Schweizer Neutralität

Führungskräfte auf Abwegen

von Thomas Scherr

(10. April 2022) Wie kam es dazu, dass der Bundesrat und mit ihm der Nationalrat innerhalb weniger Tage den Kopf verloren und die über Jahrhunderte bewährte Neutralität des Landes beiseite schoben? Welche Interessen wirkten im Hintergrund? Wie kann ein Weg zurück zur Neutralität aussehen?

Ende Februar 2022: Die EU rief als Reaktion auf den russischen Einmarsch in die Ukraine harte Sanktionsmassnahmen in ungeahntem Ausmass gegen Russland aus. Auch sollten Waffen an die Ukraine geliefert werden. Die Sanktionen kamen unter starkem Druck der USA auf die einzelnen EU-Staaten und die EU-Kommission zustande. Es war klar, dass die Folgen dieser einseitigen Zwangsmassnahmen letztlich ganz Europa treffen werden – jedoch nicht die USA.

Was hätte der Bundesrat tun müssen

Intuitiv hätte der Schweizer Bundesrat Ende Februar 2022 bei der seit 150 Jahren geführten Linie bleiben müssen: eine klare und empörte Erklärung zum durch den Ukraine-Konflikt verursachten menschlichen Leid, eine Verurteilung des völkerrechtswidrigen Einmarsches Russlands in die Ukraine, verknüpft mit der Aufforderung an alle Parteien, an den Verhandlungstisch zu kommen. Dann hätte er sein Gesuch um Einsitz in den UNO-Sicherheitsrat zurückgezogen und die Gültigkeit der immerwährenden bewaffneten Neutralität der Schweiz bestätigt.

Was hat der Bundesrat unterlassen

Auf die zu erwartenden Pressionen aus Washington, Brüssel, Berlin oder Moskau, sich ihrer Position anzuschliessen, hätte der Bundesrat mit Verweis auf die Neutralität des Landes reagiert. Gleichzeitig hätte er mit gutem Gewissen die Schweiz als Verhandlungsort und für die Guten Dienste angeboten. Dies hätte die Regierung unternommen, um den nun zu erwartenden Schaden vom Schweizer Volk abzuwenden. Im Weiteren hätte die Regierung spätestens seit Dezember 2021 die notwendige Vorsorge für das Land angeordnet oder getroffen.

Wie schon oft in der Geschichte des Landes hätte sich die Bevölkerung hinter den Bundesrat gestellt und Druckversuche aus dem Ausland zurückgewiesen. Der Bundesrat hätte sich aussenpolitisch bemüht, im Sinne der Neutralität zu allen Seiten hin angemessene diplomatische und wirtschaftliche Kontakte zu halten.

Doch die Realität sah im Februar 2022 anders aus. Wie kam es zu diesem Versagen des Bundesrates?

Wie es zum Verlust der Neutralität kam

Über Jahrzehnte und mit Ausdauer wurden die Schweizer Regierung und die Bevölkerung dahingehend beeinflusst, dass ein Anschluss an internationale Organisationen mit der Schweizer Neutralität problemlos vereinbar sei: EWR, EU, Nato, PfP, OECD, Pesco usw. Im Land hiess es immer häufiger, man müsse mitmachen und könne nicht immer abseitsstehen. Dazu mehr weiter unten.

Nachdem der Bundesrat sich am 28. Februar den Sanktionen der EU angeschlossen hatte, äusserten schon kurze Zeit danach einige führende Schweizer Politiker, dass eine Schweizer Beteiligung an zukünftigen möglichen Kriegseinsätzen, die sich aus dem Ukrainekonflikt ergeben könnten, an der Seite der EU oder sogar der Nato für das Land sinnvoll sein könnten. Gleichzeitig könne man neutral bleiben. Dass dem nicht so ist, wird an dieser Stelle nicht erklärt, weil es offensichtlich ist.

Über Jahre weichgespült

Wie kam es dazu, dass einige Schweizer Politiker, Militärs und Verleger heute so einmütig in ein westliches Militärbündnis – logischerweise unter dem Kommando der USA – wollen? Sind es Prestigegründe? Naivität? Machtansprüche? Korruption? Bestechlichkeit? Sorglosigkeit? Ein paar Meilensteine aus den vergangenen Jahren:

– Der Bundesrat forciert in den 1990er Jahren einen Beitritt zum EWR. Das Volk lehnte ihn in einer Abstimmung ab.

– Der Bundesrat beschliesst 1996 den Beitritt zur Nato-Organisation «Partnership for Peace» (PfP). Es gelingt ihm, die Organisation als völlig harmlos und neutralitätskompatibel darzustellen.

– Ab 2003 findet die Umrüstung der Schweizer Armee auf Nato-Standard (Armee XXI) statt. Ausserdem Verkleinerung der Armee, verdeckte Aufgabe der Verteidigungsfähigkeit. Weitere katastrophale Armeereformen wie die «Weiterentwicklung der Armee» (WEA 2013–2017) folgen. Sie führen dazu, dass das Land seiner Pflicht als neutraler Staat, das eigene Territorium glaubhaft verteidigen zu können, nicht mehr nachkommen kann.

– Umfangreiche Kurse von Armeekadern in den USA. Vermehrte Teilnahme an Nato-Übungen.

– Training von Nato-Soldaten in der Schweiz (Luftwaffe Deutschland, Kurse für Nato- Gebirgsjäger)

– Beschaffung des neuen US-Kampfjets F-35, das eher in einen Nato-Kampfverband passt, als dass es zur Verteidigung eines neutralen Kleinstaates dienen könnte.

– Versuche des Bundesrates, die Schweiz scheibchenweise an die EU heranzuführen (z.B. Rahmenabkommen, Cassis-de-Dijon-Prinzip, Schengen-Abkommen, EU-Schiedsgericht, Kohäsionsmilliarden usw.).

– Vernachlässigter Grenzschutz

– Besetzung vieler wichtiger Verwaltungsratsposten in Schweizer Firmen mit deutschen, britischen oder US-amerikanischen Managern. Ihr Einfluss auf die Gestaltung der Schweizer Politik verstärkt sich.

– Staatliche Aufgaben für strategisch wichtige wirtschaftliche Einrichtungen, zum Beispiel zur Impfstoffherstellung oder für eine unabhängige Energieversorgung wurden vernachlässigt oder ganz aufgegeben.

– Aufgrund massiver Drohungen der USA hebt die Schweiz ihr Bankkundengeheimnis auf. Die USA lassen sich die Kundendaten liefern.

– Debatte um Relativierung der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und der Schweizer Neutralität: «Raubgold-Debatte», Bergier-Bericht usw.

Nicht freiwillig Teilnahme, sondern stiller Nachvollzug

An diesen Meilensteinen kann der systematische Abbau schweizerischer Eigenständigkeit und damit ihrer selbstständigen und neutralen Position nachvollzogen werden. Das Land geriet in verschiedene Abhängigkeiten. Dabei ging es nicht um Kooperation oder um freiwillige Teilnahme, sondern um den stillen Nachvollzug internationaler Vorgaben.

Die Schweiz als «unfreundlicher Staat»

Am Ende brauchte es nur wenige Worte eines geschichtsvergessenen Bundesrates, um Jahrhunderte Schweizer Neutralitätspolitik über den Haufen zu werfen. Mit feuchten Augen jubeln die Bundesräte Viola Amherd und Ignazio Cassis dem Schauspieler und Präsidenten der Ukraine in Bern zu. Kaum ein Bundesrat hatte sich in den vergangenen 150 Jahren so unschweizerisch verhalten. Das schaffte nicht einmal Marcel Pilet-Golaz in seiner ungeschickten Rede 1940. Unsere Bundesräte jubelten nicht als Privatpersonen, sondern als Bundesräte. Das Resultat ist beschämend: Gemeinsam mit mehreren Nato- und EU-Staaten steht die Schweiz inzwischen auf einer russischen Liste «unfreundlicher Staaten». Wohlgemerkt: Auf dieser Liste stehen nicht einmal alle Nato- und EU-Staaten!

Schweizer F-35-Kampfjets für die NATO?

Auch viele unserer eidgenössischen Parlamentarier scheinen von einer tiefgreifenden historischen Amnesie befallen zu sein. So forderte Mitte (ehem. CVP) Präsident Gerhard Pfister im Gleichschritt mit seiner Parteikollegin und Bundesrätin Viola Amherd die Schweizer Teilnahme am möglichen (Verteidigungs-)Krieg gegen Russland mit den neuen Schweizer F-35-Kampfjets.

Beide wissen genau, dass das nur innerhalb der Nato-Befehlsstrukturen möglich wäre. Damit würde sich die Schweiz den Weg zurück zur Neutralität total verbauen. Sie wird Kriegspartei mit allen Konsequenzen, die daraus erwachsen. Dabei wird die Schweiz sicher nicht im Nato-Generalstab einsitzen und über die einzelnen Kriegseinsätze mitentscheiden können. Sie wird die Befehle der militärischen Führung nachvollziehen müssen, auf die sie keinen Einfluss hat. Und – hinter jeder militärischen Struktur steht in Westeuropa seit 75 Jahren Washington.

Mögliche Konsequenzen eines Krieges für die Zivilbevölkerung kann man derzeit in der Ukraine studieren – man kann aber auch einen Blick auf Libyen, den Irak, Jemen oder Syrien werfen.

Schlachtfeld Europa?

Falls es zu einem nuklearen Schlagabtausch kommt, würde Europa das Schlachtfeld sein. Dies könnten weder Schweizer F-35-Kampfjets noch ein «europäisches Verteidigungsbündnis» verhindern. Die Schweiz hat sich durch das unsägliche Verhalten des Bundesrates im internationalen Machtnetz verfangen und ist nicht mehr Herr der eigenen Lage.

Die politische Führung der Schweiz hat das Wohl der eigenen Bevölkerung vernachlässigt. Sie hat ihren Kompass verloren. Nun wird die Bevölkerung selbst massenpsychologisch in die Zange genommen, um das traditionelle Selbstverständnis zu schwächen.

Der Neutralitätsbegriff soll aufgelöst und umgedeutet werden. Eine typische Aufgabe des Spindoctoring. Aus Schwarz wird Weiss, und aus Weiss wird Schwarz. Aus Neutralität wird Parteinahme und aus Frieden wird Krieg.

Es ist anzunehmen, dass heute massenpsychologische Bearbeitungen von internationalen PR-Agenturen – ähnlich wie von Ruder Finn oder Saatchi&Saatchi während des Jugoslawienkonfliktes – durchgeführt werden. Auf der anderen Seite bieten die heimischen Medienkonzerne täglich Paradebeispiele medialer Bearbeitung, so zum Beispiel die «Neue Zürcher Zeitung», der Ringier Verlag oder die AZ Medien. Für sie scheint der Fall klar zu sein: Die Schweiz definiert die Neutralität um und zieht «mit dem Westen» gegen Russland. Das heisst dann auf neudeutsch «europäische Solidarität» oder «Neutralität im Dienste des Völkerrechts».

Neutrale Staaten dürfen aus Sicht der Nato nicht existieren. Es darf heute niemanden geben, der sagt: Ich schliesse mich keiner Partei an! So werden auch Österreich und Schweden unter Druck gesetzt, ihre Neutralität aufzugeben.

Der Weg zurück zur Neutralität

Kriege und Kriegseinsätze im In- und Ausland hatte die Schweiz in ihrer Geschichte zur Genüge. Aus gutem Grund haben unsere Vorväter mit viel Geschick das Land aus den Kriegen der Grossmächte herausgehalten – «Stille Sitzen». Vergessen werden Niklaus von Flüe, Hans Rudolf Wettstein, Charles Pictet de Rochemont oder Guillaume-Henri Dufour, die zum Wohle des ganzen Landes Wege aus internationalen Verstrickungen und aus Krieg und Elend suchten oder versuchten, das menschliche Leid zu mindern. Die humanitären Werke von Henry Dunant oder von Carl Lutz, die das Leben Tausender retteten, wären ohne eine wirklich neutrale Schweiz undenkbar.

Man konnte sich bisher auf die über Jahrhunderte bewährte Neutralität des Landes mit ihrer diskreten Diplomatie verlassen. Für den Standort des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes und vieler anderer internationaler Organisationen ist eine glaubhafte Neutralität der Schweiz unverzichtbar.

Den Preis zahlen

Der Weg zurück ist einfach, aber hart. Hart, weil man sich unbeliebt machen muss und weil man mit Gegenmassnahmen seitens der EU und der USA rechnen kann – vielleicht bis hin zu wirtschaftlichen und militärischen Pressionen. Wäre unsere Armee in der Lage, mit ihrem stark reduzierten Personalbestand ein Abwehrdispositiv zu erstellen? Wäre unsere Wirtschaft bereit, zugunsten einer friedlichen Neutralität auf gewisse Geschäfte zu verzichten? Wären unsere Politiker bereit, auf einen möglichen Sitz im UNO-Sicherheitsrat oder in der EU-Kommission zu verzichten? Die Bevölkerung? Sie wird schon jetzt für die Politik des Bundesrates und der Führungskräfte einen hohen Preis zahlen müssen. Höhere Energiekosten, Inflation, Lieferengpässe … sind schon Folgen der Sanktionspolitik der EU und der USA, von möglichen Kriegsfolgen ganz zu schweigen.

Was wäre zu tun, um die Neutralität wiederzugewinnen?

1. Die Schweiz verlässt den EU-Sanktionspakt (den nicht einmal Ungarn und Rumänien – notabene zwei Nato- und EU-Staaten – völlig nachvollziehen).

2. Sie kehrt zur immerwährenden und bewaffneten Neutralität zurück.

3. Sie zieht ihren Antrag auf Teilnahme im UNO-Sicherheitsrat zurück und geht auf die notwendige Distanz zur EU.

Welche mutigen Männer und Frauen werden für eine freie und neutrale Schweiz einstehen?

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