Nein zum «Gegenvorschlag» des Bundesrates

Organentnahme – Rechte des Einzelnen wahren

Die «Widerspruchslösung» macht Personen, die sich dagegen nicht wehren können, zu Organlieferanten

Gastkommentar von Christoph A. Zenger*

(14. Dezember 2021) Red. Dieser Beitrag erschien in der NZZ am 17. Februar 2021, bevor die Volksinitiative bedingt zurückgezogen wurde.

Zum gleichen Thema bereits erschienen: https://www.schweizer-standpunkt.ch/news￾detailansicht-de-gesellchaft/organspende-die-buerger￾sollen-entscheiden-koennen.html

Die Transplantations-Initiative zielt darauf ab, möglichst viele Organe Sterbender als Ressource für die Transplantationsmedizin nutzbar zu machen. Dazu soll die im geltenden Verfassungsrecht vorgesehene «Zustimmungslösung» für die Organentnahme durch eine «Widerspruchslösung» ersetzt werden.

Der Bundesrat hat einen «Gegenvorschlag» zur Initiative vorgelegt. Im Grundsatz unterscheidet sich dieser nicht von der Initiative; auch er dient der Einführung der Widerspruchslösung.

Aber der «Gegenvorschlag» zeigt, wie der Bundesrat die Initiative auf Gesetzesebene konkretisieren möchte: Bereits 16-Jährigen sollen Organe entnommen werden dürfen, wenn sie nicht widersprochen haben. Obwohl sie erst mit 18 Jahren grössere Geschäfte selbständig abschliessen und politische Rechte ausüben können, müssten sie sich also bereits vor dem 16. Geburtstag eine Meinung zur Organentnahme bilden und gegebenenfalls widersprechen. Spender sollen auch Durchreisende sein.

In beiden Fällen soll mit Angehörigen Kontakt aufgenommen werden. In allen anderen Fällen sollen die nächsten Angehörigen ein subsidiäres Widerspruchsrecht erhalten. Doch der «Gegenvorschlag» legt keine Minimalfristen für die Suche nach einem dokumentierten Widerspruch und nach Angehörigen fest, sondern delegiert die Regelung auf die Stufe des Verordnungsrechts. Dieses kann der Bundesrat in Eigenregie abändern und die Fristen ohne demokratische Kontrolle immer weiter verkürzen, wenn er es für richtig hält.

Chronologie zu Volksinitiative und indirektem Gegenvorschlag

Erstellt durch «Schweizer Standpunkt»

• 8. Oktober 2004: Das «Bundesgesetz über die Transplantation von Organen, Geweben und Zellen» (Transplantationsgesetz) tritt in Kraft. Art 8, Abs. 1–3, hält fest, dass Organe, Gewebe oder Zellen einer verstorbenen Person nur entnommen werden dürfen, wenn sie vor ihrem Tod einer Entnahme zugestimmt hat und der Tod festgestellt worden ist. Bei fehlender Willensäusserung der verstorbenen Person können die nächsten Angehörigen im Sinn und gemäss mutmasslichem Willen der Verstorbenen die Einwilligung für eine Entnahme geben = erweiterte Zustimmungslösung.

• 22. März 2019: Die Jeune Chambre Internationale (JCI) aus dem Kanton Waadt reicht ihre eidgenössische Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten» bei der Bundeskanzlei ein. Die Initiative will einen Systemwechsel: Hat sich die verstorbene Person zu Lebzeiten nicht gegen die Organspende ausgesprochen, ist eine Organentnahme zulässig, die Angehörigen können einer Entnahme nicht widersprechen = enge Widerspruchslösung. Wer keine Organe spenden möchte, soll dies neu festhalten müssen.

• 13. September 2019: Der Bundesrat gibt einen indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative in die Vernehmlassung. Er fügt der engen Widerspruchslösung hinzu, dass die Angehörigen einer Organentnahme widersprechen können = erweiterte Widerspruchslösung.

• 25. November 2020: Der Bundesrat überweist seine Botschaft zum revidierten Transplantationsgesetz mit der erweiterten Widerspruchslösung an das Parlament.

• 5. Mai 2021: Der Nationalrat stimmt dem indirekten Gegenvorschlag mit grosser Mehrheit zu.

• 20. September 2021: Der Ständerat stimmt dem indirekten Gegenvorschlag ebenfalls zu.

• 7. Oktober 2021: Das Initiativkomitee zieht die Initiative «bedingt» zurück, d.h. dass der Rückzug erst wirksam wird, wenn der indirekte Gegenvorschlag in Kraft tritt.

• 12. Oktober 2021: Ein Komitee ergreift das Referendum zur Widerspruchslösung: «NEIN zur Organspende ohne explizite Zustimmung». Die Sammelfrist für die notwendigen 50 000 Unterschriften endet am 20. Januar 2022. Siehe https://organspende-nur-mit-zustimmung.ch

Darüber, wie gründlich die Abklärungen sein sollen, schweigt sich der «Gegenvorschlag» vollständig aus – und es fehlt jegliche Garantie, dass einem Widerspruch der Sterbenden Nachachtung verschafft würde. Inhaltlich bildet der «Gegenvorschlag» somit keine Alternative zur Initiative, sondern führt diese nur aus und erweitert sie sogar inhaltlich.

Der «Gegenvorschlag» teilt daher auch die Problematik der Initiative: Die Widerspruchslösung ermöglicht das Ausnutzen von Zwangslagen, Abhängigkeiten, Unerfahrenheit, Unwissen, Unfähigkeit und Schwäche im Urteilsvermögen vieler Personen; diese werden zu Organlieferanten, ohne davon zu wissen oder sich wehren zu können.

Man kann sich fragen, was eine Mehrheit des Bundesrates veranlasst hat, die grundrechtlich gewährleistete persönliche Freiheit und die demokratischen Rechte derart beiseite zu schieben. Der Nutzen für die Organempfänger kann es nicht sein. Entgegen der Darstellung des Bundesrates ergibt sich aus den wenigen durchgeführten wissenschaftlichen Studien gerade nicht, dass dank der Widerspruchslösung mehr Organe verfügbar würden.

Und selbst wenn dies der Fall wäre, bliebe offen, ob diese von nichtsahnenden Sterbenden stammen. Es müssen also gewichtigere politische Interessen sein, die die Mehrheit des Bundesrates durchsetzen will. Die Interessen der Transplantationsmedizin sind es ebenso wenig wie der Wille, Gutes für die wenigen potenziellen Organempfänger zu tun; beides ist aufs Ganze gesehen politisch von allzu marginaler Bedeutung.

Näher liegt die Annahme, dass damit der industrialisierten Vorhersage-, Vorsorge- und Vorschriftenmedizin der Weg gebahnt werden soll, damit sie ihren viel umfassenderen neopaternalistischen Verfügungsanspruch über die Bevölkerung unter Berufung auf ein Präjudiz vorantreiben kann.

Ebenso ist denkbar, dass sich partikuläre ethisch-politische Vorstellungen, die die Fürsorge über die Autonomie und die Gerechtigkeit demokratischer Entscheidungsfindung stellen, durchgesetzt haben. Beides aber würde der existenziellen Bedeutung, die die Zustimmung zu einer Organentnahme für die betroffenen Personen hat, nicht gerecht.

* Christoph A. Zenger ist Professor und Mitglied der rechtswissenschaftlichen Fakultät und des Zentrums für Gesundheitsrecht und Management im Gesundheitswesen der Universität Bern. Er ist Mitglied des Referendumskomitees «NEIN zur Organspende ohne explizite Zustimmung!»

Quelle: © Neue Zürcher Zeitung vom 17. Februar 2021. Mit freundlicher Genehmigung der NZZ und des Autors.

Hier kann der Unterschriftenbogen heruntergeladen werden: https://organspende-nur-mit-zustimmung.ch/unterschreiben/

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