Schweiz

Nur die UNRWA kann der Bevölkerung von Gaza Hilfe leisten

Offener Brief an den Ständerat

(8. November 2024) (CH-S) Am 16. Oktober 2024 sandte die schweizerische «Beobachtungsstelle für Ethik und humanitäre Gesundheit» (OESH)* einen Brief an alle Ständerätinnen und Ständeräte, worin sie aufgefordert wurden, den Beschluss des Nationalrats, die Subventionen für die UNRWA zu streichen, rückgängig zu machen. Die Beobachtungsstelle ist auch bestrebt, die humanitäre Tradition unseres Landes und seine positive Ausstrahlung in der Welt zu bewahren.

* * *

Sehr geehrte Damen und Herren,
Sehr geehrte Mitglieder des Ständerates

In seiner Sitzung vom 9. September 2024 hat eine Mehrheit des Nationalrates beschlossen, die Unterstützung für die UNRWA auszusetzen, die bereits vor einigen Monaten halbiert worden war. Diese Entscheidung beruhte auf politischen Erwägungen, die durch unbegründete Gerüchte genährt wurden und nicht auf verlässlichen Fakten oder der realen Notlage einer leidenden Bevölkerung. Insbesondere basiert sie auf dem irreführenden Argument, dass die UNRWA ein Verbündeter der Hamas sei, die für die Gräueltaten vom 7. Oktober 2023 gegen israelische Zivilisten verantwortlich ist. Daraus wird der Schluss gezogen, dass diese von einem Schweizer Bürger geleitete Organisation der Vereinten Nationen eine terroristische Organisation finanziere.

Nach den Anschuldigungen der israelischen Regierung, dass Mitarbeiter der Agentur an den tödlichen Angriffen vom 7. Oktober beteiligt gewesen seien, forderte die UNO eine Untersuchung der Neutralität der Agentur, die – unter dem Vorsitz von Catherine Colonna, der ehemaligen französischen Aussenministerin – einem unabhängigen Ausschuss anvertraut wurde. Der im April 2024 dem Generalsekretär übergebene Bericht, kommt zum Schluss, dass es keine Beweise für eine Komplizenschaft mit der Hamas gibt: «Bis heute hat Israel keine Beweise für die Beteiligung von UNO-Mitarbeitern an diesen Angriffen vorgelegt.» Zudem wird darin festgestellt: «Die UNRWA verfolgt einen neutraleren Ansatz als andere ähnliche Organisationen der Vereinten Nationen oder NGOs.»

In der Folge dieses Berichts haben Japan, Deutschland, Italien, Australien, Kanada und Grossbritannien ihre Finanzierung wieder aufgenommen.

Unser Ansatz ist nicht politisch im parteipolitischen Sinne, sondern beruht lediglich auf der Verteidigung der Menschenrechte. Wir sind auch bestrebt, die humanitäre Tradition unseres Landes und seine Ausstrahlung in der Welt zu bewahren.

Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) wurde am 27. Dezember 1949 offiziell gegründet, um Flüchtenden zu helfen, die bei der Gründung des Staates Israel und nach späteren Konflikten geflohen oder vertrieben worden waren. Die Gründung dieser Agentur ist das Ergebnis der Annahme der Resolution 302 (IV) der Generalversammlung der Vereinten Nationen, die am 8. Dezember 1949 verabschiedet wurde. Somit hat nur die UN-Generalversammlung die Befugnis, ihr Mandat zu ändern oder aufzuheben.

Derzeit beschäftigt die UNRWA etwa 30 000 Personen, überwiegend Palästinenserinnen und Palästinenser, und ihr Mandat umfasst die Bereiche Bildung, Soziales und Gesundheit. Das Hilfswerk leistet Hilfe und Schutz für 5,9 Millionen registrierte palästinensische Flüchtlinge in Jordanien, Syrien, Libanon, im Gaza-Streifen und im Westjordanland, einschliesslich Ostjerusalem.

Ein Junge sitzt in den Trümmern einer zerstörten UNRWA-Schule in
Nuseirat, Middle Areas. (© 2024 UNRWA Photo)

Diese Information ist wichtig, denn wenn Sie die Einstellung der finanziellen Unterstützung der Eidgenossenschaft für die UNRWA beschliessen, bestrafen Sie nicht nur die Bevölkerung des Gaza-Streifens, sondern sämtliche palästinensischen Flüchtlinge im Nahen Osten.

Um sich von den katastrophalen Auswirkungen dieser Entscheidung auf die Bevölkerung von Gaza zu entlasten, behauptet die Mehrheit der Nationalrätinnen und Nationalräte, dass die Hilfsgüter von Schweizer humanitären NGOs, die von der Eidgenossenschaft finanziert werden, geliefert würden. Allerdings verfügt keine schweizerische NGO über die Mittel, die Expertise oder die Kapazitäten, um die UNRWA zu ersetzen. Selbst der Rote Halbmond, der UNHCR und das IKRK können laut ihren eigenen Aussagen die UNRWA nicht ersetzen. Selbst Bundesrat Ignazio Cassis sagte, dass ohne die UNRWA die Hilfsgüter nicht an die Bevölkerung in Gaza verteilt werden können.

Derzeit erfordert die katastrophale Gesundheits- und Ernährungslage, von der 2,2 Millionen Menschen betroffen sind – die sich im «Überlebensmodus» befinden –, dringend Hilfe, die nur das UNRWA zu leisten in der Lage ist.

Der Gazastreifen war früher in Bezug auf Nahrungsmittel nahezu autark und produzierte Gemüse, Geflügel, Milchprodukte und Obstbäume, um seine Bevölkerung zu ernähren. Laut der FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen) sind 96 Prozent der Bevölkerung im Gaza-Streifen von erheblicher Ernährungsunsicherheit betroffen. Sie warnt vor dem hohen Risiko einer bevorstehenden Hungersnot.

Nach Angaben des Palästinensischen Roten Halbmonds belief sich die Zahl der Todesopfer zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Briefes auf 40 972 Tote, darunter 16 756 Kinder, und 94 761 Verletzte, darunter mindestens 6168 Kinder. In einem Artikel der renommierten internationalen medizinischen Fachzeitschrift The Lancet, der am 9. Juli 2024 erschien, schätzten die Autoren die Gesamtzahl der Todesfälle auf etwa 186 000, weil viele Menschen unter den Trümmern begraben wurden, aber auch wegen mangelnder medizinischer Versorgung, fehlendem Zugang zu Medikamenten, fehlender Nahrung oder wegen der Wasserverschmutzung.

Auf Initiative der Beobachtungsstelle für Ethik und humanitäre Gesundheit fordern die Unterzeichnenden aus den Bereichen Wissenschaft, Diplomatie und humanitäre Hilfe Sie daher auf, mit Ihrer Stimmabgabe den Entscheid des Nationalrats zu kippen und den finanziellen Unterstützungsbeitrag der Schweiz an die UNRWA wieder einzuführen.

Mit besten Grüssen

Nago Humbert, Leiter des Observatoriums für Ethik und Humanitäre Gesundheit, ehemaliger Mitarbeiter des Roten Halbmonds und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Jerusalem und Gaza, Gründer von «Médecins du Monde» Schweiz.

Carla del Ponte, ehemalige Bundesanwältin der Schweiz, ehemalige Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien.

Jean-Daniel Ruch, ehemaliger Botschafter der Eidgenossenschaft in Israel, der Türkei und in Serbien, ehemaliger Sonderbeauftragter der Schweiz für den Nahen Osten.

Yves Besson, ehemaliger Schweizer Diplomat, ehemaliger Direktor der UNRWA im Westjordanland, 1993–1996 Leiter der Uno-Delegation für den Friedensprozess nach den Oslo-Abkommen.

Jacques de Watteville, Staatssekretär im Eidgenössischen Finanzdepartement (2012–2016) und Staatssekretär im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (2015–2017), ehemaliger Botschafter und ehemaliger Delegierter des IKRK im Libanon.

Urs Ziswiler, ehemaliger Botschafter der Eidgenossenschaft in den USA, Kanada und Spanien. Ehemaliger Leiter der Abteilung «Humanitäre Politik und internationale Flüchtlingsfragen» im EDA und ehemaliger Delegierter des IKRK in Gaza und Tel Aviv.

Salome Zimmermann, Doktorin der Rechtswissenschaften, Anwältin, ehemalige Richterin am Bundesverwaltungsgericht.

Charles Kleiber, ehemaliger Staatssekretär für Bildung, Forschung und Innovation und ehemaliger Generaldirektor des CHUV Lausanne.

Yves Daccord, Ehemaliger Generaldirektor des «Internationalen Komitees vom Roten Kreuz» (IKRK).

Didier Pfirter, ehemaliger Sonderbotschafter der Eidgenossenschaft im Nahen Osten.

Lorenzo Amberg, ehemaliger Botschafter der Eidgenossenschaft in Georgien und Griechenland.

Franco Cavalli, Arzt, Onkologe, Professor, ehemaliger Präsident der «Internationalen Union gegen den Krebs», leitet humanitäre Projekte in Mittelamerika.

Thomas Bischoff, Arzt, ehemaliger Direktor des Universitären Instituts für Allgemeinmedizin (IUMG) in Lausanne, Mitglied der Vereinigung MASM (Médecins Action Santé Migrants).

Viviane Châtel, Soziologin, Lehrbeauftragte und Forscherin, Lehrstuhl für Sozialarbeit und Sozialpolitik, Universität Freiburg, Leiterin des Masterstudiengangs «Ethik, Verantwortung und Entwicklung».

Jean-Daniel Gerber, ehemaliger Direktor des «Staatssekretariat für Wirtschaft» (SECO) und ehemaliger Direktor des «Bundesamts für Flüchtlinge» (heute BAMF).

Jochi Weil-Goldstein, ehemaliger Sekretär von Medico International Schweiz, verantwortlich für mehrere medizinische Projekte in Israel/Palästina.

Ruth Flint, ehemalige Botschafterin der Eidgenossenschaft im Libanon (2010–2014).

Janvier de Riedmatten, ehemaliger Vertreter des UNHCR in Jordanien, Griechenland, Angola, Kongo, Irak; ehemaliger Delegierter des IKRK in Gaza und im Libanon.

* Die Beobachtungsstelle für Ethik und humanitäre Gesundheit (Observatoire Ethique et Santé humanitaire, OESH) ist ein in der internationalen Zusammenarbeit tätiger gemeinnütziger Schweizer Verein mit Sitz in Neuchâtel. Das Ziel ihrer Aktivitäten ist es, die aktuellen Herausforderungen der humanitären Arbeit im Bereich der globalen Gesundheit zu bewältigen, indem sie einen Ort der Auseinandersetzung und des Dialogs bietet, um eine öffentliche und wissenschaftliche Debatte anzuregen. Die Beobachtungsstelle wurde 2020 aus der Erkenntnis heraus gegründet, dass es für humanitäre Akteure immer schwieriger wird, ihre eigentliche Aufgabe zu erfüllen: als Pflegende den Opfern zu helfen. (Vgl. https://oesh.ch/qui-sommes-nous/#continue)

Kontakt:
«Observatoire Ethique et Santé humanitaire»
Pr Nago Humbert 079 649 07 62
Bianca Franchi 078 850 58 82

Quelle: https://oesh.ch/lettre-au-conseil-des-etats/, 16. Oktober 2024. (Übersetzung «Schweizer Standpunkt»))

Zurück