Brückenbauerin.

Der Bundesrat kann noch so sehr darauf beharren, dass er sich an das Neutralitätsrecht hält. Letztlich ist die Realität in der internationalen Politik entscheidend. Und politisch hat die Schweiz Partei ergriffen. Das wissen die Russen ebenso gut wie die Schweiz und die Nato.

Diese Abkehr vom traditionellen Neutralitätsverständnis der Schweiz wird derzeit nur von der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) lautstark kritisiert.16 Die linken Sozialdemokraten (SP) unterstützen die Annäherungen an die Nato nicht, befürworten aber eine moralische und wirtschaftliche Parteilichkeit.17

Die entscheidende Frage ist: Was ist ein Angriff aus neutralitätspolitischer Sicht?

Was die Situation noch gefährlicher macht, als sie aussieht, ist nicht die Unbestimmtheit des Neutralitätsbegriffs, sondern das Fehlen jeglicher Definition des Wortes «Angriff».

Da die Verteidigungsstrategie der Schweiz laut Bundesrat künftig darauf beruht, dass im Falle eines «Angriffs» die völkerrechtlichen Neutralitätsbeschränkungen wegfallen und die Schweiz im Verbund mit anderen Mächten zurückschlagen wird, wäre zu klären, welche Handlungen als «Angriff» gelten.

Müssen Raketen oder Bomben auf Schweizer Territorium fallen, oder würde zum Beispiel ein Cyberangriff auf die digitale Infrastruktur der Schweiz ausreichen, um als «Angriff» zu gelten? Was ist mit Angriffen auf Schweizer Botschaften im Ausland? Oder wenn Radioaktivität aus einem nuklearen Angriff in Europa in die Schweiz gelangt? Was ist, wenn ein Schweizer Bürger durch Kriegshandlungen im Ausland stirbt, oder wenn ein Schweizer an Bord eines kriegführenden Schiffes stirbt, das versenkt wird? Diese Fragen sind nicht hypothetisch. Im Jahr 1917 nutzte die US-Regierung den Tod ihrer Bürger auf hoher See (auf Schiffen von Kriegsgegnern), um ihre Neutralität aufzugeben und auf der Seite der «Entente» in den Ersten Weltkrieg einzutreten.

Fazit

Für die Schweiz ist «sicherheitspolitische Kooperation» nur etwas, das mit westlichen Ländern stattfindet. Bern denkt nicht an eine «Zusammenarbeit» in einem multilateralen Rahmen jenseits von EU und Nato. In den sich entwickelnden Grossmachtkonflikten zwischen der Nato und Russland sowie der Nato und China signalisiert die Schweiz klar ihre Parteinahme. Trotz ihres Bekenntnisses zum Neutralitätsrecht bei heissen Kriegen ergreift die Schweiz im Neuen Kalten Krieg Partei.

* Dr. Pascal Lottaz ist ausserordentlicher Professor an der Universität Kyoto, wo er die Neutralität in den internationalen Beziehungen untersucht und das Forschungsnetzwerk neutralitystudies.com leitet. Er ist Schweizer Bürger und lebt seit 10 Jahren in Japan. Zu seinen neueren Büchern gehören «Sweden, Japan, and the Long Second World War» (Routledge, 2022), «Neutral Beyond the Cold: Neutral States and the Post-Cold War International System» (Lexington Books, 2022), und «Notions of Neutralities» (Lexington Books, 2019). Er schrieb auch Artikel über «Neutrality Studies» für die Oxford Encyclopedia und «The Politics and Diplomacy of Neutrality» für die Oxford Bibliography. Sie können ihm auf YouTube folgen: youtube.com/@neutralitystudies.

Quelle: https://neutralitystudies.com/2022/12/cooperation-before-neutrality-switzerlands-new-security-doctrine-an-analysis/, 1. Dezember 2022.

Dieser Artikel erschien zuerst in einer leicht unterschied-lichen Fassung in «The Defence Horizon Journal» (TDHJ).

1 https://www.fedlex.admin.ch/eli/fga/2022/2357/de

2 https://www.nzz.ch/meinung/die-schweiz-duckt-sich-weg-ld.1701588?reduced=true

3 https://www.vbs.admin.ch/de/home/suche/suchmaske.detail.document.html/vbs-internet/de/documents/sicherheitspolitik/sicherheitspolitische-berichte/2021/CSS-ETH-Kooperationsstudie.pdf.html

4 https://www.vbs.admin.ch/fr/home/recherche/masque-recherche.detail.document.html/vbs-internet/fr/documents/politiquedesecurite/rapports-politique-de-securite/2021/Politique-securite-Suisse-Raport_expert_independant_Dardel.pdf.html

5 «Zusatzbericht», S. 11 + S. 17

6 «Zusatzbericht», S. 14

7 «Zusatzbericht», S. 35

8 «Zusatzbericht», S. 21

9 «Zusatzbericht», S. 33

10 «Zusatzbericht», S. 18

11 «Zusatzbericht», S. 18

12 Rudolf Bindschedler, «Der Begriff der Neutralität», 1954. in Diplomatic Documents of Switzerland, dodis.ch/9564.

13 ETH Zurich, «Sicherheits- und verteidigungspolitische Kooperation der Schweiz in Europa: Optionen zur Weiterentwicklung», CSS Briefing Paper, August 24, 2022

14 «Zusatzbericht», S. 11

15 «Zusatzbericht», S. 34

16 «Der Bundesrat gefährdet die Sicherheit der Schweiz», Medienmitteilung der SVP Schweiz vom 7. September 2022. www.svp.ch/news/artikel/medienmitteilungen/der-bundesrat-gefaehrdet-die-sicherheit-der-schweiz/

17 «Sozialdemokratische Friedens- und Sicherheitspolitik auf dem Fundament der aktiven Neutralität», Positionspapier der SP Schweiz vom 6. September 2022. https://www.sp-ps.ch/datei/sp-positionspapier-neutralitaet-2022/

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