Zur Neutralität der Schweiz – eine Voraussetzung der Versorgungssicherheit

Hans Bieri. (Bild
www.neutralitaet-ja.ch)

von Hans Bieri

(8. November 2023) (Red.) Hans Bieri, Geschäftsführer der «Schweizerischen Vereinigung Industrie + Landwirtschaft SVIL», beschreibt kenntnisreich die Bedeutung der Neutralität für die Versorgungssicherheit unseres Landes. Die Schweiz als Exportnation ohne eigene Rohstoffe ist existenziell auf offene Märkte angewiesen. Ihre neutrale Position bietet den Handelspartner ihrerseits Vorteile. Gibt das Land seine Neutralität auf, dann droht es zum Spielball hegemonialer Mächte zu verkommen und verliert seine Eigenständigkeit.

In den vergangenen Monaten verspielte der Bundesrat mit einer leichtfertigen Aussenpolitik viel Vertrauenskapital im Ausland. Hier gilt es nun, dieses Vertrauen in den neutralen Kleinstaat Schweiz so schnell wie möglich wieder aufzubauen.

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Mit der Aufweichung bzw. der Preisgabe der Neutralität riskiert die importabhängige Schweiz eine existenzielle Gefährdung ihrer Versorgungssicherheit. Dies betrifft auch landwirtschaftliche und industrielle Produkte. Daher ist die Neutralität auch ein Thema für die SVIL. Die Neutralität ist für die Versorgungssicherheit der Schweiz von grösster Bedeutung.

In der Schweiz hat sich trotz karger Rohstoffgrundlage auf Basis der freien globalen Handelsbeziehungen eine starke KMU-Wirtschaft entwickelt. Die Exportorientierung ist für die schweizerische Wirtschaft die Lebensader. Es ist für die Schweiz deshalb lebenswichtig, diese Handelsbeziehungen stabil zu halten. Handel, wie ihn die Schweiz als neutrales Land ohne Verfügbarkeit von territorialen Machtmitteln betreibt, beruht allein auf der Basis des gegenseitigen Vorteils. Entweder ist der Nutzen gegenseitig oder der Handel kommt gar nicht zustande. Dies charakterisiert die schweizerische Unternehmenskultur im Export.

Der historisch früh erreichte Status der Neutralität der Schweiz ist mit der Entwicklung des Freihandels und der industriellen Entwicklung der Schweiz eng verbunden. Die Schweiz war am Ende des 19. Jahrhunderts das freihändlerischste und auch das demokratischste Land Europas.

Es ist für Handelspartner nicht unwichtig, dass die Schweiz sich international neutral verhält, und umgekehrt, dass die Neutralität die Schweiz auch vor fremden Einmischungsversuchen schützt. Denn für Handelspartner besteht Gewähr, dass die Schweiz ihre Wirtschaftsbeziehungen nicht mit Handelskriegen und Verletzung der Eigentumsordnung belastet.

Die mit der Neutralität verbundene Stabilität wird global wertgeschätzt. Darum wird die Schweiz um gute Dienste angefragt. Hier zeigt sich die emanzipatorische und damit friedensstiftende Kraft der Neutralität: Die Fähigkeit, von Einzelinteressen abstrahieren und dadurch Konflikte in ihrem Zusammenhang und aus ihrer Entstehung heraus erfassen zu können. Diese über den Konflikten stehende neutrale Position hilft den Konfliktparteien Wege zur Konfliktentschärfung zu finden, wie dies als jüngstes Beispiel der Beitrag der Schweiz zum Minsker-Abkommen gezeigt hat.

Nun werfen die Gegner der Neutralität neutralen Staaten vor, sie würden zu Umgehungsgeschäften missbraucht und die von einer Konfliktpartei beschlossenen Sanktionen damit zu Gunsten der sanktionierten Partei unwirksam machen. Der Neutrale nehme so zwangsläufig Partei für den Sanktionierten. Dieser Vorwurf trifft jedoch ins Leere.

Die Neutralität besteht ja gerade darin, solche Umgehungsgeschäfte für alle dadurch zu verhindern, dass alle Konfliktparteien durch das der Neutralität verpflichtete Land gleich behandelt werden. Dies erfolgt transparent dadurch, dass die Handelsgeschäfte auf dem langjährigen Durchschnitt (dem sogenannten «courant normal») ausgerichtet bleiben.

Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt wurde verlangt, dass die Schweiz ihre neutrale Stellung aufgeben müsse und nicht mehr darum herumkäme, gegen den Aggressor Stellung zu beziehen.

Damit würde die Schweiz jedoch gegen ihre immerwährende Neutralität verstossen. Damit würde die Schweiz gerade in diesem europäischen Konflikt ihre Guten Dienste, die Europa braucht, nicht mehr anbieten können. Denn der Krieg beginnt mit dem Brechen von Verträgen und Abkommen aus reinem Machtanspruch.

Die Errungenschaften der europäischen Aufklärung geraten heute wieder in Bedrängnis und damit auch der Wesensgehalt der Neutralität der Schweiz, welche, wie heute einige abwertend und «dekonstruierend» bemerken, der Schweiz 1815 «ja nur aufoktroyiert» worden sei – bis zur unterstellten Schiedsrichterrolle der Schweiz, die nun heute endlich der klaren Parteinahme bei Kriegen weichen müsse.

Damit würde jedoch die Errungenschaft, nämlich in fremden Konflikten nicht Partei zu ergreifen, entsorgt. Diese Kritik an der Neutralität verwechselt die Parteinahme mit der Lösung des Konfliktes und engt damit den freien Blick auf die Konfliktursachen ein. Cui bono?

Die erstmalige Anerkennung der Schweiz als Staat am Wiener Kongress 1815 wurde mit der Auflage der Neutralität verknüpft. Es ging den Grossmächten darum, sich gegenseitig zu verpflichten, das Territorium der Schweiz im Konfliktfall nicht zu besetzen. Dies wohl kaum wegen der Schweiz an sich, sondern damit der territoriale Angelpunkt zwischen dem Deutschen Bund, Frankreich, Oberitalien und dem ebenso interessierten Grossbritannien bei künftigen Konflikten neutral bleibt.

Die Neutralität verpflichtet im Gegenzug die Schweiz, sich keiner Kriegspartei anzuschliessen. Sie kann dadurch nicht in Kriege hineingezogen und zur Kriegspartei werden, weil dadurch eine der Kriegsparteien den Zugriff auf das Territorium der Schweiz bekäme. Umgekehrt bedeutet dies, dass die Schweiz in einem kriegerischen Konflikt von keiner der Grossmächte besetzt werden darf. Dies ist eine Errungenschaft der europäischen Aufklärung: die Anerkennung freier Staatlichkeit, die sich im Gegenzug zur Neutralität verpflichtet – und deshalb von fremden Mächten nicht verletzt werden darf. Es war eine Errungenschaft der Praktischen Philosophie Hegels, welche in der Hohen Politik damals intensiv diskutiert worden ist.

«Darin, dass die Staaten sich als solche gegenseitig anerkennen, bleibt auch im Kriege, dem Zustand der Rechtlosigkeit, der Gewalt und Zufälligkeit, ein Band, in welchem sie an und für sich seiend füreinander gelten, sodass im Kriege selbst der Krieg als ein Vorübergehen sollendes bestimmt ist. Er enthält damit die völkerrechtliche Bestimmung, dass in ihm die Möglichkeit des Friedens erhalten […] werde.»

G.F.W. Hegel, § 338, Grundlinien
der Philosophie des Rechts. 1821.

Ein Jahrhundert später unter dem Titel «Unser Schweizer Standpunkt» hielt Carl Spitteler am 14. Dezember 1914 vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft, Gruppe Zürich, eine Rede, die sich ebenso an Politik und Medien unserer Zeit richtet. Angesichts der in der Schweiz zu Beginn des Ersten Weltkrieges feststellbaren Sympathiekundgebungen für einzelne Kriegsparteien verlangte Spitteler, dass die Politik «unseren Leuten die Grundsätze der Neutralität einpräge».

«Ohne Zweifel wäre es nun für uns Neutrale das einzig Richtige, nach allen Seiten hin die nämliche Distanz zu halten. Das ist ja auch die Meinung jedes Schweizers. Aber das ist leichter gesagt als getan. Unwillkürlich rücken wir nach einer Richtung näher zu dem Nachbarn, nach anderer Richtung weiter von ihm weg, als unsere Neutralität es erlaubt.»

Die Auflösung der Nationalstaatlichkeit folgt dem Trend zu grösseren Blockbildungen der «Willigen». «Wer nicht für uns ist, ist gegen uns», stand im US-Aufgebot zum Irakkrieg. Auch die Neutralität der Schweiz wird als obsolet kritisiert, denn sie steht ebenfalls im Widerspruch zur fortschreitenden Blockbildung, welche die EU und die NATO nach Auflösung der UdSSR und des Warschauer Paktes kontinuierlich in diesen ehemaligen «Ostblock» vorantreiben.

«Man hat kulturwissenschaftlich erkannt, dass die Schweiz nur existieren kann, wenn sie zu abendländischen Extremismen eine gegenläufige Haltung einnimmt.» An diese Aussage erinnert Prof. Martin Usteri in «Das Verhältnis von Staat und Recht zur Wirtschaft in der Schweizerischen Eidgenossenschaft» (S. 13) mit Bezug auf Prof. Karl Schmid in «Versuch über die schweizerische Nationalität» (S. 88f.).

Dazu Carl Spitteler:

«Wir müssen uns eben die Tatsache vor Augen halten, dass im Grunde kein Angehöriger einer kriegführenden Nation eine neutrale Gesinnung als berechtigt empfindet. Er kann das mit dem Verstande, wenn er ihn gewaltig anstrengt, aber er kann es nicht mit dem Herzen. Wir wirken auf ihn wie der Gleichgültige. […] Nun sind wir zwar nicht gleichgültig. […] Allein da wir uns nicht rühren, scheinen wir gleichgültig. Darum erregt schon unser blosses Dasein Anstoss. Anfänglich wirkt es befremdend, allmählich die Ungeduld reizend, schliesslich widerwärtig verletzend und beleidigend. Vollends ein nicht zustimmendes Wort! Ein unabhängiges Urteil! Der patriotisch Beteiligte ist ja von dem guten Recht seiner Sache heilig überzeugt und ebenso heilig von dem schurkischen Charakter der Feinde. […] Und nun kommt einer, der sich neutral nennt, und nimmt wahrhaftig für die Schurken Partei! Denn ein gerechtes Urteil wird ja als Parteinahme für den Feind empfunden.»

Heute sind die Medien und ein Teil der Politiker in diese Falle getreten. Denn nach Spitteler gilt: «Der Parteinahme winkt unmässiger Lohn, der Unparteilichkeit drohen vernichtende Strafen.»

Der neutrale Standpunkt lehnt jede Kriegshandlung – ob hard oder soft skill – gleichermassen ab. All die Appelle und voreilig gefällten Urteile, die dafürhalten, dass sich die Schweiz auf Druck von Kriegsparteien über ihre Neutralität und Unparteilichkeit hinwegsetze, verstricken sich nun in den Untiefen parteilicher Doppelstandards, aus denen kaum mehr freizukommen ist. Der Schaden ist angerichtet. Wer die Verantwortung hierfür trägt, ist zu klären.

Gefragt sind nach Spitteler «Eintracht […] die Wahrung der Gerechtigkeit und der Neutralität» im Inneren und daraus nach aussen eine Friedensinitiative, um auf die Konfliktprozesse mit ordnender Kraft mässigend einzuwirken.

Quelle: SVIL, Schweizerische Vereinigung Industrie + Landwirtschaft. Auszug aus dem Geschäftsbericht 2021, Nr. 159, Juni 2022

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