«Verantwortung übernehmen»

Sind wir den neuen Herausforderungen gewachsen?

von Thomas Scherr

(29. November 2022) Wie wird es weitergehen? Inflation. Ukraine-Krieg. Energiekrise. Flüchtlingswelle. Atomare Bedrohung. Pensionskassenloch. Lieferkettenunterbruch. Wirtschaftskrieg mit China … Wie gross sind die Spielräume, die sich noch bieten? Wird es eine gesicherte Zukunft geben? Steht dafür das passende Personal bereit? Wird das Land nach über sieben Jahrhunderten der «Arglist der Zeit» zum Opfer fallen?

Das Jahr 2022 wird zum Ernstfall. Zu den hausgemachten Problemen treten aussenpolitische Ereignisse ein, die nur gemeistert werden können, wenn es zur Besinnung kommt. «Switzerland reloaded».

Mehrere Denkzettel

Nach dem ersten Denkzettel für unser Land 2008 (Bankenkrise – too big to fail) gab es 2015 einen zweiten (Flüchtlingswelle I) und 2020 den dritten Denkzettel (Coronakrise). Jetzt gehen wir davon aus, dass die Hausaufgaben gemacht wurden … dass die Finanzen in Ordnung gebracht sind und finanzielle Abhängigkeiten zum Ausland abgefedert wurden, aber auch, dass die Zuwanderung wieder eigenständig reguliert wird und dass landesweit nicht nur für Desinfektionsmittel und eine eigene Impfstoffherstellung gesorgt ist …?

November 2021 – letztes Warnzeichen

Aussenpolitisch stehen die Zeichen schon seit Jahren auf Sturm: Ein deutliches Haltesignal gab es im November 2021, als die russische Regierung von den USA öffentlich Garantien für die Sicherheit ihres Landes forderte. Die US-Administration unter Joe Biden liess den russischen Wunsch ostentativ verstreichen. Es wurde offensichtlich, dass Washington an einer Zuspitzung der Situation interessiert ist. Mit dem Einmarsch der russischen Armee im Februar 2022 eskalierte der Konflikt schliesslich militärisch. Im EDA und VBS muss klar gewesen sein, dass es um eine Weichenstellung zwischen Frieden oder Krieg ging.

Deutschland wird an die Wand gefahren

Die bekannten geopolitischen Folgen auf den russischen Einmarsch in Stichworten: Die EU unterstützt die Ukraine militärisch, sie boykottiert russische Waren- und Energieimporte und stranguliert sich damit jedoch selbst und auch gleich die gesamteuropäische Wirtschaft. Folge der nun ausbleibenden Gaslieferungen ist ein wirtschaftliches Grounding Deutschlands, der wirtschaftlichen Lokomotive Europas und des grössten Handelspartners der Schweiz.

Europa zahlt den Krieg und nimmt die Opfer auf

Parallel zur wirtschaftlichen Talfahrt finanziert die EU den Krieg in der Ukraine durch Schulden in Milliarden Höhe, die hauptsächlich für Waffen aus US-amerikanischer Produktion ausgegeben werden. Über einen «Land and Lease»-Vertrag hat Washington dafür gesorgt, dass nicht die USA selbst die Zeche bezahlen werden, sondern ihre Bündnispartner, sprich die Steuerzahler der EU. Gleichzeitig nehmen die EU und die Schweiz Millionen ukrainischer Flüchtlinge auf und versorgen sie – neben den verstärkten Flüchtlingsströmen aus Afghanistan, Syrien und Afrika.

Istanbul statt Genf

Schweiz: Der Bundesrat schliesst sich im Frühjahr ohne erkennbare Not der westlichen Sanktionspolitik der EU und Nato an. Eine leicht vorauszusehende Folge war, dass Moskau die Schweizer Neutralitätspolitik nicht mehr anerkennt. Überhaupt – diplomatische Annährungen finden nun nicht mehr in Genf statt, sondern wenn dann in Istanbul oder Ankara. Offensichtlich kann die Türkei inzwischen mehr Unabhängigkeit bieten als Bern.

Atomare Bedrohung und Konflikt mit China

Inzwischen wurde der Krieg – mit westlichen Waffenlieferungen, eingeschleusten NATO-Militärexperten und -söldnern in der Ukraine sowie Ausbildungscamps für ukrainische Soldaten in den verschiedenen Nato-Ländern –, so weit vorangetrieben, dass der Einsatz von Atomwaffen wieder im Gespräch ist.

Fast unbemerkt entfacht die US-Administration einen Wirtschaftskrieg gegen die chinesische Volkswirtschaft. Eingespannt werden dabei die westlichen Bündnispartner, das heisst, Wirtschaftsbeziehungen der europäischen KMUs zu China sollen gekappt werden – die Schweizer Landesregierung nickt einmal mehr mit dem Kopf. Parallel dazu heizt die Biden-Administration den Konflikt zwischen der Volksrepublik China und Taiwan an. Einen nicht zufälligen Beitrag leistete Nancy Pelosi mit ihrem Taiwan-Besuch vor wenigen Wochen.

Fragwürdige Aussenpolitik

Schweiz: Vor diesem Hintergrund bieten führende Medien wie auch bekannte Politiker ein zweifelhaftes Bild. Anstatt den Krieg in der Ukraine zu bremsen und mit allem diplomatischen Geschick Friedensverhandlungen herbeizuführen, wird jede weitere eskalierende Vorgabe aus Washington, Brüssel oder Kiew kritiklos übernommen. – Dies entgegengesetzt zur Identität des Landes, welches sie vertreten.

Immer mehr Bürgerinnen und Bürger fragen sich: Wo bleiben die besonnenen und zugleich weitblickenden Politikerinnen und Politiker, die das Wohl aller und die Rolle der Schweiz für die Welt im Auge haben? Und wo findet man die ausgeglichenen und konstruktiven Stimmen in den Medien?

Aufgaben, die sich stellen

Unser Nachbar im Norden wird wirtschaftlich «gegrounded». Stichwort: Anschlag auf Nord Stream 1+2. Ohne Energie keine Produktion, ohne Produktion keine Arbeit. Die Schweiz hängt dran. Es hat keinen Sinn, sich Sand in die Augen zu streuen. Nur wenn Frieden ist und Deutschland wieder Energie aus Russland bezieht, kann es wirtschaftlich überleben. – Und, unser Export und unsere Arbeitsplätze sind nicht unabhängig davon. Jetzt ist Frieden nötig. Deutschland kann es nicht. Seine Regierung ist unfähig dazu.

«Verantwortung übernehmen»

«Verantwortung übernehmen» kann nur heissen, die Rolle als neutraler Staat wieder einzunehmen und dadurch wieder einen Ort für Verhandlungen und Gute Dienste zu bieten. Bescheidene, stille, aber dafür effektive Diplomatie –, eine Stärke unseres Landes –, um Wege aus dem Krieg zu finden statt Foto-Shootings in ausländischen Hauptstädten. Das ist bitter nötig.

«Verantwortung übernehmen», heisst nicht, mit der Tradition des Landes zu brechen, heisst nicht «kooperative Neutralität». Gefragt ist echte Neutralität! Es gibt heute keine Alternative mehr zu Friedensverhandlungen! Das weiss jeder und das sollte auch in Bern bekannt sein.

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