Zur «Schweizerischen Neutralität»

Neutrale Vermittlertätigkeit oder Kriegseintritt?

von Ralph Bosshard,* Schweiz

(25. Januar 2023) (Red.) Am 6./7. Januar 2023 führte der «Schweizer Standpunkt» in Frauenfeld eine Tagung zum Thema «Schweizerische Neutralität und Frieden» durch. Ralph Bosshard, einer der vier eingeladenen Referenten, hat für unsere Leserschaft den folgenden Text mit einigen wichtigen inhaltlichen Aspekten aus den Referaten und der Diskussion verfasst.

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Ralph Bosshard. (Bild
nachdenkseiten.de)

In der Geschichte der Schweiz hatte Neutralität zu verschiedenen Zeiten in den verschiedenen geopolitischen Konstellationen eine unterschiedliche Funktion und Bedeutung. In Zeiten, in welchen ein funktionierendes System kollektiver Sicherheit bestand, verlor Neutralität jeweils in einem gewissen Mass an Bedeutung. In der aktuellen Lage hat sie wieder Konjunktur. Aber Nabelschau wäre jetzt ebenso falsch wie Überheblichkeit.

Geschichtlicher Rückblick

Nach den Erfahrungen des Zweiten Koalitionskriegs, besonders des Kriegsjahrs 1799, wollte die Schweiz unbedingt verhindern, erneut zum Kriegsschauplatz der europäischen Grossmächte zu werden. Im Zuge der Schaffung der Pentarchie der Grossmächte im Wiener Kongress 1815 erhielten die Schweiz und die Niederlande die Funktion von Pufferstaaten zwischen den Grossmächten. Im Zeitalter der Revolutionen und des aufkommenden Nationalismus im 19. Jahrhunderts förderte die Neutralität der Schweiz deren inneren Zusammenhalt. Letzten Endes waren die bewaffneten Konflikte um die Einigung Deutschlands und Italiens nicht im Interesse der Schweiz und gefährdeten im Gegenteil ihre Einheit.

Während des Zweiten Weltkriegs blieb die Schweiz neutral, weil im Sommer 1939 das Projekt einer umfassenden Koalition gegen das nationalsozialistische Deutschland nicht zustande kam und sich namentlich die Westmächte als unfähig zeigten, den Opfern deutscher Aggressionen die notwendige Hilfeleistung zukommen zu lassen. Vor die Wahl zwischen Neutralität und Vernichtung gestellt, wählte die Schweiz Ersteres. Die oft betriebene Nabelschau der Schweizer ist folglich falsch: Schweizerische Neutralitätspolitik fand immer in einem gesamteuropäischen Umfeld statt und erfüllte dort ihre Funktion.

«Neutralitätsinitiative» ist nichts als logisch

Grundsätzlich ist die Bedeutung von Neutralität in einem Umfeld mit einem funktionierenden System kollektiver Sicherheit, das Friedensbrüchen gemeinsam entgegentritt, schwächer als in einer Zeit aktiver Konflikte. Zeitabschnitte mit einem funktionierenden System kollektiver Sicherheit waren in der europäischen Geschichte aber eher die Ausnahme als die Regel. In der Zwischenkriegszeit zerschlug sich die Hoffnung auf die Wirksamkeit eines solchen Systems durch den Völkerbund rasch. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Gründung der Vereinten Nationen bald einmal überschattet vom Ausbruch des Kalten Kriegs und die Spannungen unter den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, welche den Kern des Systems bildeten.

Nach Ende des Kalten Kriegs kam Euphorie auf und man glaubte namentlich im Westen an ein Ende der Geschichte als Abfolge von Kriegen und Friedensschlüssen. Damals gelang der Aufbau eines kollektiven Sicherheits-Systems nicht, unter anderem weil Europa und die USA nicht gewillt waren, Russland als vermeintlichen Verlierer des Kalten Kriegs in ein solches System einzubinden. Heute spüren wir die Folgen davon. Es ist absehbar, dass uns in den nächsten Jahrzehnten erneut eine Periode des Kalten Kriegs bevorsteht, in welcher nun Neutralität wieder eine höhere Bedeutung innehaben wird. Zeitpunkt und Inhalt der «Neutralitätsinitiative» sind nichts als logisch.1

International ist Neutralität der Normalfall

Wir sollten uns davor hüten, Neutralität als Form einer moralisch überlegenen Haltung zu überhöhen. Wir würden damit nur demselben Fehler verfallen, den selbstgerechte und moralisierende Spitzenpolitiker aus Ländern begehen, die allen Grund zur Selbstkritik hätten. Die neutrale Haltung der Schweiz ist auch kein Sonderfall der Geschichte, sondern eher der Normalfall: Von den aktuell über 190 Mitgliedsländern der UNO beteiligt sich nur eine Minderheit an den zahlreichen Konflikten, die derzeit leider im Gang sind. Die Schweiz ist in guter Gesellschaft und ihre Haltung ist nicht unanständig, wie kürzlich ein Schweizer Spitzenpolitiker kolportierte. Wer sich mit der Vorgeschichte von Konflikten befasst – das ist aktuell eine eher selten ausgeübte Tätigkeit – der begreift, dass oftmals eher Grau gegen Grau kämpft als Schwarz gegen Weiss.

Vermittlungsdienste mit Bescheidenheit

Traditionell bot die Schweiz immer wieder ihre Vermittlungsdienste in Konflikten an und tut es auch jetzt. Es wäre komplett falsch, mit dem Dünkel der moralischen Überlegenheit an eine Vermittlungstätigkeit heranzugehen. Verlangt sind vielmehr gründliche Kenntnisse von Geschichte, Sprache, Geographe und Kultur der Konfliktparteien, sowie von den geopolitischen, wirtschaftlichen und geostrategischen Zusammenhängen der Konflikte. Dabei muss man sich als Schweizer bewusst sein, dass wir trotz fehlender kolonialer Vergangenheit als Europäer wahrgenommen werden und namentlich in Ländern ausserhalb Europas auf ein gewisses Misstrauen stossen könnten. Ein Auftritt mit Bescheidenheit ist daher ein Muss.

Aktive Aussenpolitik statt faktischer Kriegseintritt

Die Art, wie die Protagonisten in Konfliktsituationen mit potenziellen Vermittlern umgehen, ist immer wieder ein Indikator für den Wunsch nach Frieden. Als ein Land, dessen Bewohner von grossem Wohlstand und hoher Lebensqualität profitieren und das von den verheerenden Konflikten des zwanzigsten Jahrhunderts verschont blieb, stösst die Schweiz oft auf Neid. All diejenigen Länder, die in ihrer Geschichte weniger glücklich waren, erwarten von ihr nicht ganz zu Unrecht einen Beitrag an die Lösung von Problemen. Deshalb muss die Schweiz eine aktive Aussenpolitik betreiben. Derzeit besteht die Gelegenheit, im Zusammenwirken mit einer Mehrheit der an den aktuellen Konflikten unbeteiligten Staaten an politischen Lösungen zu arbeiten. Das stellt die bessere Alternative zu einem faktischen Kriegseintritt dar, den zahlreiche europäische Länder de facto schon vollzogen haben.

Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für die Schweiz, eine aktive Aussenpolitik zu betreiben, die über die Grenzen der EU hinausschaut und auf voreilige Parteinahme verzichtet. Aber es ist zu befürchten, dass wir in die alte Nabelschau zurückfallen. Bereits seit Jahren verwendet die Schweizer Armee in Ausbildung und Armeeplanung Szenarien, die den «Tannenbaum»-Planungen2 der deutschen Wehrmacht von 1940 nachempfunden sind. Jetzt wird man wohl Szenarien eines russischen Überfalls kreieren. Beides ist gleichermassen falsch.

* Ralph Bosshard, geboren 1966, ist Schweizer mit Appenzeller Wurzeln. Er hat zuerst Allgemeine Geschichte, osteuropäische Geschichte und Militärgeschichte studiert. Danach absolvierte er die Militärische Führungsschule der ETH Zürich sowie die Generalstabsausbildung der Schweizer Armee. Im Anschluss daran folgte eine Sprachausbildung in Russisch an der Staatlichen Universität Moskau und ein Ausbildungskurs an der Militärakademie des Generalstabs der russischen Armee.
Ralph Bosshard kennt die Regionen Osteuropa und Zentralasien aus eigener Anschauung und aufgrund seiner sechsjährigen Tätigkeit bei der OSZE. Unter anderem war er als militärischer Sonderberater des Ständigen Vertreters der Schweiz bei dieser Organisation tätig. Auch im Rahmen seiner aktuellen Tätigkeit erstellt er Expertisen über die militärische Lage im Ukraine-Konflikt und zuvor schon zur Lage in Kasachstan und in Armenien/Bergkarabach.
Für Kontaktaufnahme mit dem Autor:
ralph.bosshard@bkosoft.ch / https://bkostrat.ch

1 https://www.neutralitaet-ja.ch/initiative

2 Unter der Bezeichnung «Tannenbaum» fasst man eine Anzahl von deutschen Planungen zur überfallartigen Besetzung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg zusammen, die Otto-Wilhelm Kurt von Menges ab Juni 1940 im Auftrag des Oberkommandos des Heeres ausarbeitete. (Wikipedia)

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