«Wenn Europa unfähig ist, sich für den Frieden einzusetzen, wird es sich aus der Geschichte verabschieden!»

Georges Martin. (Bild zvg)

Interview von «Indocile.press» mit Botschafter Georges Martin*

(31. Oktober 2022) (Red.) Heute im Ruhestand, engagiert sich Georges Martin, die ehemalige Nummer 3 der Schweizer Diplomatie, als Botschafter für den Frieden. Dieser Mann, der die Neutralität hochhält, zeigt uns, dass er dieser Idee so sehr zugetan ist, dass er sie nicht durch die gewundene Sprache der Diplomatie verfälschen möchte. «Indocile» hat sich an diesen Diplomaten gewandt, dessen persönliches Engagement für die Neutralität es den Iranern erlaubt, nach Arabien zu pilgern und den Saudis nach Mashhad. Das ist keine geringe Leistung. In Anbetracht dessen kann man seine Bestürzung verstehen, wenn er sieht, dass «sein Kontinent» unter den Folgen der amerikanischen Sanktionen leidet, die die europäischen Staaten willfährig umsetzen.

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Joel Toussaint: Herr Botschafter, Sie haben als Diplomat gearbeitet, als die Schweiz sich noch als neutrales Land bezeichnete. Sie sprechen von einem Wandel in dieser Doktrin. Wann hat diese Änderung Ihrer Meinung nach stattgefunden? Und welcher politische Kontext innerhalb der Eidgenossenschaft und welcher geopolitische Kontext könnte diesen Wandel erklären?

Georges Martin: Die Schweiz war immer der Ansicht, dass es zwei Elemente ihrer Neutralität gibt: das «Neutralitätsrecht» im Kriegsfall, wie es im Haager Abkommen von 1907 festgelegt ist, und die «Neutralitätspolitik».

Die Verpflichtungen der neutralen Staaten in Kriegszeiten sind relativ kurz: Sie dürfen keine der Parteien begünstigen, indem sie militärisches Material liefern oder Überflüge zu militärischen Zwecken erlauben.

Theoretisch würde diese Verpflichtung die Lieferung von Waffen an Kriegsparteien erlauben, sofern diese fair behandelt werden. In der Realität liefert die Schweiz jedoch keine Waffen an Kriegsparteien. Wie bei allen Regeln gibt es Ausnahmen oder Grauzonen bei der Umsetzung, wie zum Beispiel die Lieferung von Kriegsmaterial an Saudi-Arabien, obwohl es sich im Krieg gegen den Jemen befindet.

Im Fall der Ukraine hingegen erlaubte die Schweiz Dänemark und Deutschland nicht, Waffen und Munition zu schicken, die in der Schweiz gekauft worden waren oder Schweizer Komponenten enthielten. Die Schweiz hat auch Flugzeugen der Nato oder anderer westlicher Länder, die militärisches Material auf dem Weg in die Ukraine transportieren, den Überflug über ihr Territorium untersagt.

Kontroverse um Schweizer Neutralität und Sanktionen

Was die Neutralitätspolitik betrifft, so hat sie sich im Laufe der Geschichte verändert. Während sie während des Kalten Krieges eher vorsichtig und wenig aktiv war, ist sie seither viel proaktiver geworden. Die Schweiz war immer der Ansicht, dass sie keine Verpflichtung zur Neutralität hat, wenn es um ihre Haltung gegenüber Regimen geht, die die Menschenrechte verletzen, wie im Fall von Südafrika während der Apartheid.

Aus passiv ist sie in den letzten Jahrzehnten proaktiv geworden. So engagiert sich die Schweiz überall dort, wo ihre Dienste dem Frieden helfen können. Sie wartet nicht mehr darauf, dass man sie um Hilfe bittet – auch wenn dies noch immer geschieht –, um Vorschläge zu machen. So habe ich beispielsweise noch während meiner Amtszeit persönlich die Gespräche geleitet, die zu einem Doppelabkommen mit Saudi-Arabien und dem Iran über den konsularischen Schutz iranischer Pilger in Mekka und saudischer Pilger in Mashhad führten.

Die Kontroverse, auf die Sie anspielen, entstand, weil seit dem 24. Februar 2022 politische Parteien, politische Persönlichkeiten, ein Think Tank und sogar der Schweizer Aussenminister der Ansicht waren, dass es an der Zeit sei, die Neutralität zu überdenken.

Diese waren der Ansicht, dass es keinen Grund mehr gebe, warum die Schweiz neutral bleiben sollte, «in Situationen, in denen das Völkerrecht und die Menschenrechte verletzt werden». In dem Moment, in dem der Aggressor gegen das Völkerrecht verstosse, müsse die Schweiz ihre Neutralität nicht mehr strikt einhalten. Einige schlugen sogar vor, dass wir uns der Nato annähern sollten.

Diese Haltung war natürlich eine Folge der vollständigen Übernahme der westlichen Sanktionen gegen Russland und der russischen Reaktion darauf.

Bisher hat die Schweiz in Bezug auf Sanktionen versucht, einen Mittelweg zu finden, zwischen einer Nichtübernahme der Sanktionen und Massnahmen, die die Umgehung der Sanktionen durch Dritte verbieten. Das hat beim Iran und anderen funktioniert. Aber nicht mit der Ukraine! Warum ist das so? Aus einem ganz einfachen Grund: Der starke Druck der USA und der EU liess der Schweizer Regierung keinen Spielraum, als sie in den ersten Tagen andeutete, dass sie nicht die Absicht habe, die westlichen Sanktionen unverändert zu übernehmen. Russland setzte die Schweiz umgehend auf die Liste der «unfreundlichen Staaten»! De facto erkannte Moskau die Neutralität der Schweiz nicht mehr an.

Die Ereignisse der letzten Wochen haben denjenigen, die dachten, es sei an der Zeit, unsere Neutralität zu überdenken, den Wind aus den Segeln genommen. Der Vorschlag des Aussenministers für eine «kooperative Neutralität», dessen Sinn niemand verstand, wurde von der Regierung vom Tisch gewischt.

Mitten in der Krise hält es eine grosse Mehrheit der Schweizer nicht für angebracht, die Regeln zu ändern. Es ist möglich, dass das Thema wieder auf den Tisch kommt, sobald die Ukraine-Krise vorüber ist. Man muss nämlich daran erinnern, dass die Schweizer Neutralität, die auf den Wiener Kongress von 1815 zurückgeht und den Interessen der damaligen europäischen Mächte entsprach, nicht mehr sehr zeitgemäss ist, da das Land heute vollständig von EU-Mitgliedsländern umgeben ist und de facto unter dem Schirm der Nato steht, ohne Mitglied zu sein.

Sergej Lawrow stellte letzte Woche auf einer Pressekonferenz bei den Vereinten Nationen die Neutralität der Staaten in Frage, die sich an Waffenlieferungen an die Ukraine beteiligen. Was sagen die UN-Konventionen zu diesem Thema? Verstehen Sie sie genauso wie der russische Aussenminister?

Das ist eine politische Frage und meines Wissens nicht Gegenstand internationaler Übereinkommen. Ich persönlich denke, dass es eine Frage des Masses und der Wahrnehmung ist. Im Vietnamkrieg hatten die Sowjets und die Chinesen den Vietnamesen militärische Ausrüstung geliefert, ohne dass die Amerikaner sie deswegen zur Kriegspartei erklärt hätten. Es wurde weithin anerkannt, dass es eher der Mut und der Einfallsreichtum des Vietcongs als die Waffen der kommunistischen Verbündeten waren, die es ihnen ermöglicht hatten, die Amerikaner zu besiegen.

Im Fall der Ukraine ist dies nicht ganz dasselbe, da die ukrainische Armee nach den ersten Wochen des Rückzugs dank der hoch entwickelten Waffen und der technischen und personellen Unterstützung, die wahrscheinlich von den Angelsachsen, allen voran den Amerikanern, geleistet wurde, wieder aufgerichtet werden konnte.

Russland nimmt diesen Rückschlag zur Kenntnis und bringt zunehmend seine Frustration und seine Wahrnehmung zum Ausdruck, dass der Westen zur Kriegspartei geworden ist. Diese Situation erhöht natürlich die globale Gefahr.

Notwendigkeit einer breiten Volksbewegung

Sie sind ein pensionierter Diplomat, haben sich aber, insbesondere in sozialen Netzwerken, in einem leidenschaftlichen Aktivismus für den Frieden engagiert. Hören die heutigen Diplomaten auf ihren ehemaligen Kollegen? Inwieweit können sie auf ihre politischen Führer einwirken, damit Europa die kriegerischen Pfade verlässt und die Voraussetzungen für einen Waffenstillstand und die Aufnahme von Verhandlungen schafft?

Ich weiss nicht, ob mein Engagement für den Frieden einen Einfluss auf die Entscheidungsträger hat. Ich hoffe es, aber ich bezweifle, dass ich allein etwas bewirken kann. Ich glaube jedoch, dass eine breite Volksbewegung dies erreichen könnte. In bescheidenem Masse versuche ich, über die sozialen Netzwerke zu mobilisieren.

Heutzutage folgen die Führer eher ihren Völkern als umgekehrt. Sie sind ständig mit den sozialen Netzwerken verbunden und ändern ihre Politik je nach Wind. Edgar Faure, der äusserte, dass es nicht die Wetterfahnen sind, die die Richtung ändern, sondern der Wind, hat heute wahrscheinlich noch mehr Recht als gestern. Ich bin überrascht, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs praktisch vom Radar verschwunden sind. In einer Linie hinter Washington aufgereiht, sind sie antriebslos oder begnügen sich damit, das nachzuplappern, was ihnen von den Amerikanern eingeflüstert wird.

Das ist schlimm für Europa, das im Falle eines grossen Konflikts den Hauptkriegsschauplatz und einen grossen Teil der Opfer liefern würde. Ich fand es ziemlich erbärmlich, dass, als Joe Biden zum ersten Mal von «ernsthaften Risiken einer nuklearen Apokalypse» sprach, 44 europäische Staats- und Regierungschefs am 6. Oktober in Prag zusammenkamen, um sich mit der Feststellung zu verabschieden, dass sie «eine gemeinsame Geographie» und, wie es scheint, «gemeinsame Werte» teilen! Zu diesem Schluss hätten sie auch kommen können, ohne durch ihrer Reise ihre CO2-Bilanz zu verschlechtern. Ein solches Verhalten kommt einer Neuauflage von Molières «Der Bürger als Edelmann» gleich.

Ich denke also, dass die Menschen, wenn sie sich auflehnen, die Dinge selbst in die Hand nehmen könnten. Dazu müssen sie erkennen, dass ihr Überleben davon abhängt, was in der Ukraine geschieht. Das ist noch nicht der Fall, aber es könnte in diesem Winter passieren, wenn sie die Folgen der westlichen Sanktionen zu spüren bekommen, die bekanntlich die westlichen Volkswirtschaften zerstören und Russland reich machen.

Aber Sie haben Recht, wenn Europa sich nicht für den Frieden einsetzt, wird es niemand tun, ausser vielleicht die Türkei, und warum nicht China! Wenn Europa unfähig ist, sich für den Frieden auf seinem Kontinent einzusetzen, wird es sich aus der Geschichte verabschieden.

Gelegenheit für Friedensverhandlungen wurde vertan

Der ukrainische Präsident fordert mit Nachdruck schwere Waffen von den verschiedenen EU-Ländern. Die deutsche Regierung ist in dieser Frage gespalten: Bei ihrem Besuch in Odessa am 2. Oktober versprach Verteidigungsministerin Christine Lambrecht der Ukraine, das hochmoderne Luftabwehrsystem Iris-T SLM innerhalb weniger Tage zu liefern. Der Wirtschaftsminister sprach sich jedoch gegen die Lieferung schwerer Waffen aus. Volodimir Zelensky kritisiert einige Staaten wie Frankreich, nicht genug zu tun. Trägt die Lieferung von Waffen an die Ukraine zur Eskalation des Konflikts bei? Hätte die EU Ihrer Meinung nach von den Russen Friedensverhandlungen als Gegenleistung für die Einstellung der Waffenlieferungen an die Ukraine fordern können oder müssen?

In den ersten Wochen des Konflikts, als sich die ukrainischen Truppen überall zurückzogen, wurde tatsächlich eine Gelegenheit vertan. Nach den ersten Kontakten in Istanbul waren beide Seiten bereit, eine Fortsetzung des Prozesses in Betracht zu ziehen.

Der Westen, der zunächst von dem russischen Angriff verblüfft war und Zelensky sogar angeboten hatte, ihn zu exfiltrieren, erkannte, dass die Dinge für die Russen nicht so gut liefen, und beschloss – allen voran die Amerikaner –, die ukrainische Armee massiv zu unterstützen, um Russland zu «verletzen», wie es US-Verteidigungsminister General Austin nach seiner Rückkehr aus Kiew in der US-Basis Ramstein in Deutschland ausdrückte.

Ein Konflikt zwischen den USA und Russland

Von da an ging es nicht mehr um Frieden oder auch nur um die Ukraine. Der Konflikt war zu einem Konflikt zwischen den USA und Russland über die Ukraine geworden. Dies war auch der Moment, in dem sich Zelenskys Rede veränderte. Es ging nicht mehr darum, den Schaden zu begrenzen und das Gemetzel zu stoppen, sondern darum, Russland zu besiegen und heute sogar die Krim und den Donbass zurückzuerobern.

Um Ihre Frage zu beantworten: Ja, die Lieferungen schwerer und hochentwickelter Waffen und auch die Unterstützung durch westliche Militärberater in unmittelbarer Nähe der ukrainischen Armee verlängern den Konflikt und machen ihn gefährlicher, da die Mitbeteiligung des Westens immer offensichtlicher wird.

Die EU hat kein Mitspracherecht. Sie wird von den USA unter Druck gesetzt, ohne die Kraft zu haben, sich zu widersetzen, sofern sie überhaupt den Willen dazu hat. Überraschend ist, dass vermeintlich pazifistische Parteien wie die deutschen «Grünen» die aggressivsten und entschlossensten sind, der Ukraine möglichst schwere Waffen zu liefern. Das geht so weit, dass sie in Deutschland nicht mehr «die Grünen», sondern «die Kakis» genannt werden. Ein Teil der deutschen Presse scheint von «entscheidenden Schlägen gegen die russische Armee» zu schwärmen. Das ist alles sehr beunruhigend und traurig für Europa.

Kriegsrhetorik der EU-Chefin ist fehl am Platz

Glauben Sie, dass es die Rolle der EU-Chefin von der Leyen ist, als Initiatorin von Sanktionsprogrammen gegen Russland aufzutreten? Gibt es irgendwelche Rechtsinstrumente, die ihr die politische Autorität verleihen, sich über die Parlamente der Staaten hinwegzusetzen? Haben die europäischen Staaten nun ihre Souveränität abgetreten oder ist es die EU-Bürokratie, die sich politische Macht über die der Nationalstaaten hinaus angeeignet hat?

Ursula von der Leyen hat sicherlich die Befugnis, den Staaten Sanktionspakete vorzuschlagen, aber es sind die Staaten, die sie annehmen oder nicht annehmen. Sie ist jedoch eindeutig nicht in ihrer Rolle, wenn sie morgens, mittags und abends eine Kriegsrhetorik entwickelt. Die Kommission hat keine Kompetenzen im Bereich der Verteidigungs- und Aussenpolitik, die ausschliesslich in den Zuständigkeitsbereich der Staaten fallen.

Ich denke, dass der Wettbewerb zwischen ihr und dem Ratspräsidenten Charles Michel der Grund für diese Flucht nach vorn ist. Es geht darum, wer den grössten Hass auf Russland hegt. Unnötig zu sagen, dass die EU nicht einmal ein Bataillon hat, das sie vor Ort einsetzen könnte. Ich denke, dass die Mitgliedstaaten abgedankt und die Zügel etwas zu sehr schleifen lassen haben. Wie sonst könnte man die verbale Gewalt der EU-Vertreter verstehen, die ja nicht gewählt sind?

Wie haben Sie die Äusserungen von Frau von der Leyen kurz vor den Wahlen in Italien interpretiert? Ist diese Art der Einmischung in die Innenpolitik eines souveränen Landes innerhalb der EU-Parameter vereinbart und akzeptabel? Inwieweit steht diese Haltung der EU-Chefin im Einklang mit den politischen Traditionen und Praktiken der Schweizer Eidgenossenschaft?

Die Äusserungen der Kommissionspräsidentin vor den italienischen Wahlen waren natürlich unpassend und unverständlich. Sie haben wahrscheinlich das Gegenteil bewirkt, denn die Völker lassen sich ihre Entscheidungen nicht gerne von aussen diktieren. Man sollte meinen, dass das österreichische Beispiel mit Jörg Haider die EU-Beamten eine gewisse Weisheit gelehrt hätte.

Wir müssen jedoch zugeben, dass Geschichtsbewusstsein und Weisheit in Brüssel eher selten sind. Unnötig zu sagen, dass Frau von der Leyen in der Schweiz noch weniger Erfolg gehabt hätte, wenn wir uns in der gleichen Situation wie Italien befunden hätten.

Völlig unterschiedliche Interessen zwischen den USA und Europa

Glauben Sie, dass die Menschen in den Mitgliedstaaten immer noch bereit sind, die Kosten für die Sanktionswellen gegen Russland zu tragen? Bedeuten die Rückschläge bei den Sanktionen gegen Russland, dass diese fehlgeleitet waren? Könnten diese Rückschläge nun zu einem Auseinanderbrechen der EU führen?

Die europäische Bevölkerung hat sich im Februar verständlicherweise zunächst spontan auf die Seite der angegriffenen Ukraine gestellt. Die Menschen sollten nicht die ganze Geschichte kennen, vor allem nicht die, die 20 Jahre zurückliegt. Auf dieser Welle reitend und von ihr und den Amerikanern getrieben, stürzten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs in einen Strudel von Sanktionen. Es verging kein Tag, an dem nicht neue Sanktionen verhängt wurden, von denen eine «fataler» als die andere für die russische Wirtschaft war.

Erinnern wir uns an die Worte des französischen Wirtschaftsministers Bruno Lemaire in einem Nachrichtensender, der den totalen wirtschaftlichen Zusammenbruch Russlands innerhalb weniger Wochen ankündigte. Hinter dieser westlichen Raserei verbarg sich in Wirklichkeit eine völlige Ohnmacht des Westens, vor allem aber völlig unterschiedliche Interessen zwischen den USA und Europa.

Während die USA schon immer eine fixe Idee hatten, nämlich Deutschland wirtschaftlich und politisch von Russland zu trennen, befand sich Europa in einer Notsituation. Wenn man selbst keinen Krieg führen will, scheinen Sanktionen ein schmerzloses Allheilmittel zu sein. In Wirklichkeit sind Sanktionen ein Trugschluss. Sie führen praktisch nie zu den Zielen, die sie anstreben – sonst gäbe es keine Islamische Republik Iran oder Nordkorea mehr –, und sie haben unbeabsichtigte und unwillkommene Nebenwirkungen.

In diesem Fall könnten die westlichen Sanktionen als ein Remake der Geschichte eingehen. Sie haben nicht nur Russland, das in Rubel und Dollar schwimmt, zumindest finanziell bereichert, sondern auch die europäische Wirtschaft schwer geschädigt. Sich von einem Tag auf den anderen ohne Plan B von einem Grossteil der Energieversorgung abzuschneiden, übersteigt den üblichen Dilettantismus. Während Europa ausgetrocknet ist und seine Energie über saudische oder indische Zwischenhändler zu hohen Preisen … aus Russland bezieht, streichen die USA Gewinne ein.

Von der Energiekrise zur Wirtschaftskrise

Die europäischen Völker werden zunehmend unter den Auswirkungen der übereilten Entscheidungen ihrer Politiker leiden. Zur Energiekrise wird eine Wirtschaftskrise hinzukommen. Wenn man mit Durchschnittsfranzosen und -deutschen spricht, versteht man, dass die Strasse brodelt und dass es nicht viel braucht, damit zu all diesen Krisen eine grosse soziale Krise hinzukommt, wie sie der Kontinent selten erlebt hat. Vielleicht ist es diese Angst, die Washington davon überzeugt hat, die Augen vor der Energieversorgung Europas über Zwischenhändler zu verschliessen, die nur eine unausgesprochene Umgehung der eigenen Sanktionen ist!

Was ein Auseinanderbrechen der EU betrifft, so würde ich sagen, dass ich sie, abgesehen von den Gestikulationen von Frau von der Leyen und Herrn Michel, hinter den USA kaum noch erkennen kann. Man kann sterben, während man formal noch am Leben ist! Ich denke, wichtiger als die Frage nach seinem Überleben ist die Frage nach seinem möglichen Aufbäumen. Auf diese Frage habe ich derzeit keine Antwort.

Ein «Hippokratischer Eid» für Journalisten?

Während der ersten sechs Monate der Militärmanöver in der Ukraine wurde jede Stimme, die von der ukrainefreundlichen Propaganda abwich, de facto als pro-russisch abgestempelt und von den Medien ignoriert. Seit dem letzten Monat beginnt sich der Ton zu ändern. Sind die westlichen Medien der Ansicht, dass ihre Beteiligung an der pro-Nato-Propaganda gescheitert ist? Wollen sie nun näher an die wütende Bevölkerung heranrücken?

Ihre Frage ist wichtig, weil sie die Frage aufwirft, ob es eine Art «Hippokratischen Eid» für Journalisten gibt, mit dem sie sich verpflichten, für eine ehrliche und ausgewogene Information der Bürger zu arbeiten.

Seit dem 24. Februar haben jedoch die meisten grossen westlichen Medien, selbst diejenigen, die sich als Referenztitel rühmten, die redaktionelle Entscheidung getroffen, die Ukraine zu unterstützen und Russland zu dämonisieren. Für sie beginnt die Geschichte am 24. Februar. Die US-Medien hatten sich während des zweiten Irak-Kriegs für diese Variante entschieden, was von den europäischen Medien zu Recht kritisiert wurde.

Ich weiss nicht, ob unsere Medien mit dem Wind drehen werden, wenn die öffentliche Meinung, die durch die Kälte eines Winters ohne viel Heizung abgekühlt ist, in eine kritischere Haltung umschlägt. Einige vielleicht, wie die kontinuierlichen Nachrichtenkanäle, die modernen Wetterfahnen von Edgar Faure, aber andere werden wahrscheinlich ihre ideologische Linie weiterverfolgen. Aber Sie haben Recht, man spürt, dass die Front Risse bekommt und dass Zelenskys manchmal hysterische Erklärungen immer mehr dem Filter der Vernunft und des Nachdenkens unterzogen werden. Aber im Moment haben unsere Medien immer noch einen sehr binären Ansatz in Bezug auf die Krise und den Krieg.

Mediale Desinformation durch Auslassung und Manipulation

Glauben Sie, dass der Mangel an kontroversen Debatten in der westlichen Presse zum Anstieg der Desinformation beigetragen hat? Hätten Sie diese Art von Reaktion erwartet und dass sie auch von der europäischen Presse im Allgemeinen übernommen wird?

Die Desinformation in der westlichen Presse beruht eher auf Auslassung und Manipulation als auf der Verbreitung falscher Informationen. Das würde ich ihr nicht vorwerfen. Aber man kann davon ausgehen, dass das Ergebnis das gleiche ist, wenn man denjenigen – und davon gibt es viele in den USA und in Europa – das Wort verweigert, die eine gemässigte, ausgewogene Sprache sprechen, die an die gemeinsame Verantwortung für diesen Krieg erinnern und zur Einstellung der Kämpfe und zu Verhandlungen aufrufen.

Wenn man die Vernichtung einer der beiden Parteien, in diesem Fall Russlands, wünscht, selbst wenn man es nicht ausspricht, wünscht man nicht das Ende des Krieges. Ich habe manchmal den Eindruck, dass einige Presseorgane so tun, als ob sie sich ein Ende Putins und Russlands wie das Hitlers und Deutschlands 1945 vorstellen.

Westliche Leitmedien als Resonanzkörper der ukrainischen Propaganda

Ich muss allerdings zugeben, dass ich überrascht war, als ich feststellte, dass meine Lieblingszeitungen zu Resonanzkörpern der ukrainischen Propaganda geworden sind.

Wie haben Sie die feindseligen Reaktionen auf Sie in den sozialen Netzwerken erlebt? In der digitalen Welt ist der Gegensatz von Standpunkten ziemlich hart und gewalttätig. Hat Ihnen Ihre Karriere als Diplomat dabei geholfen, mit diesen oft brutalen und gewalttätigen Interaktionen umzugehen?

Nein, ich war von der Heftigkeit einiger Reaktionen nicht überrascht. Wenn Sie verstanden haben, dass soziale Netzwerke für manche nur die Fortsetzung des Stammtisches im globalen Netz sind, mit dem Unterschied, dass damals die Dummheiten in der verrauchten Atmosphäre blieben, dann sind Sie jetzt gefeit! Ich bin in den sozialen Medien präsent aus einem einfachen Grund, der mit Ihrer vorherigen Frage zusammenhängt: in den Massenmedien gibt es keine Diskussionen mehr!

Solange dies der Fall ist und solange wir einen grossen Konflikt riskieren, der in unserer Geschichte noch nie da gewesen ist, werde ich bleiben. Aber ich sehne mich nach meiner geliebten Arbeit als Rentner, insbesondere nach meinen süssen Enkelinnen, für deren friedliche Zukunft ich nicht das Recht habe, abzudanken! Meine kleine Person ist unbedeutend, aber stark genug, um den Scharfschützen des Internets zu widerstehen! Ich habe mir eine Mission gegeben, die ich bis zum Ende verfolgen werde, egal, was passiert.

Die Zeiten der «moralischen Hegemonie» des Westens sind vorbei

Jean Ziegler, Ihr Landsmann und ehemaliger Leiter des Welternährungsprogramms, hat schon vor langer Zeit Alarm geschlagen und den Zynismus der europäischen Lebensmittelindustrie bei der Ausbeutung der Ressourcen der Entwicklungsländer und insbesondere Afrikas hervorgehoben. Glauben Sie, dass es einen Zusammenhang zwischen diesem Sachverhalt und der Weigerung einer Mehrheit der afrikanischen Staaten gibt, Russland zu verurteilen?

Jean Ziegler hat so viele Kämpfe geführt, die sich gelohnt haben. Ich bin stolz darauf, dass er Schweizer ist! Ich kenne seine Kritik am System der weltweiten Nahrungsmittelverteilung. Er hat es zu Recht angeprangert. Um Ihre Frage zu beantworten: Auch wenn Afrika um seine Nahrungsmittelversorgung fürchtet, glaube ich nicht, dass dies der Hauptgrund dafür ist, dass Afrika, aber nicht nur Afrika, sich geweigert hat, sich mit dem Westen gegen Russland zu verbünden.

Die Zeiten, in denen die ganze Welt nach der Pfeife des Westens tanzte, sind vorbei. Dafür gibt es mehrere Gründe: Erstens hat die Macht des Westens gegenüber dem Rest der Welt in jeder Hinsicht abgenommen, und vielleicht am wichtigsten ist, dass es die «moralische Hegemonie» des Westens nicht mehr gibt. Sie existiert nicht mehr nach all den illegalen und mörderischen Kriegen, die er auf der ganzen Welt geführt hat, immer «im Namen Gottes, der Menschenrechte und der Moral»! Niemand glaubt ihm mehr, und ich persönlich frage mich, was von dieser angeblichen «moralischen Überlegenheit» nach diesem Krieg, der das Zentrum unseres Kontinents verwüstet, noch übrig sein wird.

Um auf das Prager Treffen der «44 Leaders» vom 6. Oktober zurückzukommen: Sie glaubten, «gemeinsame Werte» zu erkennen, doch ausser dem Handel, wenn es denn einer ist, sind diese Werte kaum zu finden.

Es war richtig, dass Afrika in diesem Konflikt, der nicht der seine ist, neutral blieb. Ich finde es tröstlich, dass dieser Kontinent uns eine Lektion erteilt und die herablassenden Worte zurückgibt, die der Westen früher oft an ihn gerichtet hat. Wie ich bereits sagte, steht Afrika mit dieser Positionierung nicht allein da. Asien, angefangen mit Indien, hat die gleiche Haltung eingenommen und auch andere Länder.

«Und bitte sagt mir nicht, dass Putin an allem schuld sei!»

Europa, das bereits zwei Weltkriege ausgelöst hat, die es am Boden zurückliessen, zeigt mit seiner erneuten Selbstzerfleischung nicht nur, dass es nichts aus der Geschichte lernt, sondern auch seinen Abstieg in die Bedeutungslosigkeit beschleunigt! Ich sage das mit unaussprechlicher Traurigkeit! Vor 30 Jahren hätte ich mir nie vorstellen können, dass «mein Kontinent» so tief sinken könnte. Und bitte sagt mir nicht, dass Putin an allem schuld sei!

In seiner Pressekonferenz bei den Vereinten Nationen am vergangenen Donnerstag [6. Oktober] erwähnte Sergej Lawrow, dass sich der Grossteil der für die Entwicklungsländer bestimmten Getreidelieferungen sich noch immer in europäischen Häfen befände. Darüber hinaus erwähnte er, dass etwa 300 000 Tonnen Düngemittel, die für afrikanische Länder bestimmt waren, blockiert sind und nicht in die Empfängerländer transportiert werden können. Sind die Entwicklungsländer zu Geiseln dieses Krieges geworden? Lässt die Europäische Union Afrika für ihre Weigerung, Russland zu verurteilen, bezahlen?

Ohne Beweise ist es schwierig, sich zu diesen Winkelzügen, die mit jedem Krieg einhergehen, zu äussern. Es ist denkbar, dass beide Seiten versuchen, die Nahrungsmittelfrage zu ihrem Vorteil zu nutzen. Die Russen sind zwar direkt für das Problem verantwortlich, weil sie den Krieg begonnen haben, aber auch die Ukrainer mit den Minen in ihren Häfen und der Westen mit seinen Sanktionen und der Quasi-Blockade des Schwarzen Meeres gegen russische Schiffe, die ein- und ausfahren, sind nicht unschuldig.

Kriege schaffen mehr Probleme als Lösungen!

Dieser Krieg erinnert uns wie jeder andere an seine Absurdität und die Notwendigkeit, ihn so schnell wie möglich zu beenden. Abgesehen von den unschuldigen Opfern, die er verursacht, wird er mehr Probleme schaffen als die Lösungen, die seine «Verantwortlichen» finden wollten.

Erinnern wir uns an die weisen Worte Montesquieus: «Der wahre Urheber des Krieges ist nicht derjenige, der ihn erklärt, sondern derjenige, der ihn notwendig macht», oder, wie man hinzufügen könnte, derjenige, der ihn unvermeidlich macht! Wer sich rotzig fühlt, sollte sich die Nase putzen! Daran mangelt es im Westen nicht! Papst Franziskus sagte nichts anderes als Montesquieu, als er sagte, dass der Westen die Nato-Grenzen immer weiter in Richtung Russland verschoben habe, und dass er nun bellt und Putin zum Äussersten treibt. Mögen Montesquieu und der Papst einen kleinen Funken in den Gehirnen derer erzeugen, die die Macht haben, unseren Marsch in Richtung «nukleare Apokalypse» zu stoppen oder zu beschleunigen!

* Georges Martin wurde 1952 in Chamoson (Wallis) geboren. Er diente der Schweiz von seinem Eintritt ins Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) im Jahr 1979 bis zu seiner Pensionierung Ende 2017. In Bern war er unter anderem stellvertretender Pressesprecher, diplomatischer Berater des Bundespräsidenten, Leiter des Zentrums für Analyse und prospektive Studien und der Abteilung für Sicherheitspolitik und Krisenmanagement, stellvertretender Staatssekretär und Berater des Departementsvorstehers für Sonderaufgaben.
Im Ausland war er in Deutschland, New York (UNO), Südafrika, Israel, Kanada und Frankreich stationiert. Er war Botschafter in Indonesien und Timor-Leste, Kenia, Uganda, Ruanda, Burundi, Somalia und der Republik der Seychellen.

Quelle: https://indocile.press/se-georges-martin-incapable-dagir-pour-la-paix-leurope-poursuivrait-sa-sortie-de-lhistoire/, 8. Oktober 2022.

(Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors)

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

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