«Eine verhängnisvolle Freundschaft»

Werner Rügemer
(Bild wikipedia)

Toxische Folgen der Abhängigkeit Europas von den USA

Interview mit Werner Rügemer,* Deutschland

(18. Oktober 2023) (Red.) Dr. Werner Rügemer, Publizist aus Deutschland, widmet seine berufliche Tätigkeit der Aufdeckung gesellschaftlicher, politischer und sozialer Missstände.

Sein neuestes Buch «Verhängnisvolle Freundschaft. Wie die USA Europa eroberten», ist gerade angesichts des Konflikts in der Ukraine von Brisanz, ist doch die Ausrichtung europäischer Politik, und insbesondere derjenigen Deutschlands an den USA, unübersehbar. Auch für die Schweiz stellt sich die Frage, warum sie sich in ihrer Parteinahme für die Ukraine so sehr auf die USA ausrichtet.

Im Anschluss an einer vom «Schweizer Standpunkt» organisierten Diskussionsveranstaltung in Frauenfeld hatte die Redaktion die Gelegenheit, mit Werner Rügemer über sein neuestes Buch zu sprechen. Hier konnte er seine Positionen genauer erläutern.

* * *

Herr Rügemer, Sie nennen sich «interventionistischer Philosoph». Können Sie uns erklären, was Sie damit meinen?

Ich habe in den 1960er Jahren an etablierten bundesdeutschen Universitäten studiert, in München, Tübingen und an der FU Berlin. In der Philosophie ging es um berühmte Philosophen wie Heidegger, Wittgenstein, Guardini, Hegel und natürlich die Griechen wie Platon und Aristoteles. Das erschien mir immer mehr als hochgestochenes Begriffs-Geklingel – zur Erkenntnis der damaligen Wirklichkeit in der Bundesrepublik trug das gar nichts bei. Und weder die Vorsokratiker noch Konfuzius noch Marx kamen da vor. Aus der Ferne war von Kriegen und weltweiter Unterentwicklung zu hören, sehr undeutlich.

Mir wurde langsam klar: in dieser selbstbezogenen akademischen Welt, die die Welt um sich herum gar nicht erklären kann und will – da willst Du nicht bleiben. Ich machte dann neben dem Beruf eine Doktorarbeit in philosophischer Anthropologie, an der damals neugegründeten Reformuniversität Bremen. Aber im staatlich-beamtenmässig und dann privat eingekauften akademischen Betrieb wollte ich nicht bleiben. Ich wollte die Welt erstens erkennen und zweitens dazu beitragen, die immer klarer erkennbaren Ungerechtigkeiten, die Kriege, die Ausbeutungen zu bekämpfen, zu überwinden. So kam es zum Selbstverständnis als interventionistischer Philosoph.

ISBN 978-3-89438-803-4
Können Sie uns erklären, wie Sie dazu gekommen sind, sich gerade mit dem Themenspektrum sozialer, politischer, wirtschaftlicher Missstände zu beschäftigen?

Eine wichtige Klärung ergab sich mit der transatlantischen Friedensbewegung der 1980er Jahre. Mich bewegte aber nicht zentral die spezielle Friedensfrage. Damals wurde in Westeuropa, auch in der Bundesrepublik in den höchsten Tönen die neue, saubere, moderne Technologie des Silicon Valley gelobt. Ich hatte das Gefühl: Da stimmt etwas nicht!

1984 fuhr ich ohne Auftrag auf eigene Faust für sechs Wochen nach Silicon Valley, in das gelobte neue Paradies zwischen San Francisco, Mountain View und San José. Durch US-Friedensaktivisten und durch die schwarze Kommunistin Angela Davis bekam ich Kontakte zu Wissenschaftlern der dortigen Elite-Universität Stanford, zu Gewerkschaftern, Ingenieuren, Anwälten, Ärzten, Feuerwehrleuten. Vor Ort hatte ich bald einige überraschende und klare Erkenntnisse: Illegale Chiparbeiterinnen aus Mexiko und Vietnam wurden zu Niedrigstlöhnen ausgebeutet und wurden krank, Grundwasser wurde durch die chemischen Abfälle der Chipproduktion verseucht, Gewerkschaften und Friedensgruppen wurden gnadenlos bekämpft.

Ich traf den schon erfolgreichen Steve Jobs, den Apple-Gründer: Er war überzeugter Veganer und Kommunitarist, lobte sein hierarchiefreies Unternehmen – aber die Ausbeutung der kranken, illegalen Chiparbeiterinnen war für ihn selbstverständlich. Und Antreiber war das Militär, etwa der in Silicon Valley seit dem Zweiten Weltkrieg aufsteigende Rüstungskonzern Lockheed mit den Chips für seine Interkontinental-Raketen. Dazu veröffentlichte ich 1985 das Buch «Neue Technik. Alte Gesellschaft. Silicon Valley: Zentrum der neuen Technologien in den USA».

In Ihrem letzten Buch «Verhängnisvolle Freundschaft. Wie die USA Europa eroberten» problematisieren Sie das Verhältnis der USA zu Europa. Warum sehen Sie in diesem Verhältnis ein Problem?

Die führenden Banken und Konzerne der USA, mit Unterstützung der US-Regierungen – egal ob von Republikanern oder Demokraten geführt – haben seit 1922 alle faschistischen Diktaturen in Europa unterstützt, kreditiert, ausgerüstet, als Märkte erschlossen: Mussolini, Salazar, Pilsudski, Franco, Hitler, gemeinsam gegen «die kommunistische Gefahr».

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden unter US-Führung in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa die allermeisten Nazi-Komplizen insbesondere in Banken und Unternehmen weder bestraft noch entflochten noch enteignet, auch nicht die US-Kriegsprofiteure in den USA selbst – und übrigens wurden auch keine Arisierungen zurückgenommen, die gehörten ja auch beim Nürnberger Militärtribunal gar nicht zur Anklage.

Die USA förderten dieses politische Rechts-Potential in der EU; die USA holten sich auch Ex-NS-Komplizen aus ganz Osteuropa, aus Polen, der Ukraine usw. und hielten sie für ihre Propagandasender wie Radio Liberty/Radio Free Europe und für spätere Regimewechsel parat.

In unseren Medien und Geschichtsbüchern steht, dass die USA uns Europäer, speziell Deutschland, befreit und den Zweiten Weltkrieg beendet haben. Was sagen Sie dazu?

Es war nur eine militärische und auch da nur teilweise Befreiung. Zum Beispiel die Bundeswehr, die Geheimdienste, die Justiz, die Banken und Unternehmen der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland wurden bekanntlich meist von Ex-Nazis weitergeführt.

Im Zangengriff von Marshall-Plan und Nato lag die oberste Souveränität Westeuropas bei den USA: militärisch, wirtschaftlich, marktmässig, kulturell. Bei der Osterweiterung nach 1990 musste auf US-Druck in allen Fällen zuerst die Nato-Mitgliedschaft vollzogen werden, erst danach durfte der jeweilige Staat EU-Mitglied werden. Dabei wurden in der Tendenz Oligarchen, rechtsgerichtete, nationalistische, auch rassistische Kräfte als regierungsfähig gefördert, am direktesten wohl in Ex-Jugoslawien. Die Volkswirtschaften wurden verarmt, Auswanderung und Wanderarbeit waren und sind die Folge.

Die USA, wie ich in dem Buch historisch dargestellt habe, haben viele Feinde und keine Freunde. Nach ihrem Anspruch sind die USA die «einzige Weltmacht» – andere Staaten werden je nach geopolitischer Opportunität zu «Freunden», in flexiblen Formen der Abhängigkeit, und nur auf Zeit. Im Zweiten Weltkrieg war die Sowjetunion ein Freund, danach sofort der Todfeind. Ähnlich war es dann mit China, aber auch mit Befreiungsbewegungen wie die in Vietnam, die zuerst gegen Japan unterstützt, dann als Todfeind bekämpft wurde.

Und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die kapitalistischen Staaten Westeuropas gefördert, freilich unter US-Hoheit und nur auf Zeit. Übrigens war wie heute dieser Freund zugleich der Standort für die US-Praxis des möglichen nuklearen Erstschlags.

Nach 1990 haben die USA die westeuropäischen Staaten dann schrittweise abgewertet und ausgewählte, rechtsgerichtete osteuropäische Staaten wie Polen, Kroatien sowie Litauen, Estland und Lettland und auch die Ukraine politisch und wirtschaftlich aufgewertet, auch im Sinne einer Ost-Nato.

Die USA sehen sich selbst als der Garant für Demokratie und eine wertebasierte Ordnung in der Welt. Darauf gründen sie ihren Anspruch als einzige Weltmacht – berechtigt?

Überhaupt nicht. Die USA sind schon nach dem Ersten Weltkrieg nicht dem Völkerbund beigetreten, den sie selbst angeregt hatten. Sie förderten faschistische Diktatoren, in Lateinamerika. In China förderten sie gemeinsam mit Hitler den Diktator Generalissimus Tschiang Kaishek, der die 1912 gegründete Republik weggeputscht hatte. Die europäischen Dikatoren habe ich schon genannt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die USA zwar die UNO mitbegründet, betreiben aber daneben ihre eigene «regelbasierte internationale Ordnung», begleitet von einem knappen Tausend von Militärstützpunkten auf allen Kontinenten und annektierten Territorien. So verletzen sie bei Bedarf mit einer jeweils selbstgebastelten «Koalition der Willigen» die UN-Charta, organisieren Putsche und Kriege, auch Stellvertreter-Kriege.

Mit seiner Geopolitik der ständig modernisierten Sklavenarbeit organisiert der als Sklavenstaat gegründete US-Staat in verarmten Staaten rings um die Erde extremste Niedriglöhnerei und verletzt alle menschenrechtlichen Arbeits- und Sozialrechte der UNO und der ILO [International Labour Organization].

Schon lange, aber speziell im aktuellen Ukraine-Russland-Konflikt hat man den Eindruck, dass Deutschland seine Politik ganz an den Wünschen Washingtons ausrichtet. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Bundesrepublik Deutschland auf Druck der USA zunächst als Separatstaat gegründet. Mithilfe der ungestraften NS-Profiteure konnten die USA die Bundesrepublik als wirtschaftliche, militärische, ideologische Hauptbastion in Europa aufbauen, weiter gegen «die kommunistische Gefahr». Das wurde mit dem «christlichen» Gründungskanzler Adenauer begonnen und mit der «christlichen» Dauerkanzlerin Merkel vertieft – zum Beispiel wollte kein anderer europäischer Staat das neue Afrika-Überwachungszentrum AFRICOM der USA aufnehmen, aber Merkel erlaubte AFRICOM sich in Deutschland einzurichten.

Und seit Beginn der 2000er Jahre betreiben die USA nicht nur, wie bisher, Filialen ihrer Banken und Konzerne in Deutschland. Vielmehr haben US-Investoren seitdem Tausende der ertragreichsten Unternehmen aufgekauft. BlackRock, Vanguard & Co. sind nun die führenden Aktionärsgruppen der meisten wichtigen Unternehmen, auch im DAX, in den Energie-, Pharma-, Wohnungs-, Dienstleistungskonzernen, während die kleineren Private Equity-Investoren wie KKR, Blackstone & Co. den erfolgreichen Mittelstand aufkaufen und „restrukturieren“.

So haben beispielsweise 9 der 10 führenden Aktionäre des grössten «deutschen» Rüstungskonzerns, Rheinmetall, ihren Sitz in den USA, dazu gehört natürlich auch BlackRock. Und BlackRock, Vanguard & Co. sind auch die führenden Aktionäre der US-Frackingindustrie, deren teures und extrem umweltschädliches Frackinggas vor allem Deutschland nun wie selbstverständlich und selbstzerstörerisch einkauft.

Gibt es zur Abhängigkeit Deutschlands und Europas von den USA eine Alternative? Was raten Sie Politikern, die eine eigenständige und an den Interessen des eigenen Landes und Europas orientierte Politik verfolgen möchten?

Ja, die für Deutschland etablierte US-Dominanz gilt, mit wenigen Abstrichen, auch für die EU und die EU-Staaten. US-Lobbyisten dominieren in Brüssel. BlackRock berät nicht nur die Federal Reserve in den USA, sondern auch die Europäische Zentralbank und die EU-Kommission beim European Green Deal.

Meine Ratschläge gelten nicht nur für Politiker, sondern auch für Unternehmer, Handwerker, Selbständige, Gewerkschafter, Bürgerinitiativen, die selbst aktiv werden müssen, notfalls gegen «ihre» Politiker und Regierungen. Einige EU-Staaten weichen in Teilbereichen jetzt bereits von der US-hörigen EU-Kommission ab.

Die EU-Staaten müssen zur UN-Charta zurück, weg von der US-definierten «regelbasierten internationalen Ordnung». Die insbesondere von der deutschen und französischen Regierung beschworene «europäische Souveränität» ist nur ohne die US-geführte NATO möglich.

Die europäischen Staaten müssen auch zurück zu den menschenrechtlichen Arbeits- und Sozialrechten der UNO und der ILO. Zum Beispiel: US-Ideologen und ihre europäischen Imitatoren propagieren die freie Wahl des Geschlechts, aber die USA haben bis heute nicht das UN-Menschenrecht auf gleiche Bezahlung von Mann und Frau bei gleicher Arbeit ratifiziert, und die führenden US-Konzerne wie Apple, Microsoft, Amazon, Facebook, Google und Uber beuten auch über ihre Zulieferer weltweit Millionen Menschen und besonders Frauen zu Niedrigstlöhnen und gefährlichen, krankmachenden Arbeitsbedingungen aus – und schweigen verbissen darüber.

Und die Subventionen, die jetzt für Innovationen in Europa gewährt werden, müssen für eigene, auch neu gegründete Unternehmen vergeben werden, nicht zum Beispiel wie jetzt in Deutschland an Silicon Valley-Konzerne wie Intel oder TSMC aus Taiwan, wo zudem überall BlackRock & Co. die führenden Aktionäre sind, die strategischen Entscheidungen treffen und die Gewinne in die USA transferieren.

Aus Afrika, Asien und Lateinamerika hört man immer mehr kritische Stimmen auch gegen die US-Vorherrschaft. Es ist von einer neuen multikulturellen Weltordnung die Rede. Was könnte Ihr neues Buch in dieser Situation beitragen?

Diese Stimmen sind nicht neu. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in den sich vom Kolonialismus, auch von US-Vorherrschaft wie China befreienden Staaten die Bewegung G77: So viele Staaten aus Afrika, Asien und Lateinamerika hatten sich innerhalb und ausserhalb der UNO zusammengeschlossen. Aber der kapitalistische Westen unter US-Führung zerstörte diese eigenständige, demokratische, volkswirtschaftliche Entwicklung. Dabei war der Standort Schweiz übrigens nicht unbeteiligt, etwa bei der Umgehung von Sanktionen gegen den Apartheidsstaat Südafrika sowie etwa für die Korruption westlich genehmer Diktatoren und Oligarchen.

Was die G77 begonnen haben, wurde wieder aufgegriffen, mit mehr Erfahrung, angeführt von mächtiger gewordenen Entwicklungsstaaten, vor allem mithilfe der Volksrepublik China. Dazu haben diese Staaten schon seit einem guten Jahrzehnt verschiedene Formate gebildet, SCO in Asien, CELAC in Lateinamerika, FOCAC in Afrika, 1+16 in der EU, und vor allem BRICS mit Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Multipolarität, Rückkehr zur UN-Charta, eigenständige Volkswirtschaften, menschenrechtliche Arbeits- und Sozialrechte – das gehört zu den Zielen. In diese weltweite, vielgestaltige Kooperation müssen sich die Europäer einklinken.

Ich für meinen Bereich bin dabei, mit anderen Autoren solche Kooperationen aufzubauen, bisher insbesondere in den USA, in Frankreich und in China. Wenn das auch in der Schweiz möglich wäre? Das Buch soll dabei helfen, in einem kooperativen Prozess gegen bisherige professionelle Legenden die wirkliche Geschichte der letzten hundert Jahre zu rekonstruieren und daraus die Konsequenzen zu ziehen.

* Werner Rügemer, geboren 1941, studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Ökonomie in München, Tübingen, Berlin und Paris. 1979 promoviert er an der Universität Bremen. Von 1975 bis 1989 arbeitete Werner Rügemer in der Redaktion der pädagogischen Fachzeitschrift Demokratische Erziehung. Seit 1984 war er auch mit Radio- und TV-Features beschäftigt, vor allem für den WDR. Seit 1989 ist Werner Rügemer freier Autor. Er publizierte seither eine Vielzahl von Artikeln und mehrere Bücher, unter anderem «Cross-Border Leasing» (2004), «‹Heuschrecken› im öffentlichen Raum» (2008, 2012), «Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts» (2018 und 2020).

Werner Rügemer: «Verhängnisvolle Freundschaft. Wie die USA Europa eroberten.» I. Phase: Vom 1. zum 2. Weltkrieg. Papyrossa Verlag Köln 2023, 326 Seiten, 23,90 Euro

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